42 · Dita

Tovo, seine Tat und sein beharrliches Schweigen sind der Schatten, der über ihr junges Leben gefallen ist, und der es bis zum heutigen Tag verdunkelt. Manchmal spürt sie, wie er durch die Bilder ihrer frühesten Kindheit huscht, sie ahnt, dass da jemand war, der ihr Geschenke brachte, dessen tiefe Stimme sie in ihren Träumen erreichte, der sie auf die Schulter hob und durch das riesige Schiff und seine lärmende Küche trug.

Sie war nicht nur eine Chou da Luz, der letzte Spross dieser in der ganzen Stadt bekannten und angesehenen Familie, sie war auch die Tochter eines Mörders. Die Richterin hatte aus einer Möglichkeit eine Gewissheit gemacht – eine Gewissheit, mit der Benedita leben musste. Es war nicht irgendein beliebiger Mord in Qianshan, es war eine Nachricht, die tage- und wochenlang die Zeitungen beherrschte. Jedes Detail wurde ausgebreitet, jede Möglichkeit wurde diskutiert, sogar die, dass Gabriel verwickelt war. Alle, angefangen mit den Freunden im Friseursalon, redeten über diesen Mord.

Egal wie großzügig, wie klug und witzig sie später war, egal wie viele Freundinnen sie aus der Schule mit nach Hause brachte, sie war in den Augen dieser Freundinnen immer die Tochter eines Mörders. Wo sie auch hinkam, mit wem sie auch sprach, Gustavos tragischer Tod klebte an ihren Sohlen wie getrockneter Entenkot. Und daran war allein Tovo schuld. Das war es, was sie ihrem Vater zum Vorwurf machte.

Sie ist überzeugt, dass Gustavo nicht nur seine Frau gedemütigt, sondern auch seine Söhne gezüchtigt und geschlagen hat. Gabriel hat das nie zugegeben, er möchte darüber nicht sprechen. Aber er ist nicht weniger gezeichnet als Tovo. Das, glaubt sie, ist der Grund, warum er dieses einsame Leben auf dem Meer gewählt hat. Das ist der Grund, warum er unfähig war zu lieben.

Warum hätte Julia ihn sonst verlassen sollen? Gabriel war der angenehmere, der klügere der beiden Brüder, er war groß, er sah besser aus. Er hatte alle Möglichkeiten. Er hätte Senatsvorsitzender werden oder in Laguna ein noch größeres, noch prächtigeres Hotel eröffnen können. Er bewegt sich durch die Stadt, als würde sie ihm gehören, sie geht davon aus, dass das damals nicht anders war. Aber am Ende kümmerte er sich nur noch um den Containerhafen. Das war ein Kraftakt, eine Leistung, ohne Zweifel – aber wofür? Worum ging es ihm? War es sein Versuch, den Namen der Familie zu retten? Wollte er von den Geschichten in der Zeitung ablenken, die mit jedem Tag unheimlicher und niederträchtiger wurden?

Was wäre aus Julia geworden, wenn sie Gabriel geheiratet hätte? Sie hätte die erste Frau in diesem Kleinstaat werden können, es wäre eine Rolle gewesen, mit der sie sich hätte anfreunden können, auch wenn Nam Van nicht Spanish California war, wenn die Gassen nach Fisch stanken und die Säger eine Plage waren. Julia wusste, was sie wollte, aber sie war nicht größenwahnsinnig. Sie hätte sich zufriedengegeben. Stattdessen ließ sie sich von Tovo einfangen, sie trieb in seinen Orbit und kreiste und blieb und bekam ein Kind, und Gabriel, der sie als Neunzehnjährige aus Spanish California mitgebracht hatte, ließ es einfach geschehen. Er ergab sich, kampflos. Tovo nahm sie ihm weg, wie er ihm die Segeltrophäen weggenommen hatte. Mit einem Lachen.

Ist Tovo ein Mörder? Auf jeden Fall. Selbst wenn sich der alte Mann aus eigener Kraft in den Pool gestürzt hat, selbst wenn er sich selbst den Gurt angelegt hat – die Leiterin des Housekeeping konnte sich nicht erinnern, ob er oben am Aufzug bereits fixiert war – Tovo stand da, er sah den hilflosen alten Mann, er griff nicht ein. Benedita glaubt nicht an die Hölle, aber sie glaubt an die Strafe. Es gibt eine Gerechtigkeit, die mit der Justiz nichts zu tun hat. Tovo hat seinen Vater ertrinken lassen, er hat ihm bei seinem Todeskampf zugesehen, möglicherweise mit Genugtuung. Jetzt sitzt er in Gaolung, allein. Gabriel ist der einzige, der ihn besucht. Ricardo, der der Familie sein Leben lang gedient hat, bringt es nicht übers Herz. Tovo ist alt geworden, erzählt Gabriel, das Hemd hängt an seinen Schultern wie an einem Kleiderhaken.

Die Vorstellung ist erdrückend. Tovo schiebt seinen Vater aus dem Aufzug. Er fährt zwischen den Liegen durch und stellt ihn auf. Die Bremse ist gelöst.

»Da, Papa. Da hast du dein Meer.«

Tovo braucht ihn nicht zu stoßen, Gustavo hat ihn verstanden. Er mag den Namen der Stadt und den Namen des Hotels vergessen haben – sein Hirn, eine klebrige Masse, lässt die Wörter und ihre Bedeutungen nicht mehr durch – aber er erkennt den Ton der Aufforderung. Er weiß, dass er aus dieser Situation nicht herauskommen wird. Er weiß, was er zu tun hat. Er legt die Hände auf die grauen Reifen, schiebt an, die kleinen Vorderräder rutschen ab, erst das eine und dann das andere, der Rollstuhl kippt, schlägt hart auf die gekachelte Kante, kippt nach vorn, trifft auf das Wasser, dass es Tovo auf die Sommerhose spritzt.

Möglich, dass der alte Mann das, was danach kommt, für das ganz normale Leben hält. Das Wasser ist warm wie frisch gemolkene Milch. In seinen aufgerissenen Augen brennt Chlor, alles wirkt verschwommen, befremdlich. Der Körper lässt nicht los, der Körper, nicht der Geist, klammert sich an das Leben, er atmet das süße Wasser, das bis in die Lungenspitzen dringt, wo es stahlhart wird und stichelt wie tausend winzige Skalpelle. Reflexe schütteln ihn, er schlägt aus. Die Urkraft, die erwacht, genügt nicht, um den Körper zu befreien. Über sich, verzerrt von der aufgewühlten Wasseroberfläche, verfremdet vor dem goldenen Hintergrund der Decke, sieht Gustavo seinen Sohn und Mörder.

Aber wer war ihr Großvater? Wer war dieser Gustavo, der damals in seinem eigenen Hotelpool ertrunken ist? Welcher Gustavo hat dort, festgeschnallt in einem Rollstuhl, minutenlang um sein Leben gekämpft? Der elegante Mann, der Anna und Marike ins Kaminzimmer des Berghotels führte, um ihnen im Feuerschein, einen Armagnac-Schwenker in der zarten Hand, von seinem neuen, neunzehnstöckigen Hotel zu erzählen? Oder der Mann, der sie Jahre später mit seinen harten Worten, mit seiner Verachtung und Eiseskälte in den Tod trieb?

Marike muss beeindruckt gewesen sein, denkbar, dass sie sich an diesem ersten Abend gleich in ihn, zumindest aber in seine Erscheinung, seine weiche Stimme und den Glanz seiner schwarzen, sichelförmig zur Nasenwurzel auslaufenden Augen verliebte. Sie muss für die Aura, die er entfaltete, empfänglich gewesen sein. Sie war in Trümmern aufgewachsen, in einer zerschlagenen Stadt, der harte Befehlston einer Gefängniswärterin hatte sie ins Leben begleitet. Schließlich hatte sie sich gegen diese Gefängniswärterin durchgesetzt und war mit ihrer zu Wohlstand gekommenen Tante in den Skiurlaub gefahren. Aber statt ihre so errungene Freiheit zu genießen, statt sich das Tarot legen zu lassen, Skifahren zu lernen und sich ein wenig verwöhnen und bewundern zu lassen, folgte sie dem exotischen Mann nach Nam Van, Hals über Kopf, wie man damals sagte, Hals über Kopf.

Sie brachte zwei Söhne zur Welt. Sie wurde krank und ergab sich im Schutz des goldenen Turms der tröstenden Trägheit, die ihr das Laudanum bescherte. Nicht auszuschließen, dass er sie mit eigener Hand hinunterstieß. Hätte sie versucht, sich zu wehren? Hätte sie die Kraft dazu gehabt? Vermutlich nicht.

Also legte er ihr das Seil um den Hals und stieß sie herunter, ob mit der Hand oder mit einem Wort aus dem Waffenarsenal seiner Sprache. Und dann? Dann finanzierte er Tovo die Jasmin. Um sich von seiner Schuld freizukaufen, oder um sich noch einmal über seinen Sohn zu erheben – Benedita weiß es nicht. Auch die Stardust hat er bezahlt, Gabriel hatte überhaupt kein eigenes Geld. Hat er die Brüder in seiner hässlichen und gewaltsamen Art doch geliebt? War er fähig dazu? War es die einzige Art von Liebe, die sie erkannten?