46 · Dita

Sie entdeckt sich im Fenster des Cafés, aber sie erkennt sich nicht wieder in der jungen Frau, die dort an dem wackligen Tischchen sitzt und in den Zitronenkeks beißt, der weich und buttrig auf ihren warmen, ungeschminkten Lippen zerfällt. Es war Anteos Idee, wieder in dieses kleine Café zu gehen. Das Plätzchen schmilzt auf ihrer Zunge, der Geschmack ist überwältigend in seiner Intensität. Benedita öffnet die Augen und sieht ihn an. Was ist das für ein Blick? Ist er amüsiert – oder verschreckt? Oder lacht er nur innerlich über den Satz des kleinen Mannes mit dem Zöpfchen, der die Plätzchen gebracht und behauptet hat, der Zitronengeruch würde die Säger vertreiben? Wenn das stimmte, würde die ganze Stadt nach Zitrone riechen, man würde die Straßen mit Zitrone spritzen. Was glaubt der kleine Mann? Dass er als Einziger ein Rezept gegen diese Plage hat? Sie schluckt, es war nicht ihre Absicht, den Priester zu verwirren, zu verstören. Oder doch? Sie weiß, wie sinnlich ihre Lippen sind, das haben ihr immer wieder Männer angedeutet oder rundheraus gesagt, die etwas von ihr wollten, nicht zuletzt Tobias, der sie abends, wenn er aus dem Kühllager des Milchgroßhandels kommt, mit kaltem, cremigem, ungesüßtem Joghurt füttert. Auch Beto, der Junge in Lascabanes, hatte volle Lippen, es war absurd, wie sie sich geküsst haben, sie hätten niemals mit den Zähnen aneinanderstoßen dürfen. Tobias leckt den Joghurtdeckel ab und legt ihn vorsichtig auf den Couchtisch. Er taucht den Löffel ein, führt ihn an ihren halb geöffneten Mund, sie spürt, dass er sofort und unbedingt mit ihr schlafen will, und dass er gleichzeitig den Abend in dieser Spannung und Erwartung verbringen möchte, die er kaum aushält, sie spürt die Dringlichkeit, den unbedingten Willen, es ist, als würde er versuchen, ihre Lippen herunterzukühlen und mit dem Geschmack des Joghurts zu neutralisieren. Sie setzt sich auf ihn, drückt ihn gegen das Sofa und nimmt ihm Becher und Löffel ab, sie wischt den Joghurt, der ihr über das Kinn läuft, mit dem Daumen fort. ›Pass auf, mein Pullover!‹ Diú, Tobias, du kannst froh sein, dass der Joghurt nicht in meinen Ausschnitt tropft. Ich könnte dich in den Wahnsinn treiben, wenn ich wollte, ich habe dich in der Hand. Willst du mein Freund sein? Du willst mein Freund sein? Du glaubst, du könntest mich halten? Mich glücklich machen? Du kennst mich nicht, Geester Junge, du weißt überhaupt nicht, was in mir steckt.

Sie hat die Haare gebunden und trägt ein weißes Hemd, ein Knopf mehr oder weniger, das merkt in dieser schwülen Stadt niemand, es macht keinen Unterschied, nicht einmal, wenn man einen Priester besucht. Sie trägt ein Kettchen mit einem emaillierten Anhänger, der einmal Anna gehört hat, das Herz mit den drei Schwertern.

Sie hat sich zu dem Ordenshaus fahren lassen, Ricardo wollte warten, aber sie hat ihn fortgeschickt. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Padre herunterkam. Sie hoffte, dass er sie hereinbitten würde, sie hätte sich gern seine Wohnung angesehen und die Kapelle, vielleicht hätte es sie an Badalamit erinnert, an die schönen Seiten, die das Internat eben auch hatte. Aber er ließ die Tür hinter sich zufallen und schlug vor, in das Café zurückzukehren.

Die Abendmeditation wurde in der Krypta abgehalten, die nach Kerzen und geöltem Balsam roch und selbst im Sommer angenehm kühl war. Sie murmelten das Abschlussgebet, Badal Amit, Ba Dala Padma Ata, Baal, schütze den König, Baal, schütze den König, Baal, schütze den König, bevor sie schweigend in ihre Häuser zurückkehrten. Es gab ein paar Seen in der Nähe, in heißen Sommernächten stiegen sie nachts aus dem Fenster, sie saßen am Wasser und tranken Kirschblütenschnaps aus der Flasche, und eine der Schwestern, mit denen sie am ersten Abend auf das Dach geklettert war, erklärte ihnen lallend, die Welt sei eine Blase, die aus einem See aufsteige, bis sie an der Oberfläche platze, das ganze Universum sei nur eine einzige, von der fauligen Wurzel einer Mummel aufsteigende Blase in einem See, und die Zeit sei eine Sekunde in einer Welt, die Millionen und Milliarden Jahre alt sei. Und auch diese riesige, Millionen und Milliarden Jahre alte Welt sei wiederum nur eine Blase, die aus einem noch viel größeren See aufsteige … ›Den Urknall kannst du vergessen, so etwas hat es nie gegeben‹, sagte das Mädchen, dann standen sie auf, zogen sich aus und rannten lachend und johlend ins Wasser.

Was ich von dir will, Anteo? Ich will, dass du mich an die Hand nimmst und in deine Klause, in dein hartes, schmales Bett zerrst. Nein, Padre, ich will, dass du mir sagst, was dort oben in den Hügeln, wo die Kabelbahn aufhört, auf mich wartet. Ich will, dass du mich herunterkühlst, dass du mich mit Joghurt fütterst, dass du mir die eisige Luft deines Glaubens ins Gesicht bläst.

Sie nimmt das nächste Plätzchen, es ist so weich, dass sie es mit den Lippen brechen kann. Sie erzählt ihm von dem Gespräch mit Gabriel, dass er versprochen hat, mehr in die nördlichen Viertel zu investieren, er habe sie sogar eingeladen, sich zu engagieren, was sie als Angebot verstanden habe, in die Stadt zurückzukehren und selbst tätig zu werden.

»Was heißt das, tätig zu werden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und hat er eine Summe genannt? Etwas Konkretes?«

»Nein.«

Der enttäuschte Blick, es tut ihr weh, sie weiß so gut wie er, dass es nur das vage Versprechen eines Politikers ist, sich zu kümmern, es wird Arbeitsgruppen und Ausschüsse geben, die sich mit dem Thema befassen, das dürfte ihn nicht überraschen. Natürlich kann ein Mann wie Gabriel nicht mit einem einzigen Handstreich die gesamte Stadt und ihre Finanzpolitik ändern, er braucht Studien, Vorlagen, Kommissionen und Beschlüsse.

»Er wird alt«, sagt Anteo. »Wenn er die Energie, die er damals auf den Containerterminal verwendet hat, in die Entwicklung der Vorstadt gelenkt hätte, würden wir hier im Paradies leben, die Leute würden aus Laguna kommen, um ihre Geschäfte zu eröffnen und Wohnungen zu kaufen.«

»Mag sein.«

»Willst du etwas Richtiges essen?«

»Nein.« Sie nimmt die Eiskarte, die in einem Metallständer steckt, und fächelt sich das Gesicht.

»Geht es dir gut?«

»Mir ist ein bisschen … heiß.«

Als das Taxi kommt, sieht er sie beinahe mitleidig an. Dann nimmt er sie doch noch in den Arm. Hat er etwas bemerkt? Hat er ihre Gedanken gelesen? Sie fährt ins Hotel, schaltet die Klimaanlage ein, legt sich ins Bett und drückt das Gesicht gegen das kühle Kissen. Am Abend isst sie mit Gabriel auf der Stardust. Nach dem Essen streckt sie sich auf der Bank aus, legt die Füße hoch und betrachtet den großzügigen, mit hellem Mahagoni ausgestatteten Innenraum. Der Sekundenzeiger einer Uhr tickt. Auf dem Navigationstisch liegen Requisiten, eine Seekarte und ein Heft mit Funknotizen, es sieht aus, als hätte er es für sie arrangiert.

»Wirst du noch einmal auslaufen?«, fragt sie.

»Du meinst, für länger?«

»Ja.«

»Vielleicht. Ich könnte dich abholen. Ich könnte nach Geest kommen und dich mitnehmen.«

Sie schweigt. Er steht auf, bringt zwei Gläser und eine Whiskeyflasche und schenkt ein.

»Ich habe dich auf der Festung angemeldet«, sagt er und reicht ihr das Glas.

Sie sieht ihn an.

»Vorsorglich. Der Besuchstag ist nur alle zwei Wochen. Du brauchst nicht hinzugehen, natürlich nicht. Aber du stehst auf der Liste.«

»Kommst du mit?«, fragt sie.

»Mal sehen«, sagt Gabriel. »Eigentlich ist das etwas, das du allein machen musst.«

Am Morgen geht sie schwimmen. Sie fährt im Bademantel nach oben und zieht das leichte Tunikakleid an, das sie im letzten Augenblick in den Koffer gestopft hat, dazu Tennisschuhe. Das Kleid ist ärmellos und kurz und poppig: orange mit einer breiten, fuchsiafarbenen Saumblende, Julia hätte ihre Freude daran. Sie würde den Kopf in den Nacken legen, die Augen schließen und das Gesicht in die Sonne halten, und dann würde sie beginnen, sich mit weit nach hinten gestreckten Armen um sich selbst zu drehen wie eine Tänzerin. Es ist ein Klischee, aber die Kamera liebt diesen Wirbel. Ein Hauch von einem Kleid, für einen Hauch von einem Menschen.

Benedita lässt sich ein Lunchpaket geben und steckt es in eine kleine hellblaue Umhängetasche. Sie winkt flüchtig, als sie durch die Lobby geht, und tritt auf den Corso. Am Heong Tou Café biegt sie rechts ab. Sie folgt der Straße und quert den Ring über eine mit hohen Gittern geschützte Brücke. Sie lässt sich treiben, verliert sich in den Gassen von Qianshan. Sie weiß noch nicht, ob sie tatsächlich bis zur Festung gehen wird, das einzige, was sie weiß, ist, dass sie die Innenstadt verlassen und aus dem Schatten des Majestic heraustreten musste. Sie dreht sich um, die Sonne scheint ihr ins Gesicht. Dort ist das Haus, in dem die Padres wohnen. Unten die Stadt, das wunderbar hässliche Rathaus an der Promenade, die lange, weit ins Meer reichende Mole. Ein Fingerzeig. Das Hotel fügt sich in das Raster der Stadt und überschattet das alte Marktviertel mit seinen schmalen Gassen. Sie erinnert sich gut an Gabriels karge Wohnung. Er war längst eine bekannte Persönlichkeit in dieser Stadt, aber er lebte wie ein Zwanzigjähriger, ein Futon auf dem Boden, ein paar Stühle, eine winzige Küche.

Sie geht weiter, folgt den in die Straße eingelassenen Gleisen, und als sie das Rumpeln der Kabelbahn hört, dreht sie sich um. Sie wartet und springt auf. Sie steht auf der Plattform und hält sich fest, der heiße Wind bläst ihr ins Gesicht. Als die Straße flacher und der Wagen entkoppelt wird, steigt sie ab. Ein Dunstschleier liegt über den Hügeln. Die Sonne wird ihn abbrennen, bis sie oben ist.