Vier Etagen, acht großzügige Wohnungen hinter einer strahlend gelben Fassade. Der Eingang war mit glänzendem Stein ausgelegt. Im Garten stand ein schöner Birnbaum. Sie müssen eine schöne Kindheit gehabt haben. Die Eltern starben, die Schwestern erbten das Haus. Dann wurde es zerstört. Das ganze Viertel lag in Trümmern. Die Menschen hatten zu nah am Hafen gewohnt, zu nah an der Werft. Sogar der Friedhof wurde bombardiert. Bretter, Knochen, Schädel, die Ruine einer Kapelle. Das Viertel um die Süderstraße war komplett zerstört, es war nichts übrig.
Janne ließ das Haus wiederaufbauen. Sie arbeitete Tag und Nacht, ging bis an die Grenze dessen, was erlaubt war, und manchmal auch darüber hinaus. Das war es, was sie sich anrechnen lassen wollte. Es war ihr Haus, auch wenn im Grundbuch etwas anderes stand. Das Haus, das sie geerbt hatten, existierte nicht mehr. Anna, ihre Schwester, nahm sich einen Anwalt.
Anna hatte die Jahre der Katastrophe in einer Siedlungsgenossenschaft weit hinter den Grenzen des Geestlands verbracht, sie hatte getanzt, mit ihren Freunden Opium geraucht und sich auf einer abgewetzten Chaiselongue in das alte Nam Van zurückgeträumt, bis die letzte Brandbombe gefallen und der letzte Schmuck verkauft war. Janne, als alleinerziehende Mutter, war rechtzeitig in die Voralpen evakuiert worden. Drei Tage dauerte die Reise in den Süden, drei Tage, die sie auf überfüllten Bahnsteigen, auf der Strecke stehenden Waggons und in Luftschutzkellern verbrachten. Janne dachte, sie würden nie ankommen. Es war dieselbe Strecke, über die Anna und Marike später in die Berge fahren sollten, dieselbe Strecke, auf der das Foto entstand, das Benedita ihm mitgebracht hat.
Als Janne und ihre achtjährige Tochter schließlich völlig erschöpft aus dem Zug taumelten, wurden sie vom Bürgermeister des hübschen, auf achthundert Metern gelegenen Dorfs begrüßt. Das hätten sie sich niemals träumen lassen, dass der Bürgermeister mit seiner Delegation an seinem hübschen Bahnhof stehen und sie empfangen würde, als wären sie Ehrengäste des Kurvereins. Janne dachte, es sei ein Witz. Sie hatte geglaubt, dass der ganze Kontinent in Brand stünde und alle Menschen, vom Meer bis in die Hochtäler, in gleicher Weise betroffen, beschämt und verdreckt wären. Aber das stimmte nicht. Es gab im Süden Dörfer und sogar Städte, die von der Katastrophe praktisch unberührt waren. Das Leben ging weiter. Bürgersteige wurden gefegt. Die Kinder putzten sich die Zähne, packten ihre Ranzen und gingen in die Schule.
Der Bürgermeister drückte ihnen Essensgutscheine in die Hand und brachte sie in die Gemeindewohnung. Klein, mit einer niedrigen Decke, aber es war alles sauber. An der Wand hingen heimattreue Sprüche, es gab eine fest eingebaute Essecke. Anderthalb Jahre blieben sie dort, Janne nähte, Marike ging zur Schule. Sie lernte Schreiben und Rechnen mit all den pausbäckigen Mädels und Burschen, wie das damals hieß, und Janne nähte ihr Kleider mit Puffärmelchen, damit sie nicht so auffiel. Dann war es auf einmal vorbei. Der Bürgermeister kam und bat sie mit einer Unterwürfigkeit, die etwas Aggressives hatte, die Wohnung zu räumen. Sie kehrten nach Geest zurück.
Die gertenschlanke, drahtige Frau stand mit ihrer Tochter vor dem zerstörten Haus. Der alte Birnbaum lag da, als hätte ihn ein Blitz gespalten. Das Laub war verwelkt. Sie retteten, was zu retten war, und zogen in den Schuppen, später in das notdürftig hergerichtete Erdgeschoss. Janne nähte für Verwandte und deren Freunde, sie entfernte die Puffärmelchen von Marikes Kleidern, und als sie spürte, dass das Geld nicht reichen würde, um das Haus wiederaufzubauen, bewarb sie sich um die Stelle im Frauengefängnis.
Dann stand plötzlich Anna vor der Tür. Sie ging beinahe grußlos und ohne zu fragen an Janne vorbei ins Haus. Sie begrüßte das Kind, drückte es an ihre große Brust, suchte sich ein Plätzchen in der Wohnung und blieb. In den folgenden Monaten und Jahren kümmerte sie sich um Marike, wenn Janne bei der Arbeit war, sie kochte und sorgte dafür, dass der Herd nicht ausging. Hin und wieder brachte sie Geld nach Hause. Aber es war Janne, die den Wiederaufbau organisierte. Jeden Vormittag kam sie mit einem Trupp von sechs Häftlingen aus Freiberg, die zum Räumen abgestellt waren. Sie setzte sie auf umgedrehte Obstkisten im Garten und wies sie an, Steine zu putzen. Sie bekamen fünfzehn Minuten Mittagspause, in der sie schweigend ihre Gefängnisbrote aßen und den von Anna bereiteten Tee tranken. Und am Ende des Tages, wenn die Backsteine sorgfältig gesäubert und gestapelt waren, führte Janne die Frauen wieder weg.
Das gesamte Geld, das sie im Gefängnis verdiente, steckte sie in das Haus. Sie bettelte Maurer, Tischler, Dachdecker an, besorgte Material, zahlte mit Butter, die sie vom Bauernhof eines Cousins bekam, und wenn eine Etage fertig war, vermietete sie eine Wohnung und steckte das Geld in den Ausbau der nächsten Etage. Sie selbst zogen von Etage zu Etage, im vierten Stock richteten sie sich schließlich ein. Als das Haus fertig und auch der Garten hergerichtet war, sagte Janne zu ihrer Schwester: »Willst du dich nicht langsam nach etwas Eigenem umsehen?«
Was weiß er über die Schwestern? Vor allem das, was sie ihm selbst berichtet haben. Er kennt die Geschichten, die sie erzählten, wenn sie mit ihren Koffern und Stofftaschen anreisten, um sich für Wochen, manchmal Monate, im Majestic niederzulassen. Janne oder Anna. Anna oder Janne. Sie kamen niemals gemeinsam. Wenn Janne da war, meldete sich Anna nicht, sie rief nicht einmal an. Wenn Anna da war, war die Großmutter wie verschollen. Die Schwestern erschienen nie in einem Bild, wie Zwillinge in einem alten Film, die von einer einzigen Schauspielerin dargestellt werden. Wenn sie nicht so unterschiedlich ausgesehen hätten, hätte man meinen können, sie wären ein und dieselbe Person, die in immer derselben, der Familienwohnung direkt gegenüberliegenden Suite auf der sechzehnten Etage des Majestic wohnte. Gustavo fühlte sich belagert. Er verdächtigte die Schwestern, vor allem Janne, das Kommen und Gehen in der Wohnung aufmerksamer zu beobachten, als es ihnen zustand. »Seid ihr etwa vom Geheimdienst? Führt ihr Buch darüber, wer bei uns zu Besuch kommt?« Er ließ ihren Türspion entfernen, ein Tischler kam, um das Loch zu pfropfen.
Manchmal ging Gabriel hinüber, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Er spielte siamesisches Mah-Jongg mit Anna oder Rommee mit Janne. Anna bezahlte ihn für jedes Spiel, egal ob er gewann oder verlor. Manchmal legte sie ihm das Tarot und erklärte ihm die Bedeutung von Bildern und Systemen. Und während er spielte, während er die Karten mischte oder rote, grüne und weiße Drachen zu einer Mauer aufstellte, spitzte er die Ohren. Er hörte den Geschichten der Schwestern zu und merkte sich jedes Detail. Er war der eigentliche Spion. Aus ihren Erzählungen und dem wenigen, das seine Mutter damals hinzugefügt hatte, konnte er ein Bild vor allem der Großmutter zusammensetzen, das der Wirklichkeit von damals möglicherweise sehr nah kam. Bis heute hält er sich an diesem Bild fest. Es ist ein Mosaik, das in seiner Wirkung realistischer wird, je weiter er sich von ihm entfernt.
Sie ist geschieden, sie ist frei. Sie hat Interessen und Wünsche, die sie mit einer Zielstrebigkeit verfolgt, die unheimlich ist. Auch als Gefängniswärterin ist sie unheimlich. Sie ist streng, daran besteht kein Zweifel. Aber ist sie auch bösartig? Gabriel weiß es nicht, er kann es bis heute nicht sagen.
Sie tritt in den Aufenthaltsraum. Die Uniform sitzt schlecht. Sie wird sie ändern, sie wird kleine, schleichende Anpassungen vornehmen, es darf nicht auffallen, dass sie am Staatseigentum herumschneidert. Auf ihrem Kopf sitzt ein Schiffchen, die Trillerpfeife liegt kalt in ihrer rechten Hand, das Lederbändchen kitzelt am Handgelenk. Was die Frauen im Einzelnen verbrochen haben, interessiert Janne nur mäßig. Die meisten hat die Sitte angeschleppt oder die Militärpolizei, das hatte der Direktor ihr gleich bei der Einstellung erklärt.
Die Frauen sehen sie an: neugierig, gelangweilt, eindringlich, freundlich, hilfesuchend oder provozierend. Einige Blicke sind starr vor Angst. Janne mustert die Frauen. Sie sucht ihre Blicke, stellt sich der Feindschaft, der stillen Provokation, die hier und da aus ihren Augen blitzt. Sie weicht nicht aus. Die meisten halten ihrem prüfenden Blick nicht stand, sie sehen auf die eigenen Füße, die in dünnen Leinenschuhen stecken.
Sechs Frauen darf sie auswählen, sechs, die zur Arbeit etwas taugen. Sie werden dankbar sein, alles ist besser, als den ganzen Tag mit dünnen Schuhen in dem kalten, gekachelten Raum zu sitzen. Maria Alkema ist die beste Arbeiterin, das hat ihr die junge Kollegin verraten, die, so der Direktor, »in der Probezeit so freundlich sein wird, Ihre Fragen zu beantworten. Na, dann gehen Sie mal, wir sehen uns nachher in der Kantine. Ich habe hier eine Menge zu tun, verstehen Sie, in Zeiten wie diesen ist eine Haftanstalt wie ein Verschiebebahnhof.«
In Zeiten wie diesen? Wie viele dieser Zeiten haben wir denn schon erlebt, und wie viele werden wir noch erleben? Ist einmal nicht genug? Und warum redet der kleine Mann so umständlich, warum macht er sich so wichtig? Warum lässt er sie nicht einfach gehen, wenn er so überaus beschäftigt ist?
Sie bedankt sich – artig genug – und zögert, vielleicht sollte sie die Gelegenheit nutzen, um eine Stelle für ihre Schwester zu bitten. Der Direktor ist ihr offensichtlich sehr gewogen. Doch dann entscheidet sie sich dagegen. Sie will seine Gutmütigkeit nicht ausnutzen, und sie hat keine Lust, den ganzen Tag mit ihrer Schwester zu verbringen, die ihr nur Konkurrenz machen würde, nicht nur um die Gunst des Direktors. Am Ende muss sie Anna noch auf dem Gepäckträger mitnehmen, sie haben ja nur das eine Rad. Für jemanden wie den Direktor wäre Anna ohnehin nur sehr schwer einzuschätzen, man weiß bei ihr nie, woran man ist. Nur Janne weiß es, sie ist schließlich ihre Schwester. Sie musste mit Anna alles teilen: das Fahrrad, das Essen, sogar das eigene Kind. Anna hat ein schönes Gesicht, runde, sinnliche Lippen, runde, hohe Augenbrauen und kastanienbraunes Haar. Aber ihre Schönheit ist schwammig, irgendwie unscharf. Außerdem ist sie dick. Woher sie das hat, weiß Janne nicht. Seit Jahren hungern die Menschen, sie schuften und werden immer magerer, nur Anna schafft es irgendwie, ihr Gewicht zu halten.