45 · Gabriel

Marike ging nach dreiwöchiger Seereise in Nam Van von Bord, sie war zweiundzwanzig Jahre alt und schüchtern, und es kam ihr nicht in den Sinn, dass das Geläut der Kathedrale, das von dem leichten Wind, der bereits die Regenzeit ankündigte, bis zum westlich der Stadt gelegenen Überseeterminal getragen wurde, ihr gelten könnte. Ihre Erwartungen waren ganz von den Erfahrungen ihrer Tante Anna geprägt, die erzählt hatte, wie sie selbst beinahe dreißig Jahre zuvor im Schutz der Nacht in diese Stadt geschlüpft war, und wie sie sich acht Monate später in derselben Weise wieder davongestohlen hatte. Anna, die eben erst ihr goldenes Kleopatrakleid abgelegt hatte und von der Dampferbühne getreten war, deren Star sie tatsächlich gewesen war, hatte die Stadt mit eng gebundenem Kopftuch und einem grauen Reformkleid, das ihre Schwester in der Ausbildung genäht hatte, beinahe heimlich betreten. In der praktischen, aber unförmigen Seitentasche des Kleids steckte ein Zettel mit der Anschrift einer Pension am Corso.

Marike dagegen, die erster Klasse gereist war und soeben vom Kapitän persönlich verabschiedet wurde, wurde von einem geradezu barocken Aufgebot in Empfang genommen. Ihr in seidiges Dunkelblau gekleideter Verlobter stand, flankiert von zwei hübschen, weißbeschürzten Mädchen, am Kai, breitschultrige Kofferträger, mehr als für ihr bescheidenes Gepäck nötig gewesen wären, warteten auf ihren Einsatz. Im Hintergrund stand ein junger Fahrer neben einer schwarzen, in der Sonne blitzenden Limousine. Und während im Hafenbecken bunte Fische sprangen, als buhlten sie um den Ehrenplatz auf dem Hochzeitsbuffet, läuteten in den gedrungenen Türmen von Schanbrás die Glocken. Das von einer großzügigen Spende ausgelöste Geläut war der Auftakt zu einem Hochzeitsfest, das sich über mehrere Tage hinziehen und beinahe die gesamte Oberschicht von Nam Van in der ein oder anderen Weise erfassen sollte.

Vier Jahre zuvor hatte Gustavo das ummauerte, weitläufige Anwesen gekauft, das an die Pension angrenzte. Die Familie, die dort gewohnt hatte, hatte sich zerstreut, die jungen Leute waren nach Laguna gezogen, die alten konnten die Anlage nicht halten und zogen in eine moderne Wohnung am Stadtrand. Tovo hatte sowohl die Pension als auch die Villa abreißen lassen, um mit einem beträchtlichen Darlehen aus Laguna ein neunzehnstöckiges, den neuesten Standards entsprechendes Hotel hochziehen zu lassen, das die Stadt, ihren Hafen und tatsächlich die gesamte Bucht überstrahlte – einen leuchtenden Turm, der den Seefahrern Orientierung und den Reisenden Schutz bieten würde. Für das Restaurant hatte er die besten Köche der Stadt engagiert. So war er beinahe über Nacht zu einer der bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten dieser nach Geld, Macht und Gaumenfreuden gierenden Stadt geworden. Als unter dem Glockengeläut Gustavos blonde, jugendliche Braut von Bord ging, die er in einem exotischen Bergdorf auf sechstausend Fuß kennengelernt und umworben hatte, begriffen alle Anwesenden, dass sie das letzte und wichtigste Stück eines bunten und komplizierten Puzzles war, das Gustavo über den Zeitraum von mehreren Jahren zusammengefügt hatte.

Marike, überwältigt von dem Empfang, von der sich daran anschließenden opulenten Hochzeit, benötigte einige Monate, um in Nam Van Fuß zu fassen und sich in ihre neue Rolle einzufinden. Sie gewöhnte sich nur langsam an das scharfe Essen, sie lernte, mit der Hummerzange umzugehen und die Regenstürze zu beachten, die im Winter den Rhythmus der Stadt vorgaben. Sie ließ sich Kleider vorführen, und wenn sie etwas gefunden hatte, zog sie es an und schritt, anfangs noch ein wenig unsicher, die große Treppe hinab, die vom Mezzanin in die Lobby führte, wo sie von ihrem bereits wartenden Ehemann bewundert und von den Angestellten, die nicht verstanden, woher sie kam, ein wenig gefürchtet wurde.

Als sie mit Tovo schwanger war, ließ sie die Kleider im Schrank, zog sich zurück und erkundete die Stadt aus der luftigen Höhe des sechzehnten Stocks. Sie ließ ihre Bücher aus Geest kommen, schrieb Briefe an alte Freundinnen und betrachtete die Fischkutter, die am frühen Morgen mit weit ausgestellten Auslegern auf den Hafen zusteuerten, die winzigen Segelboote in der Ferne und die schweren, behäbigen Chuáns, die Menschen und Güter aus Laguna oder Sé brachten, wie sie es seit Jahrhunderten getan hatten. Der Blick vom Schlafzimmer in der oberen Etage ging nach Norden über das damals noch dörfliche Qianshan in die Hügel, die aussahen, als wollten sie, gigantischen Wellen gleich, jeden Augenblick über die Stadt hereinbrechen.

Marike flüchtete sich in den Alltag. Sie umsorgte und verwöhnte ihren kleinen Sohn, machte lange Spaziergänge mit dem Kinderwagen, kaufte ein und ließ sich das Tarot legen. Zu Hause notierte sie ein paar Zeilen für Anna, das Keltische Kreuz und ihre eigene Zukunft betreffend. Was sollte sie tun? Wie sollte sie lernen, mit diesem Mann umzugehen, der manchmal, so glaubte sie, schlicht nichts mit ihr anzufangen wusste? Wie konnte sie ihm zeigen, dass sie eigene Wünsche und eigene Vorstellungen hatte, die über die Repräsentationspflichten hinausgingen, die sie anfangs gern, später immerhin noch willig wahrgenommen hatte? Er behandelte sie kaum anders als die zahllosen Angestellten, die auf den Fluren, im Hof und in der Küche dieses Hotels herumliefen, jeder und jede mit einer eigenen, fest umschriebenen Aufgabe und Zuständigkeit. Nur schien er vergessen zu haben, wozu er sie, Marike, ursprünglich engagiert hatte.

Ein paar Mal versuchte sie, in der Wohnung zu kochen, doch es gelang ihr nicht, Gustavo für die Speisen, nach denen sie sich in ihrer ärmlichen Kindheit gesehnt hatte, zu begeistern. Die Eierstichsuppe rührte er nicht an, bei einem Quarksoufflé, das sie unter erheblichem Aufwand hergestellt hatte, runzelte er nur die Stirn. Selbst der gebratene Heringsrogen, mit dem sie aufgewachsen war, interessierte ihn nicht. Ihm fiel immer wieder eine neue Ausrede ein, warum sie ausgehen oder sich das Essen aus dem Restaurant heraufbringen lassen sollten, so lange, bis sie ihre Bemühungen einstellte. Die Suppe landete im Abfallzerkleinerer der kaum benutzten Küche, das Soufflé zerstampfte sie mit Milch und setzte es Tovo als Frühstücksbrei vor.

Abends gingen sie manchmal ins Kino. Doch jeder Film, den sie sahen, schien Marike auf schmerzliche Weise das eigene Leben widerzuspiegeln. Mal war dieses Leben zu einem Traum verzerrt, meistens aber zu einem Alptraum. Es war, als könnte der Blonde mit dem Poncho, der durch die Wüste ritt, genauso tief in ihr Herz blicken wie der dichtende Arzt, der mit besorgter Miene durch das vereiste Fenster schaute. Sie hieß Marnie oder Lara oder eben Marike, und wenn der Film zu Ende war und sie am Arm ihres Mannes auf die dunkle, feuchte Straße trat, musste sie sich beinahe körperlich schütteln, um die Namen loszuwerden, die wie Reispapier an ihr klebten, und Halt zu finden in der Wirklichkeit, in der sie lebt – einer Wirklichkeit, die von Sägern und Fischhändlern überlaufen war, einer Wirklichkeit, in deren Mitte ein goldener Turm aufragte mit einer über drei Stockwerke gehenden Eigentumswohnung und einer roten Drachenmaske, die ihr Angst machte.

Als sie mit Gabriel schwanger war, gewöhnte sich Gustavo an, nach dem Abendessen noch einmal auszugehen – um das Feld zu bestellen, wie er sagte, für seine Kinder, die eines Tages das Hotel und die Interessen der Familie übernehmen würden. Es sei wichtig, dass er sich zeige, dass er Verantwortung übernehme und Kontakte pflege, sie könne ihn ja, wenn es ihr wieder besser gehe, begleiten.

»Was heißt das, wenn es mir besser geht?«, fragte sie.

»Na ja, wenn das Kind da ist.«

»Ich bin schwanger, ich bin nicht krank.«

»So war das auch nicht gemeint.«

Sie schwieg.

»Willst du denn mitkommen?«, fragte er schließlich.

»Nein«, antwortete sie. »Geh du nur. Ich bin müde, ich ruhe mich aus.«

Er kam spät nach Hause und schlief in der Suite, um sie nicht zu stören. Wenn er am Morgen in die Wohnung kam, hatte sie mit Tovo bereits gefrühstückt. Ein Kindermädchen holte den Jungen ab, der es liebte, auf die Mole zu gehen und mit dem Stock in der Hand die herabstürzenden Vögel abzuwehren, während sich draußen in den Wogen gigantische Meeressäuger paarten. Marike blieb am Tisch sitzen, rauchte und blickte aus dem Fenster, und als ihr Mann hereintrat, sah sie ihn an und dachte: Was blitzt da auf in seinen dunklen Augen? Ist es Schalk, oder ist es Verachtung, oder ist es doch ein Rest des Feuers, das wir für Liebe hielten?