Ein Karren liegt auf der Seite, Scherben und Plastikteile werden zusammengekehrt, ein Arbeiter schaufelt Sand auf Blut und Ölspuren. Eine kleine alte Frau steht, auf einen Strohbesen gestützt, vor ihrem Haus. Sie winkt Benedita heran. Offenbar hat es einen Büffel erwischt, er musste auf der Kreuzung notgeschlachtet werden. Benedita hat Mühe, den Dialekt der Frau zu verstehen. In ein paar Tagen wird das Fleisch an den Essensständen auftauchen, die am Abend die Bürgersteige von Qianshan füllen, man wird es mit Chili und gehacktem Chapatti servieren, mit Ei und Garnelen, sogar mit Julu, sie werden jeden letzten Fetzen dieses Büffels verwerten, von der Zunge bis zu den Hoden. Benedita sehnt sich zurück nach Geest, nach der modernen, gut ausgestatteten Bibliothek, in der sie einen festen Platz hat. Sie kommt pünktlich um neun, schlägt ihr Anatomiebuch auf und notiert auf einem linierten Schreibblock: Larynx, Musculus thyreoarytaenoidus. Wenn sie Durst hat, trinkt sie aus einer klaren Flasche, nichts anderes ist im Lesesaal erlaubt, sie schluckt, das Wasser rinnt ihr kühlend durch die Kehle. Mittags trifft sie sich mit ihren Kommilitoninnen in der Mensa. Das Essen ist hell und ein wenig fade, es gibt Reis und Hühnerfrikassee auf weißen Tellern, die vier, fünf Erbsen in der Sauce wirken, als hätten sie sich verirrt. Alles ist vorhersehbar, alles ist überschaubar. Überraschungen sind nicht vorgesehen. Gerade deshalb kann sie sich auf das Wesentliche konzentrieren, auf das, was ihre Aufgabe und Arbeit ist. Nur unter diesen Bedingungen kann sie eine ruhige Hand behalten, wenn sie das Skalpell führt.
Und hier? Wie soll man in dieser Stadt einen klaren Gedanken fassen? Feuchte Hitze drückt auf Qianshan wie ein schweres Kissen. Ein apokalyptisches Bild: Der Büffel liegt auf der Kreuzung. Rote und weiße Scherben, die Motorhaube ist hochgeknickt, der Kühlergrill verbogen und verschmiert. Blut und Öl vermischen sich zu einer schwarzen Emulsion und bahnen sich einen Weg durch den Staub. Der Büffel brüllt vor Schmerz, bis endlich der Schlachter kommt. Die Gummihandschuhe reichen ihm bis zu den Ellenbogen. Er rollt eine Ledermappe voller Messer aus, legt sie neben sich auf den Boden. Ein einziger, tiefer Schnitt, die Klinge dringt durch Halshaut, Halsschlagader, Luft- und Speiseröhre, Nervenstränge und Muskeln. Das Blut sprudelt heraus, das mächtige Tier zuckt. Später kommt der Wagen mit der Seilwinde, zwei Männer stehen sich an der Handkurbel gegenüber, sie schwitzen und fluchen, bis der Kadaver auf der Pritsche liegt. Wie soll man in einer Stadt, in der so etwas passiert, die Ruhe bewahren?
Die alte Frau bittet sie um einen Gefallen, sie redet mit Händen und Füßen. Auf dem staubigen Boden liegt eine Stange, an der eine Wäscheleine befestigt ist. Benedita hebt sie auf, streckt sich und drückt, bis die Stange in eine Halterung an der Hauswand rutscht. Die alte Frau verschwindet im Eingang und kehrt mit einer Schale Tee zurück. Benedita trinkt im Stehen, verabschiedet sich mit einer Verbeugung und geht weiter.
Die Häuser von Qianshan wirken, als hätte man vergessen, sie zu Ende zu bauen, nur die Erdgeschosse und die Eingänge mit ihren winzigen, pagodenartigen Vordächern sind gekachelt. Sie leckt Blut von ihrem Zeigefinger, sie hat sich an der rostigen Halterung geritzt, ohne es zu bemerken. Weiter oben wird die Bebauung flacher, die Straße weitet sich, der Bürgersteig verschwindet. Unbefestigte Wege führen von der Hauptstraße ab, verlieren sich in der Böschung. Schließlich endet der Asphalt, der Weg führt durch einen hohen Bambushain, bis sich der Blick öffnet. Sie ist dankbar für das leichte Kleid. Der Nebel ist verschwunden, der Himmel sticht blau hinter den Hügeln hervor. Es gibt kaum noch Schatten. Nach einer guten Stunde setzt sie sich auf einen mit Flechten bewachsenen Felsen, um die Steinchen aus den Schuhen zu schütteln. Als sie die Schnürsenkel löst, öffnet sich der Schnitt am Zeigefinger. Sie leckt ihn ab und zieht vorsichtig den Reißverschluss ihrer Umhängetasche auf. Das Plastik ist weich, die Sonne hat ihr auf den Rücken gebrannt. Sie zieht das Päckchen heraus, legt es auf den Schoß, riecht daran. Fischhack. Sie legt das Sandwich mit dem Papier auf den Boden. Ein Makak wird es finden, denkt sie. Sie macht niemandem einen Vorwurf, sie hat nicht gesagt, wohin sie geht und wie lange sie unterwegs sein wird. Sie wusste es ja selbst nicht.
Die Containerschiffe sehen aus wie Spielzeug, am Hafen tanzen die Kräne, die Drachenbrücke scheint zu kippen. Sie trinkt aus der mitgebrachten Flasche. Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie den Zug aus Laguna. Sie wischt sich mit dem Handrücken die Stirn ab. Weit unter sich entdeckt sie die Straße, die zur Festung Gaolung führt. Sie könnte absteigen und versuchen, einen Bus oder ein Taxi anzuhalten. Sie müsste den Höhengewinn aufgeben, sie wäre umsonst hier hinaufgekraxelt. Will sie sich etwas beweisen? Vielleicht. Will sie ihren Vater sehen? Eher nicht. Mag sein, dass sie Tobias von diesem Aufstieg erzählen will, der mit seinen Freunden die abenteuerlichsten Bergwanderungen macht.
Sie geht mit kraftvollem, stetigem Schritt bergauf, ihre Kondition ist gut, aber es pocht ihr an den Schläfen, ein Druck hat sich in ihrem Kopf aufgebaut, den sie so nicht kennt. Hellgrüne, staubige Blätter flirren, ein Zitronenfalter taumelt von Strauch zu Strauch. Der Weg ist kaum noch zu erkennen. Über ihr liegt eine steile Schutthalde, darüber ein Kamm, sie hofft, dass es der letzte ist. Mit dem Geröll hat sie nicht gerechnet, auch nicht mit dieser Art von Steigung. Sie sieht auf ihre verschmutzten Tennisschuhe und beginnt hinaufzugehen. Langsam, vorsichtig, wenn sie hier abrutscht und mit dem Fuß umknickt, wird sie allein nicht wieder hinunterkommen. Steinmännchen kennzeichnen den Weg. Wer ist hier zuletzt vorbeigekommen? Wer hat den letzten Stein auf die Pyramide gelegt? Es muss der Weg sein, den die Ausbrecher nehmen, denkt sie und stellt sich vor, wie sie auf dem Hosenboden herunterrutschen, während in der Ferne Hunde bellen. Der Alarm jault, unten warten die Komplizen, die sie im Bauch eines Chuáns von der Insel schmuggeln und nach Laguna oder Sé bringen werden, vielleicht auch der Priester, dessen etwas zu großes Herz auch für diese Sünder schlägt.
Ihr ist schwindlig. Sie muss immer wieder die Hände zur Hilfe nehmen, Steine lösen sich unter ihren Schuhen, sie rutscht ab, die Steine rollen und springen den Hang hinab, klack-klack-klack, bis sie weit unten zum Stillstand kommen. Sie wollte nicht hier hinauf, aber irgendetwas treibt sie weiter, ihr Wille hat sich verselbständigt, er ist ein kompakter, kräftiger Motor in ihrem Inneren, der läuft und läuft, beinahe als hätte sie nichts damit zu tun. Langsam nähert sie sich dem Kamm. Noch ein paar Schritte, dann hat sie es geschafft. Flutlichtanlagen und Antennen kommen zum Vorschein, dann die modernen, rot-weißen Wachtürme, auf denen sie montiert sind. Schließlich schält sich auf der Gegenseite einer weiteren Senke die Festung aus der Landschaft heraus. Der riesige, sandfarbene Wall, die massiven Bastionen ragen wie mächtige Schiffsbuge aus dem Fels.
Sie setzt sich, umfasst die nackten Knie. Sie hätte wenigstens eine feste Hose anziehen sollen. Auf Stirn und Armen brennt Salz. Die Wasserflasche ist leer. Ein feiner, staubiger Dunst liegt auf dem Tal. Sie hat das Gefühl, die Landschaft von unten und oben zugleich zu sehen, von nah und von fern. Ihre Perspektive hat sich gelöst, sie sammelt Bilder und setzt sie neu zusammen wie ein Insekt. Die Festung ist ein gigantisches Luftschiff, eine fliegende Insel, die sich eben erst auf die Hügel gesetzt hat. Sie ist auf Grund gelaufen. Gleichzeitig ist es, als wäre der felsige Hang im Begriff, den Komplex, den er sich einverleibt hat, zu entlassen, es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die Festung freikommt, um in den schmerzhaft blauen Himmel aufzusteigen. Das Land löst sich, denkt Benedita, die Spitze wie ein Bug, Lascabanes ist in See gestochen.
Dort, in einem dieser Gebäude, hinter einer dieser Mauern, sitzt ihr Vater. Ihr Vater? Sitzt? Was tun Gefangene, wenn sie nicht sitzen? Geht er in seiner Zelle auf und ab? Sieht er in einem spärlich möblierten Gruppenraum fern? Ist er allein? Liest er? Wofür interessiert er sich? Sie weiß nicht, wofür sich Tomás Gustavo Chou da Luz interessiert, der Mann, der in ihrer Geburtsurkunde als ihr Vater eingetragen ist. Haben sie ihm angekündigt, dass sie zu Besuch kommt? Wie hat er reagiert? Was macht sie überhaupt hier oben? Hätte sie sich früher um ihn kümmern müssen?
Sie war sechs oder sieben, als Julia sie zum letzten Mal mitgenommen hat, sie erinnert sich nur noch an den Geruch, das Licht, das durch die vergitterten Fenster brach, an die tiefe Stirn dieses Mannes, der ihr fremd war. Später meinte Julia, Gaolung sei kein Ort für ein Kind, und nahm sie nicht mehr mit. Hätte sie sich darum bemühen müssen? Hätte sie ihre Mutter überzeugen müssen, dass sie reif und gefestigt genug war, um durch das große Tor zu treten und den Anblick ihres Erzeugers zu ertragen?
»Mache ich mich schuldig, wenn ich ihn nicht liebe?«, fragte sie einmal Ricardo. »Weil er doch mein Vater ist?« Ricardo sah sie an, sie war zwölf, und schüttelte den Kopf.
»Wie kannst du so etwas denken?«
Es war die Antwort, die sie erwartet hatte. Sie holte sich die Bestätigung ein, die ihr beinahe sicher war. Sie wusste, dass Ricardo, der seine Meinungen, Vorstellungen und Wünsche nur selten und äußerst vorsichtig zum Ausdruck brachte, der Einzige war, der das Urteil der Richterin akzeptiert hatte.
Sie ist niemandem etwas schuldig, am wenigsten ihren Eltern. Ihre Aufgabe, ihre erste und oberste Pflicht ist es immer gewesen, sich zu lösen und einen eigenen Weg zu finden. Je früher, desto besser. Es ist, als hätte sie schon mit zwölf das Mäppchen geöffnet, um die Zehnerklinge herauszuziehen und diese sauberen, klaren Schnitte in die tote Haut zu machen, immer wieder, bis der Kehlkopfschnitt sitzt. Gebt mir mehr Material! Gebt mir mehr Material! Sie hat gelernt, die Stimme zu erheben. Vielleicht hat sie überhaupt niemanden gebraucht. Sie ist ihren Weg gegangen. Manchmal hat es ihr Angst gemacht, diese Einsamkeit.
Gabriel muss klar gewesen sein, dass sie nur ein Ziel brauchte, um loszulegen, und wenn sie ihn gefragt hätte, hätte er ihr vermutlich eines angeboten. Er hätte ihr nach der Schule eine Stelle in irgendeinem Senatsbüro besorgt, um sie nach seinem Abbild zu formen. Er hätte ihr das Segeln beigebracht oder sie auf irgendeine Sportschule geschickt, weil sie im Wasser eine Naturgewalt war. Profisportlerin? Das war sie nicht, ganz bestimmt nicht. Das war nicht der Weg, den sie gehen sollte.
Er hat ihr nicht geholfen. Sie kam nach Badalamit, das Problem war gelöst. Gabriel hat sich hinter Julias Entscheidung versteckt. Niemand war bereit, Verantwortung für sie zu übernehmen. Julia? Sie wollte nur sich selbst finden, und zwar im Spiegel einer Kameralinse, in den großen, glänzenden Augen ihrer Schwester Rita. Julia ist feige, sie weiß überhaupt nicht, was es bedeutet, sich aus eigener Kraft aus diesen Zusammenhängen zu lösen. Oder doch? War sie nicht selbst eines Tages an Bord der Stardust geklettert? War es vielleicht doch mehr als eine Laune gewesen?
Warum hat Tovo von all den Frauen, die er damals verführt und vielleicht sogar geliebt hat, ausgerechnet sie gewählt? Benedita hat immer den heimlichen Wunsch gehegt, Gabriel könnte ihr Vater sein, manchmal wünscht sie sich, er hätte sie einfach belogen, statt die bittere Wahrheit zu sagen. Er hätte ihr ein neues Leben schenken können. Er hätte sie von einer Bürde befreit. Mit einer einzigen Lüge, die niemanden wehgetan hätte.
Tovo wusste, wie unzuverlässig Julia war, wie flatterhaft und unernst, und gerade mit ihr hat er eine Familie gegründet. Was hat er sich dabei gedacht? Das Einzige, was ihn interessierte, waren seine eigenen Abgründe. Tovo, der dort drüben hinter einer meterdicken historischen Mauer sitzt – sitzt? – hat Gustavo hinuntergestoßen, er hat damals sein wahres Gesicht gezeigt. Möglich, dass es ihm gar nicht um die Frau aus Spanish California ging, vielleicht wollte er sie Gabriel nur abjagen, um ihn zu demütigen und auf seinen Platz zu verweisen. Womit er nicht gerechnet hat, war, dass Gabriel sie ihm kampflos überlassen würde. Er tat, als sei es ihm egal. Er kehrte in die Stadt zurück, kümmerte sich um sein Boot, organisierte sein Büro und mischte sich in die Politik ein. Spät am Abend kehrte er in seine Junggesellenwohnung zurück, legte sich auf den schmalen Futon und dachte über seine nächsten Schritte nach. Wenn Tovo am nächsten Morgen zum Friseur ging und die Zeitung aufschlug, las er, was im Rathaus beschlossen worden war, und er versuchte zu verstehen, wie das, was sein Bruder tat, ihn und die Jasmin betreffen würde.
Ein dünner Trampelpfad windet sich hinab in diese letzte Talung. Ihr ist schlecht. Sie läuft und schneidet Serpentinenschlaufen ab, sie rutscht einige Male, fängt sich immer wieder, bis sie schließlich stürzt. Über ihr die Festung, der Wall, die Bastionen. Sie steht auf und klopft das Kleid aus. Ein grünes Schild mit einer Warnung: Sicherheitszone. Der Weg führt rechts hinauf und mündet in eine schmale, in den Felsen gehauene Treppe. Oben steht Gabriel. Mit letzter Kraft schleppt sie sich über die unregelmäßigen Stufen hinauf zur Straße. Sie hat blutige Schrammen am Bein, die Hände sind schmutzig, das Blut an ihrem Zeigefinger ist schwarz geronnen.