34 · Dita

Ein schmaler Strich am Horizont, ein Schatten, der sich ausfüllt, ein Hauch von Sand und Grün, die Küste kommt in Sicht. An einzelnen Stellen funkeln schwache, gelbliche Lichter auf. Umrisse werden erkennbar, die Form eines Schiffs schält sich aus der Dämmerung, ein Tanker krängt, zwei Bohrinseln stützen einander, Schulter an Schulter wie Betrunkene. Über Werkshallen und Zweckgebäuden wachen Kräne, rostige Rümpfe, halbe Aufbauten, ganze Frachter liegen wie von mächtiger Hand zerstreut auf dem Strand.

»Sie fahren bei Hochwasser auf das Land zu und rammen sich in den Sand«, erklärt Gabriel. »Die Schiffe, die keinen eigenen Antrieb haben, die Bargen und Plattformen, werden mit Seilwinden hinaufgezogen.«

»Wie Wale«, sagt Benedita.

»Genau. Dann werden sie aufgeschnitten und ausgeschlachtet.« Die Wracks liegen dicht an dicht. Tanker und Fähren, winzige Kähne neben bunt bemalten Kreuzfahrtschiffen.

»Sie nehmen alles, was aus Stahl ist.«

»Sie nehmen auch die Jasmin«, sagt Benedita.

»Ja. Den Rumpf. Nur der Stahl interessiert sie.«

Ein Containerschiff liegt so hoch auf dem Strand, dass sein Bug das Dach einer Werkhalle eingedrückt hat. Zerbrechlich zwischen zwei rostigen Giganten liegt ein Segelboot, der Mast ragt schräg hinauf wie ein Minutenzeiger.

»Dort wohnen Arbeiter«, sagt Gabriel und zeigt auf den Hang hinter den Werkhallen, einen Slum aus Hunderten von Wellblechhütten und bunten Zelten. »Es ist lebensgefährlich, was diese Leute machen. Aber sie haben keine Wahl.«

Sie schließt die Augen und hört das Hämmern und Schlagen, das gespenstische Kreischen der Trennschleifer, das aus den Rümpfen dringt.

Ein Kahn nähert sich, Männer rufen, sie kommen längsseits. Nacheinander steigen sie über die schmale Leiter von Bord. Ein Arbeiter reicht Benedita die Hand, die sich vor Müdigkeit und Aufregung kaum halten kann. Die Sprossen sind rutschig. Gabriel folgt ihr, zum Schluss die Bergungsleute. Der Letzte wirft eine Werkzeugtasche hinunter, die klirrend auf dem Deck landet.

»Ich habe etwas vergessen«, sagt Gabriel, als sie gerade abstoßen wollen.

Er klettert noch einmal hinauf und verschwindet in der Jasmin. Benedita lehnt erschöpft an der Kabine. Der Diesel tuckert. Als Gabriel zurückkehrt, lösen sie sich und drehen ab.

Gabriel legt seiner Nichte den Arm um die Schulter. Gemeinsam blicken sie zurück auf dieses Schiff, Tovos Vermächtnis, das vier Jahrzehnte im Hafen von Nam Van gelegen hat. Nach einer Weile dringt schwarzer Rauch aus dem Inneren, dann schlagen die ersten Flammen aus den Fenstern. Funken und brennende Fetzen fliegen auf, glühen gegen das Morgenlicht, Lichter zerspringen, eine schwarze Rauchsäule steigt auf, vier Explosionen, eine nach der anderen, peng-peng-peng-peng, Benedita zuckt bei jedem Knall erneut zusammen.

»Die Gasflaschen«, sagt Gabriel.

Die Jasmin treibt ruderlos vor der Küste. Benedita sieht ihren Onkel an. Er raucht und zieht sie an sich. Er hat das Feuerzeug noch in der Hand. Die Flammen hauchen Wimpel und Flaggen aus, hundert Fensterscheiben platzen, dass es prasselt, der kleine Mast stürzt. Der Rauch steigt beinahe gerade in den Himmel. Benedita löst sich aus der Umarmung ihres Onkels und setzt sich auf einen Poller. Sie versucht, trotz dieses zerstörerischen Feuerwerks in sich hineinzuhorchen. Sie will sich auf diesen Augenblick einlassen. Sie will wissen, was er mit ihr macht. Was Gabriel mit ihr macht. Flammen züngeln und zischen und umfangen das Schiff wie eine dünne, flackernde Haut, bis selbst der Lack des Aufbaus verkohlt ist. Sie horcht, und sie spürt nichts. Keine Trauer, keine Wut. Nur Leere. Sie ist erschöpft, todmüde. Es ist, als hätte ihr diese Familie die letzte Kraft geraubt. Den letzten Lebenssaft aus ihr herausgepresst.

Nach einer Viertelstunde ist alles vorbei. Ein Ponton treibt herrenlos, vaterlos, der Aufbau glüht, das Oberdeck glüht, auf dem sie mit ihren Freundinnen Räuber und Gendarm gespielt hat. Heiß, oh, ist das heiß! Wie sie an manchen Tagen mit nackten Füßen sprang, um sich nicht die Sohlen zu verbrennen. Wie sie manchmal Angst hatte, ihre Flip-Flops könnten schmelzen. Ein zweites Bild, eine Folie, legt sich über diesen Tanz, ein träger Elefant aus rußschwarzem Stahl, eine Silhouette, die jegliches Licht schluckt.

Als die letzte Gasflasche geplatzt und der letzte Knall verhallt ist, beginnen die Bergungsleute und der Matrose des Kahns zu klatschen, erst zaghaft, dann laut und mit hellem Gelächter. Es ist wie ein Echo des Applauses, mit dem die Bürger von Nam Van die Jasmin am Abend verabschiedet haben.

Über dem Meer ist die Sonne aufgegangen, sie haben es gar nicht bemerkt. Benedita sieht ihren Onkel an, müde und verwirrt. Er hat es für sie getan, natürlich, er will sie befreien von dieser Last, die sie trägt und immer getragen hat. Die Jasmin geht in Flammen auf, und er denkt, damit sei alles gelöst. Dabei schwimmt das Ding noch. Schwarz, verkohlt, bereit zur letzten Verwertung. Trotzdem beschließt sie in einem Akt des Willens, das Feuerwerk als Geschenk aufzufassen. Sie will Dankbarkeit spüren, sie will es anerkennen, selbst wenn er nicht das erreichen wird, was er sich möglicherweise versprochen hat. Auf jeden Fall war es besser als eine Überraschungsparty. Es war spektakulär, im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Spektakel, nur für sie.

Es gibt so viel, was es an ihm auszusetzen gäbe. Diese Abgeklärtheit, die manchmal wie Großspurigkeit wirkt, eine Art enervierende Nonchalance. Aber sie hat keine Lust, ihn zu kritisieren. Sie liebt ihn, und sie vertraut ihm. Er ist der Einzige in der Familie, der an sie denkt. Der Einzige, der ihr Wohl im Blick hat. Nicht nur das Wohl der Erbin, die einmal das Familiengeschäft übernehmen will. Sie weiß, dass es ihm egal ist, was sie tut – solange sie nur glücklich ist. Er hätte ja selbst Kinder kriegen können, die das Familiengeschäft fortführen, er ist selber schuld, dass sie die letzte ihres Stammes ist.

Nur ein einziges Mal hat sie ihn wirklich gehasst. Als sie aus Spanish California zurückkehrte. Es war früh am Morgen, sie ließ sich vom Flughafen direkt zum Jachthafen fahren, sprang auf das Deck, trommelte auf das Kajütendach und schrie: »Diú! Wach auf, du Arschloch!« Als Gabriel endlich herauskam, wütete sie los: Er hätte sie verraten, er hätte sich mit ihrer Mutter gegen sie verbündet, sie wollten sie loswerden, alle beide. »Du bist ein Dreckskerl. Du bist wirklich ein richtiger Dreckskerl!« Und während ihr noch das Blut in den Schläfen pochte, fragte sie sich, woher diese zerstörerische Kraft stammte, die sie wie einen Druckkessel in ihrem Inneren spürte, woher die Macht dieser Wut, die sie nun gegen ihren überraschten Onkel wandte.

Es dauerte, bis Gabriel sie so weit beruhigt hatte, dass er ihr erklären konnte, er habe wirklich alles unternommen, um Julia umzustimmen. Doch die Entscheidung, sie allein nach Nam Van und schließlich nach Badalamit zu schicken, hatte bei ihrer Mutter gelegen, nicht bei ihm. Ihre Mutter hatte sie im Stich gelassen, nicht er. Er hatte eigentlich keine Wahl. Entweder bot er Julia seine Hilfe an, versicherte ihr, dass er sich um Benedita kümmern würde, und ermöglichte ihr damit, sich abzusetzen, oder er verweigerte sich in der Hoffnung, Julia umzustimmen. Aber hätte Julia ihm das abgenommen? Bestimmt nicht. Sie hätte ihre Tochter trotzdem zurückgeschickt, sie hätte sich einfach darauf verlassen, dass er Benedita helfen, sie aufnehmen und unterstützen würde. Julia kannte ihn zu gut, sie wusste, dass er seine Nichte nicht im Stich lassen würde.

»Niemand lässt dich hängen. Du kannst auf der Stardust wohnen, wenn du in der Stadt bist. Du kannst deine Freunde einladen. Ich ziehe in die Wohnung, wenn du willst. Du musst mir nur sagen, was du willst.«

»Ich will raus. Raus aus dieser Familie!«

Schließlich erzählte sie ihm von Lascabanes, seinen Bewohnern, sie sagte ihm, was ihr dieser Aufenthalt bedeutete. »Ich habe mich so aufgehoben gefühlt. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl dazuzugehören. Als hätten sie alle nur darauf gewartet, mich in ihre Arme zu schließen. Ich hätte einfach dableiben sollen, bei Leslie, bei Noah und Beto und den anderen.«

»Du kannst es dir ja noch überlegen. Bleib erst einmal hier, ein Schuljahr oder zwei, dann denkst du neu darüber nach. Ich unterstütze dich, egal, wie du dich entscheidest. Wenn du abhauen willst, dann hau ab. Aber schaff dir die Voraussetzungen dafür. Mach etwas aus dieser Situation, etwas, das wirklich zu dir passt.«

Ein weiterer Schlepper, rostig und zerbeult, nimmt die ausgebrannte Hülle der Jasmin an den Haken. Sie sehen ihr noch eine Weile nach, bis sie hinter einem schwarzen Containerschiff verschwindet. Die Jasmin scheint mit dem größeren Rumpf zu verschmelzen, es sieht aus, als würde sie gefressen.

»Hast du mit Tovo darüber gesprochen? Hast du ihn gefragt?«

»Nein«, sagt Gabriel.

»Was wird er sagen, wenn er erfährt, was du mit der Jasmin gemacht hast?«, fragt sie.

»Was soll er schon sagen? Geh hin. Melde dich an, es ist ganz einfach. Geh in die Festung und erzähle es ihm.«

Sie sieht ihren Onkel an. Ihr Inneres krampft sich zusammen. Sie schüttelt den Kopf.