»Hast du den Geburtstag deiner Tochter vergessen?« Julia ist überrascht, von ihm zu hören.
»Ich habe in Geest angerufen«, sagt sie irritiert. »Niemand ist drangegangen.«
»Weil sie hier ist, hier bei mir. Hat sie das nicht erzählt?«
»Nein.«
»Und jetzt?«
»Gib ihr einen Kuss von mir. Sag ihr, dass ich sie liebe.«
»Wir haben die Jasmin überführt«, sagt Gabriel nach einer Pause. »Sie wird abgewrackt, wahrscheinlich haben sie schon angefangen, sie zu zerlegen.«
»Abgewrackt?«
»Ja. Niemand wollte sie haben. Wir haben die ganze Zeit den Liegeplatz bezahlt. Es sind eine Menge Leute gekommen, um sie zu verabschieden.«
»Ich weiß noch, wie Tovo damals auf das Schiff gezeigt hat«, sagt sie. »Dieses seltsame, unmögliche, hässliche Ding. Wie stolz er war. Wir saßen im Hafen in deinem Cockpit, er war so ein Aufschneider, und gleichzeitig so charmant.«
»Du warst neunzehn. Du warst jünger, als Benedita jetzt ist. Sie ist einundzwanzig geworden.«
»Ich weiß.«
»Sie gilt jetzt als volljährig, selbst hier in Nam Van.«
»Ich weiß.«
»Ich habe sie bei Tovo angemeldet.«
Julia schweigt. Sie hat sich nie geäußert, wenn es um sein Verbrechen ging, um das Urteil oder die Haft. Sie hat keine Haltung dazu, sie hat nie gesagt, wie sie zu Tovo steht, mit dem sie tatsächlich noch immer verheiratet ist. Sie hat ihn anfangs noch besucht, obwohl sie sich wenig zu sagen hatten. Nach ein paar Jahren wurden ihre Besuche seltener, und sie nahm Benedita nicht mehr mit. Schließlich verschwand sie nach Spanish California, richtete sich in der Villa ihrer Schwester in Serena ein.
»Bist du noch da?«
»Ja.«
»Willst du nicht wissen, warum ich sie auf der Festung angemeldet habe?«
»Nein. Doch. Warum?«
»Weil sie begreifen muss, woher sie kommt. Wir haben sie alle im Stich gelassen. Du hast sie im Stich gelassen. Tovo hat sie im Stich gelassen. Ich auch. Ich begreife jetzt, wie verloren sie ist. Sie hat keinen Platz in dieser Familie, in dieser Stadt, in dieser Welt. Sie weiß überhaupt nicht, wohin sie gehört.«
»Dita wird schon ihren Weg finden«, sagt Julia. »Sie ist eine Selbstläuferin.«
Er verlässt das Büro und fährt mit dem Aufzug nach unten. Die Rathauslobby ist leer, die Promenade ist voller Menschen und Vögel. Er tritt hinaus, ihm ist, als müsste er mit den Armen um sich schlagen, um sich einen Weg zu bahnen und in der Menge nicht unterzugehen. Selbstläuferin. Das Wort lässt ihn nicht los, es ist die gleiche Vokabel, die sein Vater einmal auf ihn selbst angewandt hat, Gustavo, der die Sprache einsetzte wie eine Waffe. Wie kam er darauf? Wie kommt Julia darauf? Bedeutet es, dass man jede Verantwortung von sich weisen kann? Dass man von jeder Aufgabe entbunden ist? Hat sie vielleicht sogar recht? Haben sie alles richtig gemacht, indem sie sie im Alter von fünfzehn Jahren, eigentlich sogar schon früher, sich selbst überlassen haben? Benedita ist eine wundervolle junge Frau, die ihren Weg gehen wird. Aber ist sie glücklich? Warum ist sie so weich und willenlos, wenn sie an seiner Schulter lehnt? Warum ist sie so besessen von den dunkelsten Kapiteln der Familiengeschichte? Warum stochert sie im Unglück? Und vor allem: Warum bekennt sie sich nicht zu dem Mann, der ganz offensichtlich ihr Freund ist?
Er kauft die Zeitung und geht die Treppe hinauf zum Büro des Hafenmeisters, das gleichzeitig als Lotsenstation dient. Er grüßt, nimmt einen Becher Tee und setzt sich auf einen der hohen Drehstühle. Auf der Konsole unter den sturmsicheren Fenstern sind Radarschirme montiert, der Seefunk knackt, es ist, als würde man auf der Kommandobrücke eines Hochseefrachters sitzen. Nur das Schiff unter ihnen fehlt, die Staufläche, die Kräne und Container, der Bug, der in die Wellen taucht. Bald, in ein, zwei Wochen schon, wird die Saison beginnen. Der Westwind wird zurückkehren, er wird den Gestank aus den Gassen blasen, den Geruch von Julu und fauligen Algen, er wird die klebrige Luft erneuern, die seit Wochen und Monaten auf die Stadt drückt, und die Segel der Jachten füllen.
»Warum ist die Reede so voll?« Gabriel sieht den Hafenmeister an.
»Es sind mehr, als sie erwartet haben, einige Containerschiffe wurden aus Sé und Laguna umgeleitet.«
»Wie lange werden sie brauchen, um den Stau zu lösen?«
»Zwei Tage, höchstens.«
Der Hafenmeister, der zugleich den Vorsitz im Segelclub hat, bedankt sich für sein Engagement. Gabriel hat sich immer zurückgehalten, wenn es um Posten und Aufgaben im Segelclub ging, jetzt hat er sich doch überreden lassen, die Jugend zu übernehmen. Sie segeln noch immer Contender, nur die Ehrgeizigsten steigen auf die olympischen Klassen um. Eigentlich ist es Gabriel zu viel. Er möchte mit seinem kleinen Stab einen Investitionsplan für Qianshan und die nördlichen Viertel entwickeln, das braucht Zeit, und es braucht Kraft. Er wird den Priester in die Kommission berufen, das hat er Benedita versprochen. Wenn sie nur bleiben würde, um ihn zu unterstützen! Sie könnte in das Unternehmen hineinwachsen. Vielleicht könnte sie hier glücklich werden.
Sie wird ein paar Jahre brauchen, bis sie übernehmen kann, denkt er, fünf oder zehn Jahre vielleicht, dann ist er sechzig, dann kann er auslaufen, wann er will, und am Wochenende die Jugendlichen trainieren. Aber sie will Ärztin werden, und sie hat diesen Freund. Sie will etwas tun, das mit ihrer Familie und ihrer Herkunft nichts zu tun hat. Nur mit Janne identifiziert sie sich, mit dieser harten, bitteren Frau, die mit hundert Jahren gestorben ist und ihr das Haus vermacht hat, um das sie jahrzehntelang mit ihrer Schwester gestritten hat. Es ist, als wollte Benedita die Familiengeschichte von hinten aufrollen. Als wollte sie selbst verstehen, an welchem Punkt die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind. Sie sucht die Ursünde. Sie kramt in den Schubladen, liest Jannes Scheidungsakte, sie legt das Tarot mit umgekehrten Karten. Er hat nie herausgefunden, wer Marike das Seil gebracht hat.
Im Hotel erfährt er, dass Benedita nicht mehr da ist. Sie ist allein aufgebrochen, zu Fuß, nur mit einem kleinen Lunchpaket und einer Flasche Wasser. Er geht in den Hof und sucht Ricardo, findet ihn aber nicht. Er lässt sich einen Wagen geben, fährt vorsichtig hinaus und biegt nach links ab. Der Wagen ist so klein, dass seine Knie ans Armaturenbrett stoßen. An der Auffahrt zur Ringstraße staut sich der Verkehr. Er trommelt auf das Lenkrad, schaltet die Klimaanlage ein und schließt die Fenster. Plötzlich sieht er sich wieder auf dem Steg in Levuka, und er hört die Kinder, die um ihn herumtanzen, während Suva ihm Bart und Haare schneidet. Er hat die Freiheit getrunken wie Kokoswasser, es war die schönste Zeit seines Lebens.
Endlich geht es weiter. Er fährt durch die engen Straßen von Qianshan, es geht langsam voran. Schrotthändler und Flaschensammler ziehen ihre Wagen. Jugendliche sitzen auf Treppen und Bordsteinen, sie würfeln und lachen. Makaken, Hunde und Kinder überqueren blitzschnell die Fahrbahn. Je weiter er hinauffährt, desto weniger Säger sieht er. Warum? Weil sie sie spicken oder marinieren und in ihre altertümlichen Holzöfen schieben. Sie reißen das zähe Fleisch von den Knochen und nagen an den trockenen Flügeln. Während die Innenstadt nach Fisch und Julu stinkt und die in Eis verpackten Muscheln mit tropfenden Paletten von den Fischerkähnen gehoben werden, gieren die Bewohner der nördlichen Viertel nach Fleisch, nach Blut und Hitze.
Am Rand der Siedlung, wo die Gebäude niedriger werden, hängt eine alte Frau Wäsche auf, mit jedem Stück muss sie sich strecken, sie erreicht kaum die Leine. Ein kleines, verbeultes Schild weist rechts nach Goalung, er ist hundertmal hier vorbeigefahren, immer mit dieser lähmenden Beklemmung. Nichts bewegte sich, nichts änderte sich. Anfangs ist er alle zwei Wochen hinaufgefahren, später einmal im Monat. Tovo wurde mit jedem Besuch wortkarger.
Es geht steil bergauf, die Luft ist klarer, es ist eine Weile her, seit er einen derart stechend blauen Himmel gesehen hat. Die Straße, kaum breit genug für den Gefängnisbus, folgt der Kontur des Berges, sie windet sich gefährlich nah am Hang entlang. Erst im letzten Augenblick wird die Festung sichtbar. Vor der Einfahrt steigt er aus, steckt sich eine Zigarette an und überblickt die braune, unfruchtbare Landschaft. Ein Wachmann kommt auf ihn zu.
»Sie können hier nicht stehen bleiben«, sagt der Mann.
»Ich suche meine Tochter.«
»Fahren sie rein, Senhor Chou, ich lasse Sie durch.«
»Sie müsste hier heraufkommen.«
»Wenn ich sie sehe, sage ich Ihnen Bescheid.«
Der Mann kehrt zu seinem Häuschen zurück und öffnet die Schranke. Gabriel fährt durch, bleibt auf dem Parkplatz stehen und steigt aus. Es sind nur noch wenige Besucher da, der Parkplatz ist beinahe leer. Seine Tochter? Warum hat er das gesagt? Er wollte es einfach machen, einfach und eingängig, um jedes Missverständnis zu vermeiden. Oder wird er Tovo jetzt, wo sie ihn sehen will, diesen Platz in ihrem Leben doch noch streitig machen?
Der Wachmann sieht sie schon von weitem und winkt ihn heran. Sie ist ein bunter Fleck in dieser unwirtlichen Landschaft, ihr kurzes, dunkelgelbes Kleid leuchtet, der fuchsiafarbene Saum, der hellblaue Riemen, der quer über ihre Brust geht. Gabriel würde ihr entgegengehen, wenn es ihr helfen würde. Aber die Treppe ist schmal und unregelmäßig, sie muss diesen Weg allein gehen. Er bleibt stehen und wartet. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit.
»Das hatte ich mir etwas leichter vorgestellt!«, ruft sie hinauf. Sie hat Schrammen am Bein, ihre Tennisschuhe sind dreckig. Sie schleppt sich die letzten Stufen hinauf. Er nimmt ihren Arm und führt sie an der Schranke vorbei zum Parkplatz. Sie löst sich und geht zu dem mächtigen Wall. Sie setzt sich in den schmalen Schatten und sinkt gegen die Mauer. Braucht sie Wasser? Sie nickt. Gabriel holt eine Flasche aus dem Auto.
»Und jetzt?«, fragt sie.
»Wir sind zu spät. Die Besuchszeit ist gleich vorbei, sie werden uns nicht mehr reinlassen.«
»Hilfst du mir? Mir ist ein bisschen schwindlig.«
Sie sieht ihn an, weder überrascht noch enttäuscht. Sie scheint bereits geahnt zu haben, dass sie zu spät kommen würde. Wahrscheinlich hat sie es darauf angelegt. Sie weiß, dass dies die letzte, die einzige Gelegenheit auf dieser Reise ist, Tovo zu sehen.
Sie wirkt erleichtert und ein wenig resigniert. Was hätte sie erreicht hinter diesen dicken Mauern, was hätte sie diesem stillen, verschlossenen Mann gesagt, von dem sie wünscht, er würde überhaupt nicht existieren? Sie ist zu jung, um mit Gespenstern zu reden.
»Du hattest überhaupt nicht vor, ihn zu besuchen, oder?«, sagt Gabriel.
»Ich wollte nur wissen, ob ich es kann.«
»Ob du was kannst?«
»Ob ich es hier hinauf schaffe.«
»Du schuldest ihm nichts.«
»Genau, ich schulde ihm nichts.«
Sie streckt die Hand aus. Er hilft ihr auf und führt sie über den Platz zum Auto. Sie quetschen sich in den winzigen Wagen. Er startet, sie öffnet das Fenster und atmet tief ein. Sie fahren in einem weiten Bogen um den leeren Parkplatz, der Wächter öffnet die Schranke und winkt, Benedita hängt den Arm hinaus und hält sich an der Tür fest.
»Wir besorgen dir etwas für deine Wunde«, sagt Gabriel.