43 · Gabriel

Hundert Menschen standen dicht an dicht auf dem Dach der Jasmin, um ihn zu begrüßen. Freunde und Verwandte, die halbe Stadt war auf den Beinen und drängte auf das Schiff und auf die Mole. Der Hafenmeister, der den Funkspruch empfangen hatte, mit dem Gabriel seine Ankunft ankündigte, hatte den gesamten Segelclub aus seinen Regattatagen zusammengetrommelt. Jeder, der etwas auf sich hielt, war da, jeder, der nur im Entferntesten mit den Chou da Luz zu tun hatte. Tovo ließ Champagner verteilen, er sonnte sich in der Aufmerksamkeit, die nicht ihm, sondern seinem achtundzwanzig Jahre alten Bruder gebührte, der nach beinahe zwei Jahren mit schmutzigen Segeln auf den Heimathafen zulief. ›Da!‹ Ferngläser wurden herumgereicht. ›Da ist sie! Die Stardust!‹ Das Schiff kam unter vollen Segeln näher, es gab keine sichtbaren Schäden. An Deck stand eine Frau in Strandhose und pinkfarbenem Bikinioberteil, die niemand kannte. Sie hielt sich am Mast fest und schob sich mit der freien Hand die wehenden Haare aus dem Gesicht.

Fünf oder sechs seiner Segelfreunde drängten sich darum, die Leinen zu nehmen. Als sie festgemacht hatten, sprang Gabriel, der eine schmutzig-graue Bermudashorts trug, über den Bugkorb auf den Steg. Er war tief gebräunt und sehnig, die langen Haare waren verfilzt. Sein schlanker, kräftiger Oberkörper glänzte, Salz und Sonne hatten die Brusthaare gebleicht. Er reichte Julia die Hand, die mit seiner Hilfe hinunterkletterte. Gabriel zog sie an sich, sie hielten sich aneinander fest. Sie hatten seit dreieinhalb Monaten keinen festen Boden mehr unter den Füßen gehabt.

Freunde und Bekannte aus dem Jachtclub überschütteten ihn mit Fragen, ein Reporter der Gazette drängte heran, den Gabriel freundlich abwies. Schließlich gelang es Tovo, sich auf dem schmalen Steg einen Weg durch die Menschen zu bahnen. Er trat grinsend vor und drückte Gabriel an die Brust. Dann musterte er die rotblonde, blutjunge Frau, die neben seinem Bruder stand, und sah ihn fragend an.

»Das ist Julia«, sagte Gabriel.

»Hallo, Julia. Du wankst.«

»Ich glaube nicht. Ich glaube, die Welt wankt. Und wer bist du?«

Gabriel stellte seinen Bruder vor. Jemand reichte Champagner, sie stießen an. Gabriel und Julia wären gern ein paar Schritte gegangen, um sich am festen Horizont zu kalibrieren, aber daran war nicht zu denken. Gabriel bedankte sich kurz und vertröstete die Freunde auf einen anderen Tag, dann kehrte er mit Julia auf die Stardust zurück. Als sie oben waren, reichte Tovo die Gläser über den Bugkorb, zog die Schuhe aus und kletterte ebenfalls an Bord.

»Was war das?«, fragte Gabriel, als sie sich gesetzt hatten. »Hast du das organisiert?«

»Nein«, sagte Tovo.

»Wie soll man das aushalten, nach zwei Jahren?«

»Immerhin, du bist da. Du hast es geschafft.«

»Die Stardust hat es geschafft«, sagte Gabriel, neigte den Kopf und klopfte mit der flachen Hand auf die Holzbank. »Sie ist ein bisschen mitgenommen, aber es hat keinen nennenswerten Bruch gegeben.«

»Das da hinten ist mein Schiff«, sagte Tovo, schob sich zu Julia und zeigte auf die Jasmin.

»Damit kommst du nicht weit, oder?«, sagte Julia und lachte.

»Weiter, als du denkst.«

Julia trank einen Schluck Champagner und sah ihn an – ungläubig und amüsiert zugleich.

Tovo grinste.

»Was für eine Enttäuschung«, sagte sie schließlich.

»Was denn?«, fragte Gabriel erschöpft. »Wie meinst du das?« Er brachte es kaum fertig, einen vollständigen Satz zu formulieren.

»Die ganze Zeit habe ich nur mit dir geredet, nur mit einem einzigen Menschen, und jetzt, wo ich wieder in der Welt bin und mich unter die Leute mischen könnte, rede ich ausgerechnet mit deinem Bruder.«

»Es ist ein Schritt in die richtige Richtung«, sagte Tovo. »Man muss vorsichtig manövrieren, langsam, Schritt für Schritt in die Welt zurückkehren.«

»Und du willst mir dabei helfen?«

Gabriel war erschlagen von diesem Empfang, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er saß da, stützte sich auf die Knie und schwieg, während Tovo Julia fragte, woher sie komme, wie alt sie sei, wie lange sie unterwegs gewesen seien. Er fragte sie regelrecht aus.

»Wann kommt ihr zum Essen auf die Jasmin?«

»Morgen, vielleicht«, sagte Gabriel ohne aufzusehen. Gabriel nahm an dem Gespräch kaum teil. Es war, als hätte ihm der Tumult auf dem Steg, dem sie gerade entkommen waren, die letzte Kraft geraubt. Schließlich stand er auf und begann, mechanisch aufzuräumen. Er tat, was er immer getan hatte, wenn er in einen Hafen eingelaufen war. Er legte das Großsegel zusammen und befestigte es. Er schoss Leinen und Schoten auf, zog den Eimer aus der Backskiste und spülte das Deck ab. Es kamen noch immer Leute, die ihn begrüßen wollten. Gabriel winkte ihnen kurz zu und setzte schweigend seine Arbeit fort.

Am Abend verkroch er sich in der Kajüte. Tovo brachte Julia ins Hotel, die sich nach einem ausgedehnten Bad und einem blutigen Steak sehnte. Gabriel lag die ganze Nacht wach. Am frühen Morgen, als noch Dunst und Stille über der Stadt lagen, verließ er die Stardust. Er ging mit seinen langen, etwas schwerfälligen Schritten über den Steg, ließ das Tor hinter sich zufallen, dass die Kette klirrte, stieg die steile Gangway hinauf und betrat den festen Boden von Nam Van. Vorsichtig, beinahe tastend überquerte er die leere Straße.

In der kleinen Kaffeebar war er der einzige Gast. Hinter dem Tresen stand ein Barista, den er nicht kannte. Gabriel bestellte Kaffee und ein Pastel.

»Ich habe kein Geld«, sagte er, als ihm der Mann das Törtchen hinschob. »Ich habe keinen einzigen Pataca in der Tasche.«

»Geht aufs Haus«, sagte der Mann.

»Kann ich noch eine Zigarette haben?«

»Ja, aber nur, wenn du mir verrätst, wer das hübsche Mädchen ist, das du mitgebracht hast.«

Gabriel lachte laut auf, und als er sich lachend im Spiegel hinter der Bar entdeckte, wurde ihm plötzlich klar, dass Nam Van auf ihn gewartet hatte. Die Menschen brauchten ihn, sie brauchten diesen Gabriel Chou da Luz, den ernsteren, den klügeren der beiden Brüder, und sie hießen ihn, jeder auf seine Weise, willkommen. Er würde seinen Platz einnehmen in dieser Stadt, auch wenn Tovo, der sich nie die Frage gestellt hatte, ob ihm das, was er sich wie selbstverständlich nahm, tatsächlich auch zustand, immer so getan hatte, als gehöre sie ihm.

In den folgenden Tagen und Wochen schien alles gleichzeitig zu passieren. Gabriel fragte Julia nicht, wie sie die erste Nacht verbracht hatte. Er versorgte die Stardust, pumpte das Wasser ab, schrubbte die Bordwand und brachte die Segel zur Reparatur. Er ließ die Rettungsinsel, die Feuerlöscher, Schwimmwesten und Notmunition überprüfen, versorgte den Diesel und tauschte die Sicherungen aus. Der Hafenmeister erlaubte ihm, seinen angestammten Liegeplatz am Ende des Stegs wieder in Besitz zu nehmen.

Im Schlagschatten des Hotels mietete er eine Zweizimmerwohnung, die er mit einem einfachen Futon und einer doppelten Kochplatte ausstattete. Er ließ zwei Anzüge ändern, die ihm zu weit geworden waren, Ricardo brachte aus dem Hotel eine Kleiderstange. Die Seesäcke und Aluminiumkisten aus der Stardust stellte er auf dem verschlissenen Parkett ab. Er kaufte Hemden und Schuhe und ließ sich in der Alfaiate die dicken, verfilzten Haare abschneiden. Tovo, den er beim Friseur traf, begleitete ihn in die Wohnung. Er sah sich um, stellte sich ans Fenster und sagte: »Hübsch. Wenn nur das Scheißhotel nicht wäre.«

Dann begann Gabriel, Termine zu machen. Er ging ins Rathaus, er traf sich zum Mittagessen in der Stadt. Die ungewohnten Straßenschuhe drückten. Er wurde überall vorgelassen, sein Name öffnete Türen. Die Zeitung hatte wohlwollend über seine Reise und Rückkehr berichtet. Jeder wusste, dass er früher oder später das Familiengeschäft übernehmen und seinen Einfluss geltend machen würde.

Er sprach mit allen Parteien und brachte sich für verschiedene Posten ins Spiel, die mit der Außenwirtschaft der Stadt zu tun hatten. Er ließ sich als Parteiloser aufstellen. Als Diane Fung davon hörte, eine weißhaarige Dame, die einst als kämpferische Anwältin beinahe gegen ihren Willen in Gustavos Kreis gezogen worden war, überließ sie ihm nach dreißig Jahren im politischen Geschäft ihren Senatssitz und trat in den Ruhestand. Sie erinnerte sich an die Brüder, die in ihren hübschen Anzügen am Scheiterhaufen ihrer Mutter gestanden hatten, sie erinnerte sich daran, dass der jüngere, von einem Weinkrampf geschüttelt, von einer Verwandten weggeführt worden war, während sich Gustavo – mit der Hand in der Tasche – hinter seiner Sonnenbrille versteckt hatte. Sie konnte es gar nicht erwarten, dass im Majestic und in der Familie, die für die Stadt und ihre Außenwirkung so wichtig war, eine neue Generation das Ruder übernehmen würde, und sie sah in Gabriel einen neuen Geist, der die Stadt voranbringen würde.

Julia, die sich in ihrer Suite eingerichtet hatte, sah er beinahe jeden Tag. Er zeigte ihr die Stadt, und manchmal brachte er sie ins Hotel zurück. Sie küssten sich im Aufzug, gingen Arm in Arm über den Flur, sie liebten sich und schliefen so eng umschlungen auf dem riesigen Bett ein, als teilten sie sich eine viel zu schmale Koje.

Nach einer Woche lud ihn sein Vater ein wenig zu förmlich zum Essen in die Wohnung ein. Er schickte einen Jungen mit einer Karte: Er wolle mit ihm über seine Zukunft reden, ob ihm zwanzig Uhr recht sei. Gustavo glaubte nicht mehr daran, dass Tovo die Führung des Hotels übernehmen würde, er wusste kaum, was sein ältester Sohn tat, wo er wohnte, mit wem er verkehrte. Die Leute sprachen über Tovo mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst, es gab Gerüchte, dass er sich mit den Kriminellen aus Laguna arrangiert hatte, die seit Jahren versuchten, in der kleineren, aber unfügsamen Schwesterstadt Fuß zu fassen.

»Was hast du denn nun für Pläne? Was hast du dir auf deinem Segelboot so ausgedacht?«, sagte Gustavo und klapperte mit der Hummerzange.

»Wie lange willst du das Geschäft noch führen?«, antwortete Gabriel. Er hatte sich fest vorgenommen, sich von dem passiv-aggressiven Ton, den sein Vater seinen Söhnen gegenüber pflegte, nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

»Nicht mehr lange. Wir sind gut aufgestellt. Es macht mir keinen Spaß mehr, seit eure Mutter – «

»Ich werde in die Politik gehen. Ich will etwas für diese Stadt tun.«

»Oder – «

»Gib die Geschäftsführung ab. Es gibt genug Leute, die so etwas können. Hol dir jemanden aus Laguna, jemanden, der hier nicht so tief drinsteckt.«

»Soll ich mein Haus von irgendeiner Firma verwalten lassen? Dann können wir es gleich verkaufen. Dann bin ich nur noch Mieter. Ich will mir die Leute aussuchen, die mir mein Essen kochen und die mich morgens begrüßen. Schmeckt es dir?«

»Ich habe noch gar nicht probiert. Ist das so schlimm, wenn du ein bisschen Kontrolle abgibst?«

»Ich will wissen, wer in meinem Haus arbeitet. Ich will, dass es sauber ist, dass alles funktioniert. Wir sind das beste Haus der Stadt, und das soll auch so bleiben. Außerdem wohne ich hier. Es ist nicht nur das Hotel, es ist auch mein – unser – Zuhause.«

»Dann musst du es weiterführen. Und investieren.«

»Was mache ich denn die ganze Zeit? Was habe ich denn gemacht, während du auf den Weltmeeren herumgetingelt bist. Mit einer Teenagerin, wie sich nun herausstellt.«

»Ich muss sagen, der Wellness-Bereich ist schön geworden.« Gabriel hatte sich bei seinem ersten Besuch im Hotel gleich den Pool angesehen, er war angenehm überrascht gewesen über die Neuerungen, das große Becken. Er war erleichtert, dass es gelungen war, die goldene Decke zu erhalten.

»Was hast du eigentlich die ganze Zeit gemacht? Ich meine, segelt sich so ein Boot nicht praktisch von allein?«

»Ich hab auf dem Deck gelegen und mich gesonnt, Papa. Zwei Jahre lang. Was denn sonst?«

Gustavo ignorierte die Antwort, ihren ironischen, beinahe bösartigen Ton. Die Hummerbeine knackten, es gab Venusmuscheln und Risotto und einen federleichten Salat aus Senfblüten und Mizuna.

»Das ist gut«, sagte Gabriel schließlich. »Ich habe wirklich lange nicht so gut gegessen. Auf dem Schiff – «

»Schon klar.«

» – eine Zeit lang hatte ich Weizengras und Kresse, ich habe sie jeden Tag nach draußen gestellt, ich habe sie gehegt und gepflegt, als wären sie meine Kinder.« Gustavo nickte, ohne von seinem Essen aufzusehen.

»Wer ist diese Frau, die du mitgebracht hast?«, fragte er schließlich.

»Warum fragst du mich das?«, sagte Gabriel. »Warum fragen mich das alle? Sie ist einfach eine junge Frau, die gern mitsegeln wollte.«

»Warum hast du sie mitgenommen? Hattest du nicht den Ehrgeiz, es allein zu schaffen?«

»Ich habe sie in Spanish California kennengelernt, ein paar Tage später sind wir ausgelaufen. Es war sehr nett, jemanden an Bord zu haben.«

»Seid ihr ein Paar?«

»Wie genau willst du es wissen? Seit wann interessierst du dich für mein Liebesleben?«

»Hast du gesehen, dass Tovo sie abholt? Erst hat er sie in einem Zimmer im zwölften Stock untergebracht, dann ist sie umgezogen. Sie wohnt jetzt in der Suite.«

»Ich weiß. Ich war eben noch da.«

»Wer bezahlt das?«

»Ist das dein Ernst?«

»Und du? Wo wirst du wohnen?«

»Ich habe mir eine Wohnung genommen, gleich da unten.« Er zeigte mit dem Daumen zum Fenster. »Ricardo hat mir geholfen. Wir richten sie gerade ein.«

Tovo suchte den Kontakt zu seinem Bruder, er rief in der Wohnung an, er hinterließ Zettel in der Bar, er klopfte am frühen Abend mit flacher Hand an den grau angelaufenen Bug, um ihn zum Essen abzuholen. Gleichzeitig bemühte er sich um Julia. Er zeigte ihr die Jasmin und entführte sie in ein Separee, um sie mit einer Abfolge von winzigen Köstlichkeiten zu überraschen und aus der Reserve zu locken. Er schenkte ihr nach, sobald sie einen Schluck getrunken hatte, er umschmeichelte sie, er bestach sie, er tat alles, um sie von Gabriel abzulenken, den er jetzt, da sein Bruder endlich in den Heimathafen eingelaufen war, doch nicht verlieren wollte. Es war, als würde er zwei Spielzeugboote mit einer Fernbedienung steuern, immer bemüht, eine Kollision zu vermeiden.

Julia genoss die Aufmerksamkeit der beiden Brüder, und sie genoss die Aufmerksamkeit der Stadt. Leute, die sie noch nie gesehen hatte, nickten ihr auf der Straße zu. Als sie feststellte, dass sie in den Geschäften der Innenstadt anschreiben lassen konnte, ohne irgendwelche Erklärungen liefern zu müssen, kleidete sie sich neu ein. Sie kaufte Taschen und Kleider, die sie nicht an Bord hatte nehmen können, Schuhe, die sie auf dem Deck nicht tragen durfte, Hosen und Hüte, die nicht in den Seesack gepasst hatten. Manchmal fragte sie Tovo, ob das in Ordnung sei, und manchmal Gabriel. Beide Brüder zuckten nur mit den Schultern und ließen es geschehen.

»Julia?«, fragte Gabriel. Er war gekommen, um sie zu einem Empfang im Rathaus abzuholen.

»Ja?«, antwortete sie aus dem Schlafzimmer. Sie zog gerade eins ihrer neuen Kleider an.

»Wenn du dich ein bisschen eingewöhnt hast«, sagte er, »ich meine, wenn du den festen Boden unter den Füßen spürst – dann denk mal darüber nach, ob du nicht im Hotel arbeiten willst.« Sie war immerhin Kellnerin gewesen, als er sie kennengelernt hatte.

»Ja, mal sehen«, sagte Julia. »Nimm dir keinen Drink mehr. Ich bin gleich so weit.«