32 · Dita

Benedita liegt auf dem Deck der Jasmin. Sie leckt sich den Karamellkaffee von den Lippen, öffnet die Augen. Die Männer der Bergungsfirma stehen am stumpfen Bug des Ungetüms und unterhalten sich, ihre Stimmen säuseln und gehen im Gurgeln der Bugwelle unter. Gabriel erklärt, wie sehr er sie dafür bewundert, dass sie ihr eigenes Leben führt, dass sie so unabhängig ist, dass sie nach der Schule diesen Schritt gemacht hat. »Ich habe dich wirklich vermisst, aber ich habe es auch verstanden. Du gehst deinen Weg. Ich bin stolz auf dich.«

Sie war achtzehn Jahre alt. Sie war über die Brücke von Badalamit gegangen, ohne sich umzusehen. Jetzt stand sie mit ihrem Koffer vor dem Haus in der Süderstraße, das ihr Janne hinterlassen hatte, und wartete auf den Hausmeister. Auf ihrer Nase, auf Stirn und Wangen prickelte es kaum wahrnehmbar, ein ganz neuartiges Gefühl. Wenn es in Nam Van regnete, dann schüttete es, die Tropfen waren weich und so riesig, dass man hören konnte, wie sie auf Dächer, Blätter und Asphalt platschten. Hier in Geest war der Regen kalt und fein, beinahe wie Nebel. Sie zog den Mantel enger und schlug den Kragen hoch. Der Hausmeister stieg aus einem roten Kastenwagen, der im Nieselregen wie ein Blutfleck zu verschwimmen schien. Er sah sie und unterdrückte ein Lächeln. Sie begriff sofort, dass er nicht damit gerechnet hatte, eine derart junge Frau vorzufinden. Er reichte ihr die Hand und sagte: »Dann wollen wir mal.«

Er schloss auf, sie trat hinter ihm ins Haus. Als er ihr anbot, den Koffer zu nehmen, lehnte sie dankend ab. Er wollte ihr alles erklären, welche Parteien wo wohnten, welche Arbeiten anstanden, welcher Keller für sie reserviert sei, er wollte ihr sogar die Stromzähler zeigen. Benedita fielen die Generatoren und Kabel von Lascabanes ein, die durch Löcher in den Wänden geführt wurden.

Er hatte sich alles zurechtgelegt, offenbar hatte er diesem Termin seit längerer Zeit, vielleicht auch mit einer gewissen Angst und Sorge, entgegengesehen. Benedita sagte, das könnten sie ja alles später besprechen, und bat ihn, sie in den vierten Stock zu bringen. Sie fuhren schweigend hinauf.

Die Wohnung war sauber und aufgeräumt, erzählt Benedita und betrachtet das tiefblaue, funkelnde Himmelszelt. Die Verwaltung hatte nach Jannes Tod eine Reinigungsfirma beauftragt, der Hausmeister war seither einmal im Monat gekommen, um nach dem Rechten zu sehen und, wie er sagte, kräftig durchzulüften. Der Kühlschrank war ausgeschaltet, ein sauberes Küchentuch lag gefaltet über der Tür, damit er nicht zufiel. Im Schlafzimmer waren die Schränke geöffnet. Janne hatte in den letzten Jahren in einem höhenverstellbaren Bett geschlafen, die Bedienungseinheit, an einem Kabel, lag auf dem Nachttisch.

»Sie ist ja nun auch wirklich sehr alt gewesen«, sagte der Hausmeister zögerlich, er schien nicht recht zu wissen, ob es angebracht war, zu kondolieren. Janne war schließlich bereits seit zwei Jahren tot.

»Soll ich Ihnen den Kühlschrank anmachen?«, fragte er und reichte Benedita die Schlüssel.

Noch einmal lehnte sie dankend ab. Als er fort war, setzte sie sich auf das altmodische Sofa und betrachtete das Zimmer, den Kachelofen, die hohe Decke. Auf einem Telefontischchen fand sie ein blaues Mäppchen mit einem kleinen Schreibblock und eingestecktem Stift. Sie hauchte die Spitze des Kugelschreibers an und begann, eine Liste mit den Dingen anzulegen, die in den ersten Tagen und Wochen zu erledigen waren. Sie musste mit der Vollmacht zur Bank, sie musste zum Immatrikulationsbüro, sie hatte einen Termin bei der Hausverwaltung. Vor allem aber musste sie jemanden finden, der ihr diese Möbel und dieses Bett abnehmen würde. In einem Krankenbett würde sie es nicht eine Nacht aushalten.

Sie rief ein Taxi und ließ sich zu einem Hotel bringen. Als sie an die Rezeption trat, fühlte sie sich plötzlich wie zu Hause. Ein junger Mann reichte ihr die Schlüsselkarte, gab ihr die Information zu den Frühstückszeiten und wünschte einen angenehmen Aufenthalt. Während er sprach, sah sie ihm auf die Lippen, als könnte sie sie lesen.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie, als sie merkte, wie irritiert er war. »Ich war mit meinen Gedanken gerade woanders.« Sie fuhr nach oben, legte sich aufs Bett und schloss die Augen.

In den folgenden Tagen kehrte sie immer wieder in die Wohnung zurück. Sie durchsuchte systematisch Schränke, Schubladen, Kommoden. Sie fand die Ordner, einen Karton mit Fotos. Ein paar hübsche Kleider hingen im Schrank, die Janne selbst genäht hatte, offenbar aus dem Stoff, den Tovo ihr hatte bringen lassen, bevor Gustavo sie aus dem Majestic und aus der Stadt gejagt hatte. Aber diese Kleider zu ändern hätte sich nicht gelohnt. Wann trägt man so etwas? Sollte sie im rosa bestickten Cheongsam zur Weihnachtsfeier in der Klinik gehen?

Möbel wurden abgeholt, das Bad wurde erneuert, Anstreicher kamen, erzählt Benedita, deren Kopf noch immer auf der Tauwerkschnecke ruht, und beinahe, als hätte Gabriel in ihrer Stimme eine sanfte Welle der Erregung herausgehört, fragt er, ob sie einen Freund hat.

Es scheint Tobias nicht zu stören, dass sie ihn als ihren Manchmalfreund bezeichnet. Er studiert, und an den Wochenenden jobbt er im Kühllager eines Milchwarengroßhändlers. Manchmal als Anstreicher. Er stand auf einer Leiter im kleinen Zimmer, als sie ihn zum ersten Mal sah. Das Transistorradio hauchte Popatem.

»Wer bist du?«, fragte er, als er sie sah.

»Das ist meine Wohnung, glaube ich.«

»Glaubst du, ja?«, sagte er und legte die Farbwalze ab.

Sie lachte.

»Du bist zu jung für so eine Wohnung«, sagte er.

»Stimmt.«

»Willst du dein Glück mit mir teilen? Also, ich mein jetzt nicht, dass ich gleich hier einziehe, aber … holst du uns ein Feierabendbier?«

Das Wort Feierabendbier hatte sie noch nie gehört, sie wäre von selbst nie auf die Idee gekommen, an einem späten Nachmittag Bier aus der Flasche zu trinken. Später stellte sich heraus, dass die Vorstellung eines Feierabendbiers auch Tobias eher fremd war. Er hatte sich selbst mit seiner weißen Latzhose gesehen, mit dem lächerlichen Mützchen und den beklecksten Schuhen, und er hatte dieses Klischee bedient, weil ihm im Bruchteil der Sekunde, als unter ihm dieses hübsche Mädchen stand und auf einen Satz von ihm wartete, einfach nichts Besseres eingefallen war.

In der Straße, ein paar Häuser weiter, befand sich ein Kiosk. Sie kaufte Bier und eine Tüte Krabbenchips. Als sie wieder nach oben fuhr, hatte sie plötzlich Zweifel. Worauf ließ sie sich da ein? Ein Typ auf einer Leiter, mit dem sie kaum zwei Minuten geredet hatte. Aber er war der Erste, der sie seit ihrer Ankunft in Geest überhaupt wahrgenommen hatte. Der Erste, der sie offen angesehen hatte. Er sah gut aus, seine Stimme war sanft und warm. Ein bisschen Aufmerksamkeit und Wärme, dachte sie, würde ihr guttun. In diesen ersten Wochen hatte sie sich wie eine Abtrünnige gefühlt, beinahe wie eine Verstoßene. Die Leute sahen sie an, und ihre Blicke schienen zu sagen: Was machst du hier? Was hast du verbrochen? Warum bist du nicht bei deinen eigenen Leuten?

»Du bist nicht von hier, oder?«, sagte Tobias, als er die Krabbenchips sah. Aber das klang anders. Es klang freundlich und ein wenig belustigt.

Er leistet ihr an den dunklen Wintertagen Gesellschaft. Er kocht den starken Broken Tea seiner Heimat, den er mit Sahne und Kandiszucker serviert, nimmt sie in den Arm und fragt sie aus, über ihre Herkunft, über die Stadt und das Leben im Internat. Schließlich stellt er die eine Frage, die sich in Nam Van noch niemand ernsthaft gestellt hat: »Was habt ihr eigentlich dort zu suchen?«

Benedita führt ohne Überzeugung an, was in der Schule mit ebenso wenig Überzeugung heruntergebetet wurde: Dass kein Land Nam Van beansprucht, dass niemand ein Recht angemeldet hat – auf Restitution, auf Rückgabe oder Reparationen. Nam Van, anders als Laguna und Sé, war ursprünglich eine unbewohnte Insel, es gab niemanden, der von sich behaupten konnte, vertrieben oder unterdrückt worden zu sein. Die Piraten, die Seeleute und Nomaden, von denen einige selbst vor Armut und Verfolgung geflohen waren, hatten niemandem etwas weggenommen. Nicht einmal die scharfschnabeligen Enten, die Flüchtlinge aus dem Norden mitgebracht hatten und deren verwilderte Cousins sich in Windeseile über die ganze Insel verbreiteten, hatten irgendeine andere Art verdrängt. Tatsächlich hatten die Siedler jeden und jede mit offenen Armen aufgenommen, egal, wie sie aussahen, egal, welche Sprache sie sprachen, solange sie nur bereit waren, hart zu arbeiten – Handel zu treiben oder zu kochen oder die Menschen zum Lachen zu bringen.

Beneditas eigener Urgroßvater war ein Flüchtling aus dem Umland von Laguna gewesen, das immer wieder von kriegerischen Wellen überrollt worden war. Papa Chou war es gewesen, der am Corso, damals noch eine unbefestigte, an einem Fähranleger endende Ausfallstraße, ein Gasthaus eröffnet hatte, eine Herberge mit acht Zimmern, die bald zur Anlaufstelle für weitere Flüchtlinge geworden war.

Tatsächlich gab es kaum jemanden in Nam Van, der nicht ein wenig auch das Erbe dieser ersten Heimatlosen in sich trug, ihre Intelligenz, ihre Schönheit und moralische Flexibilität. Aber die Stadt gehörte den Seefahrern, die stur nach Kompass und Sextant gesegelt waren, bis das strahlende Zentrum der Galaxis hoch über ihren Köpfen stand.

Trotzdem scheint es Benedita oft, als sei die goldene Fassade des neunzehngeschossigen Majestic, die über Stadt und Hafen wacht, ein Fremdkörper, das Symbol einer bestimmten Art zu leben und sich zu erheben über das, was ihre Vorfahren vorgefunden hatten. Nam Van ist ein Ort der Diener und Bedienten, ein Treffpunkt, ein Landungspunkt, dessen Funktion und Lebensweise mit dem Grund, auf dem die Stadt gebaut ist, nur wenig zu tun hat. Es ist beinahe, als wäre das Land, auf dem das Majestic steht, das Rathaus, die Bürgerhäuser und Speicher, nur ein Anhängsel des Hafens, ein Ausläufer des Meeres selbst, von dem die Siedler einst kamen.

Tobias trägt dicke, grob gestrickte Pullover mit dicken Rollkragen, die ein wenig kratzen, wenn er sich von hinten an ihren Hals schmiegt. Er studiert, jobbt und geht mit seinen Freunden wandern, und wenn er fort ist, bleibt von ihm nur dieser Pullover, den sie nimmt und unter ihr Kopfkissen legt. Sie versucht, sich an ihn zu erinnern, an seine Persönlichkeit, den Kern seines Wesens, aber er hinterlässt nichts als diesen Pulli. Er ist mal gelb, mal braun oder dunkelrot, er ist eine Hülle, die wärmt und, wenn es draußen feucht ist, wohlig nach Schafstall riecht – aber der Mann, der in diesem Pullover steckt, hat kein Gesicht. Sie mag ihn, wenn er mit seinen großen Händen über ihre Schultern fährt und fragt, was sie seziert, wen sie getroffen und was sie in der Mensa gegessen hat. Es sind diese Momente, in denen sie ihn vielleicht sogar lieben könnte. Aber sie erkennt ihn nicht. Er hinterlässt nichts als den Geruch von feuchter Wolle und die Wärme seiner Stimme.

Vielleicht liegt es daran, dass er sich als Typ sieht, als Vertreter einer bestimmten Art. Er ist ein Geester Junge, wie er gern sagt, gelegentlich fällt in diesem Zusammenhang sogar der Ausdruck ›waschecht‹. Ihr Eindruck ist, dass diese Zugehörigkeit, die ihm so viel bedeutet, eine Maske ist, hinter der er sich versteckt, eine grob gestrickte, kratzige Sturmmütze, die alles verbirgt außer den algengrünen Augen und ein paar blonden Strähnen auf der Stirn. Sie versteht nicht, warum er sich derart an seine Herkunft klammert, warum er nicht einfach der Mensch sein kann, den sie beim Feierabendbier kennengelernt hat. Der sie anblickt, als Mensch, als Mann, als Freund. Es ist, als müsste er für immer und ewig in seiner Geester Haut stecken und Geester Gedanken denken und sogar mit Geester Gier seine Hand unter ihren Rock schieben. Wenn er dann fort ist, spürt sie auf ihrer Haut nicht mehr die Hand dieses Mannes, sondern die Hand dieser Stadt.

»Sag mal, warum bist du so fixiert auf deine Herkunft? Hat es damit zu tun, dass ich so undefinierbar bin in meiner, wie sagt ihr das immer, Identität?«

»Nein, so ist das nicht gemeint …«

»Aber so klingt es. Als wäre man gar nichts, wenn man seinen Körper, seine Augenfarbe, sein Herz und seinen Kopf und vielleicht auch die sexuellen Wünsche und Vorstellungen, die in diesem Kopf herumgeistern, nicht einklinken kann.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja. Einklinken in eine Gruppe, eine Strömung oder Gemeinschaft. Bin ich die Frau, die dir gegenübersitzt, die an ganz bestimmten Stellen kitzlig ist und eine Gedankenwelt mitbringt, die es in dieser Zusammensetzung noch nie gegeben hat? Oder bin ich zu je einem Viertel dies und das, ein Nordlicht oder eine Indigene oder die Nachfahrin irgendeines Piraten? Gehöre ich plötzlich zu irgendeiner Gruppe, nur weil ich mich gelegentlich nach der Berührung einer Frau sehne?«

»Tust du das?«

»Das wüsstest du wohl gern. Der Punkt ist, wenn du dich aufgrund deiner Zugehörigkeiten definierst, die du als naturgegeben akzeptierst, habe ich immer das Gefühl, dass du mir einen Vorwurf machst, dass du mir irgendwie sogar das Existenzrecht absprichst.«