36 · Dita

Dampfende Congee-Schalen mit halbierten, weich gekochten Wachteleiern, mit kross gebackener Schweineschwarte und Blattgemüse garniert. Teller und Teekännchen stehen wacklig auf dem zerbeulten Metalltisch und klappern. Über der Essensausgabe die vier linkslehnenden Blockbuchstaben der Bergungsfirma. Die Hocker, ebenfalls aus Metall, sind am Boden verschraubt, die Wände sind weiß gekachelt. Wie ein Schlachthof, denkt Dita, eine Gefängniskantine. Wahrscheinlich spritzen sie den Raum am Ende des Tages einfach ab.

Dita schraubt die Flasche mit der scharfen Soße auf. Sie tunkt ein Stäbchen hinein und beginnt, die Schriftzeichen der Jasmin auf den Tisch zu malen. Es gelingt ihr nicht, das Stäbchen verteilt auf dem glatten Blech die rote Farbe nicht, sie muss immer wieder tunken und ansetzen, bis die Schrift aussieht wie verschmiertes Blut. Sie zupft eine dünne Serviette aus dem Spender und wischt es ab.

»Du wirkst unzufrieden«, sagt Gabriel. »Aber es gibt keine bessere Kantine. Die Leute kommen von weither, um hier zu essen.«

Sie glaubt ihm nicht. Zum ersten Mal seit sie ausgelaufen sind, ist ihr kalt. Sie schiebt sich das Haar hinters Ohr und hält das Gesicht in den Dampf. Tobias. Der Pullover. Sie könnte den Ofen anmachen und seiner tiefen, warmen Stimme lauschen. Es ist, als würde man an einem grauen Herbsttag das Radio einschalten. Selbst wenn er auf dem Sofa neben ihr sitzt und von seinen Bergtouren erzählt, ist sie einsam. Aber er macht ihre Einsamkeit erträglicher.

Sie fahren die Küste entlang, Ricardos Nacken ist frisch rasiert, die Haut gerötet. Benedita schlägt die Beine unter, lehnt sich an Gabriels Schulter, nickt immer wieder ein. Auf der Drachenbrücke öffnet sie die Augen. Dunst liegt über der Stadt, die vollkommen still wirkt, wie menschenleer. Dabei weiß sie, wie geschäftig die Innenstadt um diese Tageszeit ist. Am Markt wimmelt es von Händlern, Lieferwagen, Motorrädern, niemand beachtet die Ampeln, es gibt keine Regeln außer denen, die die Menschen seit Jahrzehnten in ihrem Inneren ausgebildet haben. Am Hafen drängen sich die Köche an den Schiffen, sie wiegen Barsche, Schnapper und Schildkröten in den Händen, greifen in blutige Kiemen und überprüfen die Festigkeit des Rochenfleischs.

Der Wagen bahnt sich eine Schneise durch ein Meer von Sägern und Touristen. Ricardo fährt im Schritttempo über die Promenade. Menschen aus aller Herren Länder stehen dicht an dicht auf der Mole, um die Balz der Meeressäuger zu erleben. Jede Fontäne wird hundertfach fotografiert. Ein Junge verteidigt seine frittierten Muscheln gegen die Angriffe der Möwen. Am Rathaus steigt Gabriel aus. Benedita hält seine Hand, während er aussteigt, sie streckt sich im Fond und lässt erst los, als er bereit ist, die Tür zuzuschlagen. Ricardo bringt sie zum Hotel, an der Vorfahrt steigt sie aus. Die Rezeptionistin fragt, ob sie bereit wäre, in die Wohnung umzuziehen, es gebe Anfragen für die Suiten, das Hotel sei ausgebucht, alle Zimmer seien belegt.

»Das ist natürlich Ihre Entscheidung.« Die Frau, nicht älter als Benedita selbst, rollt den goldenen Kugelschreiber in der Hand. »Viele Gäste sind in die Stadt gekommen, um die Jasmin zu verabschieden. Und natürlich wegen der Wale.«

»Ist in der Wohnung denn alles bereit?«, fragt Benedita.

»Ja, selbstverständlich. Wir wechseln einmal in der Woche die Wäsche, alles wird aufgefrischt.«

»Und warum?«, fragt Benedita erstaunt. Gabriel nutzt die Wohnung nicht, sie steht, soweit sie weiß, seit ihrer Abreise vor drei Jahren leer.

»Weil Ihr Onkel es so wünscht.«

Benedita sieht die junge Frau an und weiß nicht, was sie sagen soll. Sie hat den Faden verloren. Sie starrt auf das glänzende Namensschild der Rezeptionistin.

»Wenn Sie natürlich noch einen Wunsch haben«, sagt die junge Frau, um das unangenehme Schweigen zu brechen, »wenn Sie noch etwas brauchen, könnten wir Ihnen – «

»Nein, danke, Carla«, sagt sie schließlich. »Lassen Sie nur das Gepäck rübertragen. Ich werde mir ein bisschen die Beine vertreten.«

Sie wankt auf dem unsicheren Grund dieses Vormittags, sie sucht noch nach Halt. Sie ist noch gar nicht zu sich gekommen, seit sie von Bord der Jasmin gegangen sind. Hat sie Angst? Sie weiß es nicht. Es ist eher ein Gefühl der Beklommenheit. Die Wohnung ist ein Museum der erkalteten Gefühle. Die Jasmin dagegen glüht noch immer. Die lodernden Flammen haben sich in ihre Netzhaut eingebrannt. Es ist, als würde ihr der Brandgeruch noch in den Kleidern und Haaren stecken. Es war selbstgefällig und ein wenig albern, wie Gabriel noch im Wagen mit dem Feuerzeug gespielt hat. Aber sie weiß ja, warum er es getan hat. Warum die Jasmin in Flammen aufgegangen ist. Für sie hat er das Feuerzeug an den hellblauen Seidenstoff gehalten, und ein bisschen auch für sich selbst. Ein Feuerwerk sollte es werden. Eine Bestattung. Der Friede soll einkehren in eure Herzen.

Sie wird ein wenig spazieren gehen, und wenn sie sich gefangen hat, wird sie in die Wohnung treten und die Gespenster vertreiben, die lebenden und die toten. Gabriel ist zu großzügig gewesen, als er ihr die Suite reserviert hat. Er wollte es gut machen, ein wenig zu gut, und dafür ist sie dankbar. Er wusste, dass sie nicht in die Wohnung wollte. Aber jetzt wird sie sich fügen. Es ist ihr lieber, sich einer wirtschaftlichen Erwägung zu unterwerfen als einem undefinierbaren Gefühl.

Sie versteckt die Müdigkeit hinter einer Sonnenbrille und taucht in die schwere, schwüle Luft der Straße ein. Im Park, am Brunnen, spielen Kinder, ein Junge durchschneidet den Wasserstrahl mit dem Schwert seiner Hand, wobei er jedes Mal einen kurzen, scharfen Kampfschrei ausstößt. Blüten versprühen ihren süßlichen, klebrigen Duft, der sich mit dem Geruch der Straße und dem Dunst der Grillstände vereint. Sie zieht Geld, auf der Rückseite der neuen Scheine ist die Drachenbrücke zu sehen. Sie stopft das Geld in die Jeans und geht die lärmende Horta e Costa hinauf. Am Heong Tou Café biegt sie ab und erreicht die Rotunde, wo sie mit vierzehn zu Mambaklängen ihre ersten Tanzschritte gemacht hat. Ein dürrer Junge hatte sie aufgefordert, ein Junge, dessen Haut wirkte, als müsste sie bei der ersten Berührung zerbröseln. Sie traute sich kaum, seine Hand zu nehmen.

Sie kauft ein Softeis, etwas Rotes, angeblich Wildkirsche, und setzt sich auf eine Steinbank. Vor ihren Füßen klebt ein eingetrocknetes Kaugummi. Gut möglich, dass Gustavo einst an dieser Stelle gesessen hat, ihr Großvater, an den sie sich kaum erinnert. Das Einzige, was sie über ihn weiß, ist das, was sich in den Gesichtern der Erwachsenen abspielte, wenn sie nach ihm fragte. Die seltsame Mischung aus Schmerz und Mitleid, das hassvolle Aufblitzen in Gabriels Augen. Für Ricardo war Gustavo eine Autorität gewesen, ein Geschäftsmann, der ihm eine Chance gegeben hatte. Ricardo verdankte ihm alles, und Ricardo hatte alles gesehen. Er hatte Gustavos Geliebte durch den Personaleingang ins Hotel geschleust, während Marike, weinend unter der Last ihrer Depressionen, allein in der Wohnung saß. Er hatte die Unterlagen abgeholt, mit denen sich Gustavo gegen Tovos unweigerliches Scheitern abgesichert hatte. Ricardo kannte diesen Mann, der an nichts und niemanden glaubte als an sich selbst, er kannte seine Selbstbezogenheit und seine Kälte, und er hasste ihn nicht weniger, als seine Söhne es taten. Aber er war ihm immer treu geblieben.

Julia schien eher belustigt, wenn sie Gustavos Namen hörte, denn sie nahm den Schmerz der Brüder nicht ernst. Sie nahm überhaupt nichts ernst. Julia war wie ein Zitronenfalter, ein Hauch von einem Menschen, der von Blüte zu Blüte zieht, der immer nur nach Leichtigkeit, Farbe und Nahrung sucht, ohne sich je irgendwo niederzulassen.

Benedita weiß, dass Gustavo über einen Zeitraum von zwei, drei Jahren in die Unterwelt abstieg, in diese feuchte, düstere Höhle, die Demenz genannt wird. Manchmal rutschte er auf den glitschigen Stufen ab, dann klammerte er sich an eine Felskante und kroch wieder ein Stückchen hinauf. Er saß stundenlang auf irgendwelchen Bänken in der Stadt und führte Selbstgespräche. Es war, als würde er sich mit den Sägern unterhalten. Wenn er am späten Nachmittag ins Hotel zurückkehrte, berichtete er von stundenlangen Wanderungen, die er gemacht, von schier unfassbaren physischen Leistungen, die er vollbracht hätte. Das war die Fantasiewelt, in der er lebte. Das war die Fantasiewelt, in der er ertrunken ist. Vielleicht dachte er tatsächlich, er könnte um sein Leben schwimmen.

Der Mülleimer ist übervoll. Sie setzt das klebrige, mit einer Papierserviette eingeschlagene Hütchen vorsichtig auf die herausquellenden Styroporschalen. Gäbe es Wind in dieser Stadt, würde es den am Boden scharrenden Sägern vor die Schwimmfüße fallen, aber es gibt keinen Wind, keinen einzigen, kühlenden Hauch. Die Stadt scheint zu dampfen. Trotzdem beschließt sie, noch ein wenig zu gehen.

Sie wendet sich nach Norden, streift durch die Viertel, die sie aus ihrer Kindheit kennt. Die uralten Bäckerräder aus dem Hotelhof fallen ihr ein, mit denen sie und ihre Freundinnen die Gassen hinabschossen, dass Menschen und Geflügel auseinanderstoben. Die dicken Reifen, das platschende, satt aufschlagende Profil waren für das Pflaster wie geschaffen, aber es genügte ihnen noch nicht. Erst als sie die Klickerkarten in die Speichen gesteckt hatten, setzten sie sich auf Sattel und Stangen und rasten hinab, wobei sie eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden lang die Augen schlossen, bis sie kreischend in die Kreuzung fuhren. War das Mut oder Selbstvergessenheit? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass es diese Augenblicke in ihrer Kindheit gab, wo Lebensfreude und Lebensmüdigkeit unfassbar dicht beieinander lagen.

Schließlich erreicht sie die Ringstraße, die ihnen immer unüberwindbar schien. Benedita war noch nie auf der anderen Seite, zumindest nicht zu Fuß. Irgendetwas zerrt an ihr, treibt sie voran. Sie geht, bis sie eine Unterführung erreicht, einen Fußgängertunnel, aus dem kühlere Luft und ein stechender Geruch dringen. Sie geht hinein, springt mit einem Satz über eine Pfütze, in der sich Tageslicht spiegelt. Es wird dunkler, an einem Obdachlosenlager bleibt sie stehen. Entenvögel picken an der Kartonunterlage. Sie zieht einen Schein aus der Tasche und steckt ihn in das Kopfkissenanhängsel des Schlafsacks. Es ist wie ein Schutzopfer, als würde sie eine Kerze anzünden.

»Hey, hey, was machen Sie da?«

Ein Mann kommt auf sie zu, eine Silhouette, groß und breitschultrig. Sie hat Angst. Sie sieht sich um. Es ist dunkel, der Tunneleingang auf der Südseite ist zu weit entfernt. Es hat keinen Sinn zu fliehen. Sie hat einen Fehler gemacht, sie wusste es in dem Moment, als sie das Geld aus der Tasche zog, vielleicht schon, als sie in den Fußgängertunnel trat.

»Ist das Ihr Lager?«, fragt sie, als er näherkommt. »Ich habe Ihnen nur etwas Geld hingelegt.« Das Herz schlägt ihr bis zum Hals.

»Nein.« Seine tiefe, sonore Stimme hallt im Tunnel.

»Ich …«

»Sie brauchen keine Angst zu haben.« Der Mann steht jetzt direkt vor ihr. Er trägt ein helles Hemd. Er riecht nicht.

»Kommen Sie, kommen Sie«, sagt er und schiebt sie in Richtung Ausgang.

»Lassen Sie mich, fassen Sie mich nicht an.«

»Ich tue Ihnen nichts. Bitte, kommen Sie einfach. Das ist kein guter Ort für Sie.«

Sie geht mit, sie hat überhaupt keine Wahl. Ihr ist schlecht vor Angst. Es ist, als würde der Lärm und Gestank der sechsspurigen Ringstraße in den Tunneleingang hineinfließen wie eine dickflüssige Masse. Sie geht auf Melasse, die Sohlen kleben, sie kommt kaum voran. Benedita ist auf alles gefasst. Sie hat nichts, nicht einmal ein Schlüsselbund, das sie in die Faust nehmen könnte, um zuzuschlagen.

»Das ist wirklich kein guter Ort für Sie. Vertrauen Sie mir, bitte.« Als sie aus dem Schatten treten, sieht sie ihn an. Er hält die Handflächen hoch, als wollte er sagen: Ich tue Ihnen nichts. Seine Augen lächeln. Er schiebt die schwarzen Wellen seines Haars über das Ohr.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, beschwichtigt er noch einmal. »Es tut mir aufrichtig leid.«

»Diú-diú-diú! Ich bin fast gestorben vor Angst. Wer sind Sie?«

»Das tut mir wirklich leid. Die Menschen, die in diesem Tunnel leben, sind manchmal aggressiv.« Benedita atmet schwer, ihre Beine zittern. Sie will weiter, sofort. Sie schließt für einen Augenblick, den Bruchteil einer Sekunde nur, die Augen. Sie hat eine genaue Vorstellung von ihren Herzkammern, die das Blut durch die Adern pumpen, dass es hellrot unter ihren Lidern aufleuchtet.

»Anteo«, sagt der Mann und streckt die Hand aus. »Padre Anteo. Kommen Sie, kommen Sie, gehen wir nach oben.« Sie gehen die Rampe hinauf, die aus dem Tunnel nach Qianshan führt, Benedita eilt zwei, drei Schritte voraus, bis er sie einholt. Die Betonwände sind grün angelaufen, Büsche und staubige Ranken quellen herab.

»Sie sind Priester?«

Hinter ihnen rumpeln Lastwagen über die Ringstraße. Der Satz kommt gegen den Lärm kaum an. Langsam, ganz langsam, kommt sie zur Ruhe.

»Ja. Das stört Sie hoffentlich nicht.«

»Sie haben mich wirklich erschreckt.«

Er entschuldigt sich noch einmal. Es wird ruhiger, je weiter sie sich von der Ringstraße entfernen.

»Priester, ja?«, sagt sie schließlich. »Ich bin ein bisschen geschädigt … von Badalamit.«

»Sie waren im Internat? Ich begleite Sie ein Stückchen, wenn Sie nichts dagegen haben. Wo wollen Sie denn eigentlich hin?«

Sie gehen weiter nach Norden, sie muss ihm versprechen, auf dem Rückweg ein Taxi zu nehmen. Qianshan riecht anders als die Innenstadt, die Altstadt, der Hafen. Das Meer scheint weit entfernt. Es ist, als würde der rohe Beton der vier- oder sechsstöckigen Wohnhäuser, die bis weit in die Hügel hinauf die Straßen säumen, atmen. Als wäre dieses Viertel seit seiner Fertigstellung – wenn man von Fertigstellung überhaupt sprechen kann – nie richtig durchgetrocknet. Die meisten Häuser wirken, als würden ihnen Dächer und ganze Etagen fehlen. Nur die Roststreifen an Mauern und Wänden, die bunten, teils zersprungenen Kacheln, die die Erdgeschosse bis auf Brusthöhe kleiden, deuten darauf hin, dass diese Häuser nicht erst gestern entstanden sind.