Eine Frau legt Karten, das Separee ist hellblau umweht. Ihr Umhang wallt wie ein seidener Vorhang. ›Du besitzt eines der wertvollsten Grundstücke der Stadt‹, sagt Anna. ›Ich sehe einen goldenen Palast. Menschen werden sterben auf den Bambusgerüsten, die wie Spinnen die neunzehn Stockwerke hinaufklettern. Sie werden stürzen. Sie werden dir im Sturz noch dankbar sein, denn du hast versprochen, ihre Familien zu versorgen. Reicht dir das nicht? Was willst du mehr? Lass dich im Keller begraben, lass dir in diesem Palast, der sich am Horizont der Zeit schon abzeichnet, eine Marmorgruft bauen, und wenn die Küchenhilfen nachts den Fliesenboden reinigen, wenn sie den Dreck mit dem Wasserschieber in den Ablauf drängen, dann regnet und plätschert es in deinem Grab, und du kannst die Stadt schmecken, du kannst den Fisch, die Krebse, die Seeohren riechen, das Meer, das Julu, die brackige Suppe, aus der wir alle vor gar nicht langer Zeit herausgekrochen sind. Dann bist du an deinen Ursprung zurückgekehrt, und dein Sohn trägt den Staffelstab, bis auch er stolpert und hinabgestoßen wird im Augenblick der Schwäche.‹
Anna ging von Bord und legte das goldene Kleopatrakleid ab. Sie wechselte in ein rotseidenes Cheongsam, ein schmales, mit schwarzen Ranken verziertes Kleid, dessen rund ausgeschnittener Stehkragen ihre zarte, gepuderte Kehle offenbarte. Sie war wunderschön – eine strahlende Figur mit großen, leuchtenden Augen und einem Schwall von kastanienbraunen Haaren, den sie zu einem strengen Zopf bändigte.
Sie benötigte ganze drei Tage, um den Mann zu verführen, in dessen Pension sie wohnte. Chou brachte Austern und Champagner, wenn er sie nachts besuchte, er trat in den süßen Duft ihres Zimmers, schlich sich heran und berührte sie wie ein Gott. Die Nächte vergingen wie im Rausch, und nichts erinnerte daran, dass der Mann eine Frau und mehrere Kinder hatte. Vor Morgengrauen verschwand er so leise, wie er gekommen war. Sie schlief bis zum Mittag, ließ sich Tee und Toast und klebrig-süße Chirimoyas servieren und zog sich sorgfältig an. Am Nachmittag verließ sie das Haus, um die Kunst des Tarots zu erlernen. Sie nahm die bunten Kärtchen der Wahrsagerinnen, die ihr auf dem Corso angeboten wurden, und folgte den Wegbeschreibungen: In der Gasse der Gewürzhändler befindet sich unter einem blauen Sonnensegel zur Rechten eine rot lackierte Holztür … Adressen gab es nicht. Nur die drei, vier Boulevards hatten Namen, die Hausnummern zeigten die Fertigstellung des Gebäudes an, nicht ihre Reihenfolge. Chous Pension hatte die Nummer siebzehn, weil sie das siebzehnte Haus war, das am Corso entstanden war. Neben der Pension, in der Nummer drei, wohnten in einem ummauerten Anwesen vier oder gar fünf Generationen einer alteingesessenen Familie samt Dienerschaft, die Chou und die Neuankömmlinge aus dem Norden, die bei ihm wohnten, mit Argwohn betrachteten.
Anna drang bis in die winzigsten Hinterhöfe ein, sie gab nicht auf, bis sie die Verstecke der Cartomantes gefunden hatte. Ein winziges, verhangenes Fenster im Erdgeschoss, eine Kerze, deren flackerndes Licht auf das Gesicht einer schwarzen Ischtar fiel. Hier muss es sein. Sie klopfte dreimal, denn – sie wusste bereits von dem Aberglauben, der die Stadt durchwirkte wie hundert schimmernde Fäden – alles andere hätte ihr Unglück gebracht, eine gerade Zahl möglicherweise sogar den Tod.
So zog sie von einer Wahrsagerin zur nächsten, sie steckte das ganze Geld, das sie auf dem Dampfer verdient hatte, in diese Ausflüge. Sie setzte sich auf die harten Stühle, sah den mal mehr, mal weniger verhüllten Frauen in die Augen und variierte ihre Fragen, um herauszufinden, worauf sie reagierten. Sie ging vor wie eine Wissenschaftlerin. Sie sah sich in den düsteren Zimmern um, notierte im Kopf jedes Detail, jede mit einem Tuch abgedeckte Lampe, jede reich verzierte Opiumpfeife, jedes Rauschen und Plätschern in dieser von Wasser durchtränkten Stadt. Sie lauschte den Antworten der Cartomantes, sie analysierte, was die Sätze, die aus ihren feuchten Mündern tropften, mit ihr machten, und war erst zufrieden, wenn sie ihre Gedanken lesen und ihre Worte antizipieren konnte. Innerhalb weniger Wochen lernte sie, die Karten zu legen und in die innersten Geheimnisse der Menschen vorzudringen. Es war, als hätte sie eine neue Sprache gelernt, deren Wörter und Zeichen tiefer in den Urgrund der Bedeutung reichten, als sie sich je hatte träumen lassen.
Es war nicht Chous einzige Affäre. Er nannte seine Frau Lotus, manchmal sogar Lotus Flower, Gabriel weiß bis heute nicht, wie sie wirklich hieß. Was er weiß, ist, dass er sie trotz dieses liebevollen Namens nicht geliebt hat. Die Stadt war ein Sündenpfuhl, für Männer eines gewissen Standes war alles möglich, alles denkbar. Niemand setzte ihnen Grenzen, und niemand glaubte an die bürgerliche Liebe, den Treueschwur der Ehe. Anna brauchte nicht lange, bis sie das erkannt hatte. Die Männer glaubten an Geld und an Macht und an Sex, und ihre Frauen wussten es und fanden sich damit ab, weil sie keine andere Wahl hatten.