47 · Gabriel

Er soll zwischen Limba, Alerce und Mahagoni entscheiden, am liebsten gleich. Auf dem langen Tisch liegen Holzmuster und Konstruktionszeichnungen seiner neuen Jacht, Blaupausen des Innenausbaus im Verhältnis eins zu zwanzig. Er tippt auf das weiße Mahagoni, die Bootsbauer nicken.

Ein Praktikant kommt und bittet ihn ins Büro, jemand versuche ihn zu erreichen, das Hotel Majestic in Nam Van. Gabriel fragt sich, was so wichtig sein kann, dass sie ihn in der Werft anrufen. Er geht hinter dem jungen Mann die Stahltreppe hinauf und tritt in das nach drei Seiten verglaste, wie ein Schwalbennest unter der Hallendecke klebende Büro. Der Praktikant bringt Kaffee, Gabriel bedankt sich, der Löffel klingelt, als er den Zucker einrührt. Jetzt erst nimmt er den Hörer.

Melanie, die neue Rezeptionistin, stottert, es tut ihr leid, dass sie ihn stört, im Rathaus hat sie erfahren, dass er in Laguna ist, sie hat den Namen der Werft ausfindig gemacht, im Telefonbuch nachgesehen und angerufen …

Warum erzählt sie mir das alles?, denkt er. Warum ist sie so fahrig und wirr? Er hat sie erst vor wenigen Wochen eingestellt, sie hat Buchhaltung gelernt, er mochte ihre Stimme, ihre gepflegte Erscheinung und den kurzen Bob, eine perfekte Besetzung für die Rezeption. Im Gespräch war sie ruhig und ein wenig unterkühlt, auch das gefiel ihm. Jetzt ist sie völlig außer sich, sie schnappt nach Luft.

»Beruhigen Sie sich, bitte. Dann sagen Sie mal, was ist denn passiert?«

Er steht, die linke Hand in der Tasche, an der verglasten Wand und sieht hinunter. Der offene, zweiundvierzig Fuß lange Rumpf beherrscht die Halle. Die Bootsbauer haben sich wieder über die Zeichnungen gebeugt.

»Ihr Vater, ihr Vater …«

»Was ist mit meinem Vater?« Er hört Stimmen, vermutlich die Gäste, die sich in der Lobby zum Mittagessen versammeln. Es ist nicht das erste Mal, dass Gustavo verschwunden ist, sie haben ihn ein paar Mal suchen lassen, als er noch durch die Stadt gelaufen ist. Aber jetzt sitzt er im Rollstuhl, er kommt ohne Hilfe überhaupt nicht mehr aus dem Haus.

»Melanie, was ist? Was ist mit meinem Vater?«

Sie atmet heftig, er hört sie schlucken, ihre Stimme versagt.

»Was ist passiert, Melanie?«

»Ihr Bruder, er wurde ab, er wurde abgeführt, das ganze Haus ist voller Polizei …«

»Tovo? Abgeführt? Was ist denn los?«

»Ihr Vater ist …«

»Was?« Gabriel ist unwirsch und ungeduldig, es tut ihm leid, aber er will jetzt endlich wissen, was passiert ist.

»Ertrunken?«, sagt sie leise.

»Ist das eine Frage?«

Schweigen. Die Leitung gluckert, sie sprudelt, es klingt, als würden tausend winzige Blasen platzen.

»Melanie!«

»Ja?«

»Ist er ertrunken? Ist er tot?«

»Ja.«

Was soll er dazu sagen? Wenn es wahr ist? Was soll er sagen, wenn es nicht wahr ist? Damit hat sie bestimmt nicht gerechnet, als sie sich auf diese Stelle beworben hat. Dass sie einen solchen Anruf machen muss. Am Kaiserhof wurden die Überbringer solcher Nachrichten erschossen, das ist noch gar nicht so lange her. Was ist passiert? Was ist denn eigentlich passiert? Ist er an die Mole …? Wie fährt man mit einem Rollstuhl über Basaltsteinpflaster? Unmöglich. Und wo ist Tovo? Hat sie nicht gerade gesagt, dass die Polizei …

»Und was … was ist mit meinem Bruder? Warum wurde er abgeführt?«

»Ich glaube, Sie kommen am besten gleich nach Hause. Ich weiß nicht, was wir machen sollen. Die Gäste fragen, und wir wissen nicht, was wir ihnen sagen sollen.«

»Stellen Sie mich in die Wohnung durch.«

»Es ist niemand da. Wir haben Ihre Schwägerin noch nicht erreicht.«

Als er anderthalb Stunden später ins Hotel tritt, scheint auf den ersten Blick alles normal zu sein. Ein junger Mann sitzt auf seinem Koffer. Die Rezeptionistin kommt Gabriel entgegen. Sie erklärt ihm, jetzt etwas ruhiger, was geschehen ist, sie sagt, Tovo habe seinen Vater zum Pool gebracht, dort sei Senhor Gustavo, ja, offenbar ins Wasser gestürzt, ein Unfall vielleicht, ja, sicherlich ein Unfall.

»Mein herzliches … Beileid? Wir sind alle ganz … erschüttert?«

Er wundert sich über diese Intonation und dankt und nickt in Richtung der Rezeption, wo sich einige Angestellte versammelt haben. Seine Schwägerin sei mit dem Kind und dem Kindermädchen inzwischen in der Wohnung, sagt Melanie, er gehe am besten gleich hinauf.

Julia steht am Fenster, ein Weinglas in der Hand. Als Gabriel eintritt, stellt sie das Glas ab und geht auf ihn zu. Im selben Moment kommt ihm aus der anderen Richtung Benedita entgegen, sie will ihm etwas zeigen, etwas Schimmerndes, aus Perlmutt, einen Kamm vielleicht oder eine Muschel.

»Gehen Sie mit ihr nach oben, bitte.« Das Kindermädchen hebt Benedita auf und trägt sie aus dem Zimmer.

»Stimmt das?«, sagt Gabriel und nimmt Julia in den Arm. »Er ist ertrunken?«

»Tovo …«

Gabriel schiebt sie von sich, hält sie mit gestreckten Armen an den Schultern fest und sieht ihr in die Augen.

»Was hat er getan?«

»Hast du schon mit der Polizei – ?«

»Nein. Ich bin gleich hochgekommen.« Sie ist ganz weich, als müsste sie in seinen Händen zerrinnen.

Mehr weiß sie nicht. Ricardo ist auf der Wache. Es gibt Fragen, es ist unklar, ob sie Tovo heute noch gehen lassen werden. Er braucht einen Anwalt. Gabriel lässt Julia los. Er geht zum Telefon, wählt die Nummer seines Büros und erklärt, was passiert ist. Als er aufgelegt hat, nimmt er Julias Glas und sieht hinaus auf den Hafen. Julia sitzt reglos auf dem Sofa, ihre Augen sind halb geschlossen. Das Telefon klingelt, Gabriel nimmt den Hörer ab.

»Warten Sie, ich schreibe es mir auf«, sagt er. Er öffnet die Schublade des winzigen, viel zu niedrigen Telefontischchens, kramt Stift und Zettel heraus.

»Chawi? Und weiter?«

Der Anwalt hat offenbar nur einen Namen, Gabriel kniet auf einem Bein, er muss den Zettel mit dem Ellbogen festhalten, um die Telefonnummer zu notieren, die seine Büroleiterin herausgesucht hat.

Er besteht darauf, dass Julia mit Benedita und dem Kindermädchen in der Wohnung bleibt, er wird sich um alles kümmern. Als er auf die Wache kommt, ist Chawi schon da. Wer ist dieses seltsame, alte Kind? Gabriel schüttelt den Kopf, nicht über den Mann, sondern über seine Büroleiterin. Konnte sie niemand anderen finden? Der Anwalt führt ihn zu einer Bank, sie setzen sich, Chawi hat alles in Erfahrung gebracht. Sie gehen davon aus, dass er seinen Vater ins Wasser gestoßen hat. Gabriel lacht laut auf.

»Warum lachen Sie?«, fragt der Anwalt.

»Egal, oder?«, sagt Gabriel. »Es geht ja nicht um mich.« Er steckt sich eine Zigarette an, stützt sich auf die Oberschenkel und betrachtet die Maserung des Dielenbretts zwischen seinen Schuhen. Das kann nicht sein, oder? Wäre Tovo zu so etwas fähig? Er erinnert sich beinahe körperlich daran, wie ihn Tovo nach der Bestattung ihrer Mutter unter Wasser gedrückt hat, länger als sonst, sein Körper rang und kämpfte, als ginge es ums Überleben. Aber sein Geist war ruhig. Er hatte keine Angst. Sein Bruder war nicht fähig zu töten.

Als er wieder aufsieht, steht Ricardo vor ihm, erschüttert. Er wirkt um Jahre gealtert, er ist wie eingefallen. Sie können Tovo heute nicht mehr sehen, sagt er. Nur der Anwalt darf noch rein. Als sie später zum Majestic zurückfahren, ist es Gabriel, der sich ans Steuer setzt. Ricardo sitzt auf dem Beifahrersitz und weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Er scheint der Einzige zu sein, der wirklich um Gustavo trauert.