39 · Gabriel

Je schwächer Gustavo wurde, desto größer wurde sein Bedürfnis, seine Kraft und Ausdauer unter Beweis zu stellen. Er verließ morgens im frisch aufgebügelten Anzug das Hotel, und wenn er am frühen Nachmittag zurückkehrte, baute er sich vor dem Personal auf, das sich gerade zufällig in der Lobby befand, und berichtete von ausgedehnten Wanderungen, wie sportlich er ›marschiert‹ sei, welche gewaltigen Strecken er zu Fuß zurückgelegt habe. Er nannte Zahlen, Entfernungen, die ihn bis weit aus der Stadt, bis ans nördliche Ufer der Insel und darüber hinaus geführt hätten. Die Kofferträger, die Zimmermädchen und Rezeptionistinnen hatten keine Wahl, als diesem Mann zuzuhören, der offiziell noch immer der Inhaber des Hotels und damit ihr Chef war. Sie unterbrachen ihre Arbeit, falteten Hände, Staubwedel und Handservietten hinter dem Rücken und nickten ungläubig, während er mit erhitztem Gesicht erzählte, wie er fünf, sechs oder sieben Stunden durch die Stadt gelaufen sei, wie er die Hügel erklommen habe, ohne sich eine einzige Pause zu gönnen, ohne zu trinken und auch nur den leisesten Anflug von Hunger oder Müdigkeit zu verspüren. Fragen, wo er denn im Einzelnen gewesen sei, was er dort getan und gesehen habe, waren nicht vorgesehen. Niemand traute sich, die Blase seiner dementen Selbstgefälligkeit zu durchstechen. Die Angestellten sahen auf den Boden und betrachteten Gustavos kaum angestaubte Derbys, die sie noch am Morgen poliert hatten.

Gabriel, der seinen Vater spät nachmittags kurz sah, bevor sich der alte Herr sein frühes Abendessen servieren ließ, versuchte – teils amüsiert, teils besorgt – herauszufinden, was Gustavo in diesen Mittagsstunden trieb. Er fragte nach konkreten Orten und Gebäuden, die Gustavo gesehen, welche Straßen er überquert habe, er rekonstruierte seine Wege und schloss, dass sich sein Vater in einem Umkreis von höchstens einer halben Meile um das Hotel bewegte, dass er die nördlichen Viertel nie erreichte und auch im Westen nie über das Hafenviertel hinauskam. Gustavo sträubte sich gegen die strenge Befragung und antwortete einsilbig. Manchmal versuchte er abzulenken, indem er nach Tovo und Julia fragte, die mit der Geburt ihrer Tochter in eine moderne Wohnung über der Stadt gezogen waren und sich im Majestic kaum mehr blicken ließen.

»Und wie geht es meiner Tochter?«, fragte er dann.

»Du hast keine Tochter.«

»Ich meine die Tochter von der Tochter, die Tochter von meinem Sohn, sie heißt …«

»Benedita. Du meinst Benedita. Deine Enkelin. Sie ist gesund und hübsch, sie lacht, wenn man ihren Bauch krault. Was soll man sonst sagen über ein Baby?« Gabriel steckte sich eine Zigarette an.

»Was bekomme ich zu essen?«

»Was hast du denn bestellt?«

»Ich weiß es nicht mehr.«

Es waren diese späten Nachmittage, an denen seine Demenz besonders deutlich zutage trat. Wenn er von seinen Wanderungen nach Hause kam, sprach er relativ zusammenhängend, seine Erzählungen klangen beinahe überzeugend. Doch kurz darauf, wenn er in die Wohnung zurückkehrte, wirkte er erschöpft und verwirrt. Zur Seite gelehnt, als müsste er im nächsten Moment umkippen, saß er auf dem Sofa, er hielt sich an der Fernbedienung fest und suchte nach Wörtern. Er vergaß den Namen des Restaurantschiffs und manchmal sogar den Namen des Hotels, in dem er sein ganzes Erwachsenenleben verbracht hatte.

»Warum kommt er nicht mehr ins …, ich meine, warum kommt er nicht mehr ins … wie heißt das noch mal, ins Hotel?«

»Wie heißt das Hotel?«, fragte Gabriel scharf.

»Ist doch egal.«

»Sag es mir. Wie heißt unser Hotel?«

»Ich weiß, wie es heißt, ich habe den Namen damals selbst ausgewählt. Es ist nur … nicht so wichtig.«

»Majestic. Papa, du hast es vergessen. Und deine Frau? Weißt du noch, wie sie hieß?«

»Du redest ja fast schon so mit mir wie Tovo. Was soll das? Was habe ich euch nur getan?«

»Die Frage ist, was du ihr angetan hast.«

»Wie meinst du das?«

»Marike. Deiner Frau. Was hast du ihr angetan, dass sie sich den Strick genommen hat?«

»Wer hat sich den Strick genommen?«

»Deine Frau.«

»Das stimmt nicht, das wüsste ich doch.« Gustavo wich dem Blick seines Sohns aus. Er sah auf die Fernbedienung und drückte auf den Tasten herum, immer auf der Suche nach Rettung, immer in der Hoffnung, dass der Fernseher anspringen würde. Doch auf dem grauen Bildschirm zeichnete sich nur sein eigener Schatten ab und das schwache Bild seines hünenhaften Sohns, der über ihm stand und mit der Zigarette in der Hand gestikulierte.

Der Rausch der Bewegung, der eine Selbsttäuschung war, hielt mehrere Monate an. Gustavo verschwand nach dem Frühstück, manchmal winkte er beim Hinausgehen, ohne sich umzudrehen. Bekannte riefen Gabriel an, wenn sie ihn in der Stadt entdeckten. Er sitze einfach da, berichteten sie, auf diesem oder jenem Platz, er sitze auf einer Bank, stundenlang. Er redete mit sich selbst, mit den Möwen und den Sägern. Nur mit den Menschen sprach er nicht. Selbst wenn ihn jemand erkannte und ansprach, reagierte er nicht. Wenn er dann ins Hotel zurückkehrte, erzählte er bombastisch von seinen heldenhaften Wanderungen. Abends kratzten die Angestellten den Entenkot von seinen Ledersohlen.

Zu Beginn der Regenzeit begann Gustavo, auch körperlich abzubauen. Er zog sich an, ließ den Fernseher einschalten und verbrachte die Tage auf dem Sofa, unfähig, den Sender zu wechseln. Das Wasser strömte über die Fenster. Er empfing nur noch selten Besuch. Nur einige der Freunde, die mit ihm die Freitagsrunde auf der Jasmin gebildet hatten, kamen. Es waren Abschiedsbesuche, ihnen schien klar, dass sie ihn zwar noch sehen, aber in wenigen Monaten schon nicht mehr erreichen würden. Dieser gerade einmal siebzig Jahre alte Mann, der noch vor Kurzem in der Mitte des Lebens gestanden hatte, war ein Bewohner seiner selbst, er war in sich selbst zurückgefallen und nahm die Außenwelt nur noch als Rauschen, als elektrisches Knistern seines eigenen zerfressenen Hirns wahr.

Als sie zum Notar gingen, um die Nachfolge zu regeln, ließ Gustavo sich – anfangs etwas unwillig, später dankbar – von Gabriel und Julia stützen. Langsam, mit tastenden Schritten, ging er die Stufen hinauf. Tovo folgte, er dachte nicht daran, seinem Vater oder seiner Frau den Regenschirm zu halten. Als sich die Tür mit leisem Säuseln öffnete, schlüpfte Tovo vor ihnen durch den Windfang und meldete sich beim Portier. Julia löste ihr buntes Kopftuch, während Gabriel seinem Vater mit dem Taschentuch die nasse Stirn abtupfte. Eine halbe Stunde später waren die Brüder Eigentümer eines Hotels am Corso.

»Wollen wir das feiern?«, fragte Julia, als sie wieder unten waren. »Wir könnten am Hafen etwas trinken.«

»Kein Grund zum Feiern«, sagte Tovo trocken. »Oder, Papa?« Gustavo sah seinen Sohn an.

»Wer ist das?«

»Wer ist was, Papa?«, fragte Gabriel. Gustavo zeigte mit dem Finger auf Julia.

»Wer ist diese Frau?« Julia lachte schallend und sagte: »Alter Herr, du brauchst jetzt dringend einen Drink!«

»Bourbon«, sagte Gabriel entschlossen. »Ich kenne da eine nette Bar. Der Besitzer schuldet mir was.« Tovo nickte unwillig.

Die Bar, in der sich eine kleine Sammlung von Messingbarometern, feinen kardanischen Aufhängungen und antiken Navigationsinstrumenten befand, war als Marinemuseum deklariert worden und als solches in den Genuss einer Förderung für den Ausbau der touristischen Infrastruktur gekommen. Unterzeichnet, mit freundlichen Grüßen, Gabriel Chou da Luz. Tovo würdigte seinen Vater, der sich unsicher, aber nicht unglücklich an einem India Pale Ale festhielt, keines Blickes. Er sprach in kurzen Sätzen mit seinem Bruder, erkundigte sich nach der Konstruktion und Bauweise der zweiten Stardust, die Gabriel bei einer Werft in Laguna in Auftrag gegeben hatte, und erzählte von schlaflosen Nächten. Julia, die von den nächtlichen Bedürfnissen des Babys weit stärker gefordert war als ihr Mann, war dagegen bestens gelaunt. Sie ließ sich von Gabriel eine Zigarette nach der anderen anzünden und sprach über das Hotel, als wäre es gerade gestern erst eröffnet worden: ›Sag mal, Gabriel, habt ihr mal überlegt, unten eine Disko einzubauen? Wer braucht so ein riesiges Schwimmbad?‹ ›Tovo, willst du da nicht einsteigen? Ich meine, als Geschäftsführer?‹ ›Was ist eigentlich mit der Weinliste? Ist das gut, was ihr da im Keller habt?‹

Das Baby war versorgt, die Babysitterin bis zum Abend gebucht, Julia hatte keine Ahnung gehabt, wie lange der Termin beim Notar dauern würde. Sie hatte nicht gefragt, und niemand hatte es ihr gesagt. So schwamm sie in langsamen Zügen durch die Zeit und diesen Nachmittag wie durch einen großen, etwas trüben See, sie machte ein paar Züge, tauchte auf, sagte einige Sätze, bestellte einen weiteren Drink, sagte wieder ein paar Sätze. Gustavo wusste bis zum Schluss nicht, wer sie war. Am Ende musste Tovo seine Frau beinahe aus der Bar hinaustragen. Gabriel folgte mit ihrem Vater, den er auf ähnliche Weise, aber aus anderem Grund auf die Straße hinauszerren musste. Die Brüder verabschiedeten sich mit einem Handschlag. Gabriel brachte Gustavo ins Majestic, Julia und Tovo kehrten in ihre Wohnung zurück.

Am Morgen rief Tovo seinen Bruder im Rathaus an.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht«, sagte Gabriel. »Das war nett gestern. Ich bin froh, dass wir uns mal wieder unterhalten konnten.«

»Meinst du, er hat bekommen, was er verdient hat? Ist das seine Strafe dafür, dass er Mama in diesen grausamen Tod getrieben hat?«

»Wir müssen ruhig bleiben, Tovo«, sagte Gabriel, als müsste er ein Feuer eindämmen, das tief im Innersten seines Bruders außer Kontrolle zu geraten drohte. »Ich denke, wir müssen ihn einfach versorgen. Er wird wegdämmern. Wir müssen warten, bis er stirbt.«

»Weißt du noch, die aufgerissene Tapete?«

»Ja.«

»Woher? Woher hatte sie dieses Seil?« Tovo atmete schwer, er schien beinahe zu schnauben.

»Ich weiß es nicht.«

»Ich werde ihn nicht auf den Scheiterhaufen heben.«

»Ich weiß«, sagte Gabriel leise, um seinen Bruder zu beruhigen.

»Ich mache das nicht. Ich werde ihm diese Ehre nicht erweisen.«

»Ist klar. Mach dir keine Gedanken darüber. Das klären wir, wenn es so weit ist. Wie geht es Julia?«

»Sie hat Kopfschmerzen. Benedita hat uns geweckt. Sie ist zu uns ins Bett gekommen.«

»Ja.«

»Du musst auf sie aufpassen, wenn uns etwas passiert«, sagte Tovo. »Du bist der Pate. Es ist deine Verantwortung.«