31 · Gabriel

Sie hat dieselben aschblonden Haare wie Marike, dieselben hellen Augen, die ihre Fragen in die Welt tragen. Benedita hat in der Wohnung der Hundertjährigen einige Schwarzweißfotos gefunden, eins davon hat sie ihm mitgebracht. Marike, etwa zwanzig Jahre alt, sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Zug und sieht zur Kamera auf, es wirkt, als hätte der Fotograf um die Fahrkarte gebeten. Sie ist elegant und beinahe modern, sie trägt einen dunklen Faltenrock, der ihr über das Knie fällt, und einen schmal geschnittenen Pullunder mit Turtleneck. Schultern und Arme sind frei.

Gabriel kennt das Foto, Anna hat es damals gemacht. Sie nahm Marike, die noch studierte, auf eine luxuriöse Reise mit, eine Reise, für die Janne niemals hätte bezahlen können. Sie fuhren mit dem Zug nach Süden und wohnten in einem Hotel auf beinahe zweitausend Metern, ihr Zimmer hatte eine Sitzecke und einen eigenen Balkon. Jeden Abend zogen sie sich schick an und gingen hinunter in den großen, mit dunklem Holz ausgekleideten Speisesaal, wo ein opulentes Abendessen serviert wurde: Vorspeise und Fischgang, das Fleisch wurde au jus serviert, nach dem Hauptgang wurde das Licht gedimmt, ein Defilee von livrierten Kellern trug Eisbomben mit sprühenden Wunderkerzen herein.

An einem der Nebentische saß ein eleganter junger Mann mit einem Oberlippenbart und pechschwarzem, glatt zurückgekämmtem Haar. Die schmalen Augen glänzten. In der Brusttasche seines mitternachtsblauen Satinanzugs steckte ein rosafarbenes Tuch.

Er speiste allein. Anna war überzeugt, dass sie das Gesicht schon einmal gesehen hatte, sie konnte ihn aber nicht einordnen. Marike hatte ihn anfangs gar nicht wahrgenommen, doch als sie hinübersah, fing er ihren Blick auf und nickte, wobei er den Kopf eher zur Seite als nach vorn neigte, als wollte er sich verbeugen, ohne sie aus dem Blick zu verlieren. Als sie nach dem Essen aufstanden, um ins Kaminzimmer zu gehen, tauchte der Mann plötzlich neben ihnen auf. Er war größer, als es zunächst gewirkt hatte. Er stellte sich als Gustavo vor, schenkte Marike eine fein kalibrierte Aufmerksamkeit und führte sie mit der Hand aus dem Speisesaal, ohne ihren tief ausgeschnittenen Rücken tatsächlich zu berühren. Es schien, als würde die warme, exotische Aura, die ihn umgab, genügen, um sie zu lenken.

»Ich habe beinahe das Gefühl, als hätten wir uns schon einmal gesehen«, sagte Anna. »Vielleicht lässt es sich klären. Wollen Sie sich nicht ein wenig zu uns setzen?«

Anna und Marike setzten sich nebeneinander auf ein dunkelgrünes Sofa, Anna bot ihm den Sessel an. Er sah von Marike zu Anna und wieder zurück, und als Anna fragte, woher er komme, erzählte er, dass er ein Hotel betreibe, in einer kleinen Hafenstadt, von der sie vermutlich noch nie gehört hätten, Nam Van, in der Nähe von La–

»Kennen Sie Chou, der am Corso das Gasthaus hat?«, platzte Anna heraus. Die Farbe schoss ihr ins Gesicht, so aufgeregt, so jugendlich erhitzt hatte Marike sie noch nie gesehen.

»Sie kennen meinen Vater?«, rief er erstaunt.

»Ihren Vater?«

»Ja, Chou, mein Vater, er hatte das Gasthaus am Corso.«

»Ich war … jetzt verstehe ich. Aber ja, ich kenne ihn. Vor dem Krieg, ich war in Nam Van und habe ihn … ich war mit ihm befreundet.«

Marike legte die Hand auf den Arm ihrer Tante, beinahe um sie zu beruhigen. Gustavo nickte, seine Mundwinkel zuckten zu einem leichten Schmunzeln auf. Dann erzählte er, dass der Gasthof vor einigen Jahren abgerissen worden sei. Sie hätten an derselben Stelle ein neunzehnstöckiges Hotel gebaut, sehr modern, mit einer goldenen Fassade. Papa Chou habe das Geschäft an ihn übergeben, er sei inzwischen siebzig Jahre alt und habe sich zurückgezogen.

»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Gustavo. »Alle nennen ihn Papa Chou. Aber sagen Sie, wie sind Sie nach Nam Van gekommen? Was haben Sie dort gemacht?«

Während Marike an ihrem Armagnac nippte, erzählte Anna, wie sie als junge Frau um die halbe Welt gereist war. Sie war Teil einer Unterhaltungsrevue auf dem Dampfer Amboyna gewesen. Jeden Abend unterhielten sie die Passagiere, jeden Abend mussten sie sich etwas Neues einfallen lassen. Tänze, Zaubertricks und Gesang. Meistens trug sie ein sogenanntes Kleopatrakleid, einen meterlangen, goldenen Schal, der unfassbar kompliziert um den gesamten Körper gewickelt und mit einem einzigen Metallring an der Hüfte befestigt war.

»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Gustavo.

»Nein, das können Sie nicht. Ich war schlank damals, ich habe mich hauptsächlich von Kokain ernährt. Wenn wir Musik gemacht haben, habe ich das Tamburin geschlagen. Ich konnte ja nichts anderes.«

In Nam Van hatte sie keine Lust mehr auf diese Auftritte, sie schmiss das Engagement hin, ließ sich auszahlen und ging von Bord. Sie nahm ein Zimmer in einem Gasthof am Corso, dessen Besitzer, ja, offensichtlich Gustavos Vater war.

»Und was machen Sie jetzt hier?«, fragte Marike.

»Ich lerne. Wir wollen das Majestic zum luxuriösesten Hotel nicht nur in Nam Van, sondern in der ganzen Region machen.«

»Das heißt, Sie werden nachher auf Ihr Zimmer gehen, und sich zu all dem Notizen machen?«

»Selbstverständlich«, sagte Gustavo Chou da Luz und sah ihr ruhig und gespannt zugleich in die Augen. »Ich mache mir zu allem Notizen.«

»Ich meine zu dem Hotel, dem Essen, den Annehmlichkeiten?«

»Ja, natürlich. Dieser feine Armagnac hier«, er hob sein Glas gegen das Kaminfeuer und betrachtete die satte rötlich-braune Farbe, »ist schon mal eine ausgezeichnete Inspiration.«