Am nächsten Morgen wachte Falck mit einem hässlichen Kopfschmerz auf. Der muffige Geruch des Sofas, auf dem er lag, verursachte ihm Übelkeit. Doch vermutlich würde ihm gerade jeder Geruch Übelkeit verursachen. Vorsichtig erhob er sich, tastete sich zum Fenster vor und blinzelte gegen das Licht. Er mühte sich ab, das verzogene Holzfenster zu öffnen. Endlich strömte frische Luft herein. Im Hinterhof konkurrierten zwei Radiosender miteinander. Im nächsten Hof schraubte jemand an seiner MZ, und irgendwo spielten Kinder Fußball. Falck atmete durch. Sonntagmorgen.

Dann sah er an sich herunter und verzog den Mund. Seine Klamotten stanken nach Zigarettenrauch. Sein Rachen fühlte sich taub an, und er hatte einen faden Geschmack im Mund, als hätte er selbst geraucht. Er musste sich unbedingt waschen, umziehen und etwas essen. Auch wenn ihm schlecht war, aber sein Magen musste etwas zu tun kriegen. Er kannte sich, musste so tun, als wäre nichts, dann würde die Übelkeit verfliegen.

 

Eine halbe Stunde später betrat er das Treppenhaus. Er fühlte sich besser, auch wenn ihm seine Kleidung nicht behagte. Anstatt seiner Stoffhose und dem blauen Blouson trug er die alte Kordhose und die Lederjacke seines Bruders über dem Nicki. Und natürlich Turnschuhe. So würde er normalerweise im Garten seiner Eltern arbeiten, aber nicht unter die Leute gehen. Ulli würde über ihn lachen, dachte er. Dann holte ihn die Erinnerung ein.

»Jemand da?«, fragte er. »Soll ich beim Aufräumen helfen?«

»Komm rein«, rief Christian. Im Tageslicht kam Falck die Wohnung total verwohnt vor. Es stank wie in einer Kneipe. Überall standen Flaschen, Gläser, Geschirr herum. Die Aschenbecher quollen über.

»Wohnzimmer!«, rief es. Christian saß vor der Schrankwand und hatte eine Tür geöffnet, hinter der sich eigentlich die Hausbar befinden sollte. Bei ihm aber stand eine große Musikanlage drinnen, mit Plattenspieler, Tonbandgerät, Doppelkassettenrekorder. Christian drehte sich zu Falck um, in seinem Mundwinkel hing eine Kippe. Er nickte zum Gruß, wirkte aber mürrisch.

»Kann ich dir helfen?«, fragte Falck.

»Wobei?«

»Aufräumen?«

Christian runzelte die Stirn, sah sich dann schnell um. »Ach so, nee. Willste ein Bier?« Er deutete in die Ecke, wo die Bierkästen standen.

Falck schüttelte den Kopf, nahm es aber als Einladung, sich zu setzen.

»Diese Nadine, wo wohnt sie eigentlich?«, fragte er ohne Übergang.

»Die Hauke? Was willste denn von der?«

»Ich fand sie nett. Aber dann war sie weg.«

»Und was ist mit Claudia?«, fragte Christian und drückte eine Taste des Kassettenrekorders.

Falck musste erst mal überlegen, warum Christian nach Claudia fragte. Dann klickte es bei ihm. Deshalb die mürrische Begrüßung, dachte er.

»Ihr seid doch zusammen hoch!«

Falck konnte sich gar nicht erinnern, wie er überhaupt in seine Wohnung gekommen war.

»Also, bei mir war sie nicht!«

»Ach so.« Christians Miene wurde schlagartig freundlicher. »Nadine wohnt auf der Jordanstraße.«

Falck nickte. »Hast du auch davon gehört, dass sie belästigt wurde?«

Christian wiegte abschätzend den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das stimmt. Manche wollen sich nur wichtigmachen.«

Falck nickte wieder. Dass ausgerechnet Christian so etwas sagte. Er bemühte sich um einen Themenwechsel.

»Sag mal, das Gerät da, das muss ja ein Vermögen gekostet haben!« Falck deutete auf die fünfstöckige RFT-Anlage mit Tuner, Mixer, Kassettendeck und Plattenspieler.

»Hab ich von meinem Alten bekommen«, nuschelte Christian und tat dabei so, als wäre es normal, Hifi-Technik im Wert von ein paar tausend Mark geschenkt zu bekommen.

»Dein Alter ist wohl reich?«, fragte Falck und grinste.

»Der ist im Westen. Das Ding hat er mir geschenkt, bevor er abgehauen ist.«

»Abgehauen?«, fragte Falck mit belegter Stimme.

»Das ist kein Geheimnis. Das weiß jeder hier. Ja, der ist fort, über Jugoslawien und die Türkei, war anscheinend gar nicht so schwer.«

»Wusstest du das?«

»Dass er abhauen will? Nee. Alle reden vom Abhauen, aber wer macht es dann wirklich? Wer will schon in den Bau? Da kommste als anderer Mensch raus. Siehste ja, Holger, der kuscht nur noch. Der will nicht mal mehr mit zum Christentreff. Ich kann’s sogar verstehen. Du weißt einfach nie, wer da für die Stasi spitzelt.«

»Und dein Vater schickt dir das ganze Zeug?«, fragte er, um das Gespräch in Gang zu halten. »Die Schallplatten und so?«

»Der, meine Tante und mein Bruder.«

»Die sind alle drüben?«

Christian nickte. Nun schwiegen sie, obwohl die nächste Frage damit im Raum stand. Falck fasste sich ein Herz.

»Hast du einen Antrag gestellt? Auf Nachzug?«

Christian atmete tief durch, und Falck befürchtete, dass er zu weit gegangen war. Hinter ihm knackte es, die Schallplatte war zu Ende. Christian drehte die Platte um, schaltete den Rekorder ein und lauschte kurz an seinen Kopfhörern. Dann schaute er Falck an.

»Die würden mich rauslassen, wenn ich einen Antrag stellen würde. Die wollen alle loswerden, die nicht spuren. Dampf ablassen vom Kessel.«

»Von welchem Kessel?«

Christian hob verzweifelt die Hände. »Wo lebst du denn? Du musst doch sehen, dass hier nichts mehr geht. Häuser fallen ein. In den Betrieben steht tagelang die Produktion still. In den Rathäusern stapeln sich die Eingaben. Die Menge hält nur still, weil sie Angst vor der Stasi hat.« Christian beugte sich vor. »Weißt du, warum dieser Staat noch existiert?«, flüsterte er.

»Nein?«, antwortete Falck und war verärgert und amüsiert zugleich.

»Die verkaufen Häftlinge!«, raunte Christian, und Falck musste an sich halten, um nicht zu lachen.

Christian lehnte sich resigniert zurück, als hätte er Falcks Reaktion schon geahnt. »Das kannst du mir ruhig glauben.

Falck wollte widersprechen, doch diesem Argument hatte er vorerst nichts entgegenzusetzen. Innerlich schüttelte er den Kopf darüber. Gerade erst war der erste Mai gewesen, und er hatte sie doch gesehen, die Demonstrationszüge in der Stadt. Die Menschenmassen mit Blumen und Wimpeln, die Modrow und Berghofer auf der Bühne zuwinkten. Fahnen und Plakate überall. Das waren zehntausende Dresdner gewesen, und die sollten alle unzufrieden und wütend sein? Was Christian da behauptete, war einfach lächerlich.

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte Christian plötzlich.

Falck hob langsam die Schultern.

»Wenn ich fertig bin mit den Kassetten, müsste die jemand auf die Kamenzer bringen. Wenn du willst …? Kriegst auch fünf Mark.«

»Zu wem denn?«

»Na, so ’n paar Spinner, Gruftis.«

Falck horchte auf. »Na ja, gut, ja, das kann ich machen«, sagte er so ruhig wie möglich. »Sollen die mir was geben dafür?«

»Nein, du musst sie nur abgeben.«

»Hast du die fünf Mark zufällig schon da?«

 

Es war nicht weit bis zur Kamenzer Straße. Es war still und sommerlich warm. Ein Mann hatte das Hinterrad seines Dacia ausgebaut und lag mit dem Oberkörper halb unter dem aufgebockten Wagen, um etwas herumzuschrauben. Zwei Jungen spielten weiter hinten Ball auf der Straße.

Beim Fischladen stank es, durch die offene Einfahrt konnte Falck bis in den Hof sehen, in dem rund um den Gully Fischschuppen in der Sonne verdarben. Kinder fuhren mit Dreirädern durch die stinkende Pampe.

Schließlich stand Falck vor dem beschriebenen Haus. In seiner Jackentasche befanden sich fünf Kassetten, keine ORWO, sondern TDK aus dem Westen.

Die Haustür war unverschlossen, im Treppenhaus herrschte absolute Dunkelheit. Falck tastete nach dem Lichtschalter, doch er funktionierte nicht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Haustür an dem kleinen Haken einzuhängen.

»Hallo?«, rief er halblaut ins Dunkel. »Ich suche einen Karsten!«

Keine Antwort, kein Geräusch, nur ein modrig-schimmeliger Geruch. Richtige Leute konnten hier nicht mehr wohnen, dachte Falck. Die Gruftis hatten das gesamte Gebäude für sich in Anspruch genommen. Falck wagte sich weiter ins Haus hinein, klopfte an den Rahmen des nächstgelegenen Wohnungseingangs. Die Tür selbst war nicht mehr da. Auf der Schwelle standen erloschene Kerzenstummel auf den zerschmolzenen und wieder erstarrten Resten unzähliger anderer Kerzen. Auch in der Wohnung war es dunkel, die Fenster waren vernagelt und offenbar zusätzlich mit Lumpen verhängt.

»Jemand hier? Ich suche den Karsten!«

Er hätte jetzt gern eine Taschenlampe dabeigehabt. Oder wenigstens ein Feuerzeug. Er betrat zögernd die Wohnung, die Dielen unter seinen Füßen knarrten. Die Räume waren leer. Dann stieg er in die zweite Etage, doch auch dort sah es so aus.

Falck kehrte ins Treppenhaus zurück. Er fragte sich, ob es

 

Im Keller war es kalt und finster, das Licht funktionierte auch hier nicht.

»Hallo, ich suche Karsten, ich habe Kassetten für ihn!«, rief er die Treppe hinunter, bevor er beschloss, selbst hinunterzugehen. Mit einer Hand tastete er sich an der Wand entlang. Er konnte Kerzenstummel auf den Stufen erkennen, leere Weinflaschen. Unten tastete er sich mit den Fußspitzen voran, stieß an Kisten, entdeckte Schmierereien an den Wänden, umgedrehte Kreuze, eine Kiste, die tatsächlich an einen Sarg erinnerte. Aber es war niemand da, und seine vage Hoffnung wurde in zweierlei Hinsicht enttäuscht. Weder über die Männer auf der Simson noch über die verschwundene Leiche würde er hier etwas zu erfahren.

Das war auch nichts anderes als ein Jugendtreff. Auch wenn die Spinner sich verkleideten und komische Musik hörten. Das hieß längst nicht, dass sie Leichen stahlen. Er würde trotzdem später noch mal herkommen, beschloss er.

 

Er musste eine ganze Weile laufen bis zur Jordanstraße. Vielleicht hatte er Glück und traf Nadine an. Die Häuser hier reihten sich ein in die Vielzahl der Häuser, die hier dem Verfall preisgegeben waren. Die meisten Leute, die hier wohnten, warteten vermutlich darauf, dass ihnen eine neue Wohnung in einem Neubaugebiet zugewiesen wurde. Einige Fenster standen offen, Musik war zu hören, Schlager aus dem Radio. Es roch nach Mittagessen, nach Bratkartoffeln und Spiegeleiern.

Falck betrat das Haus, in dem Nadine wohnen sollte, doch weder an einem Briefkasten noch an der Haustafel war ihr

»Kinder! Essen!«, rief in dem Moment eine Frau von oben.

Die Kinder sprangen auf und rannten an Falck vorbei.

»Suchen Sie jemanden?«, fragte die Frau ihn misstrauisch. Falck trat aus dem Schatten und musste die Augen zusammenkneifen, als er nach oben sah.

»Nadine Hauke. Sie soll hier wohnen.«

»Ach, die. Die ist bestimmt bei ihren komischen Freunden im Alaunpark.« Und schon hatte die Frau den Kopf wieder zurückgezogen.

Falck seufzte, heute drehte er sich dauernd im Kreis.

 

Es war gar nicht schwer, sie zu finden. Die Gruppe saß im Schatten einer der wenigen Bäume und war leicht zu unterscheiden von den Familien, die sich hie und da auf der Wiese niedergelassen hatten. Einer zupfte an einer Gitarre herum. Zwei der Frauen hatten Babys dabei, drei größere Kinder spielten etwas entfernt Fußball. Falck zählte zwölf Erwachsene, die Männer trugen alle Vollbärte und hatten lange Haare. Einige Frauen hatten sich Stirnbänder umgebunden.

Falck erkannte Nadine sofort. Sie saß mit dem Rücken zu ihm, doch ihr kurzes Haar und die rote Samtjacke, die sie am Abend schon getragen hatte, verrieten sie. Ehe er sich überlegen konnte, was er jetzt machen sollte, pfiff bereits einer der Männer nach ihm. Falck erinnerte sich, ihn gestern auch bei Christian gesehen zu haben. Nun sah sich auch Nadine nach ihm um und winkte.

Falck ging auf sie zu.

»Hallo, Servus«, begrüßte ihn die Allgemeinheit.

»Das ist Tobias!«, stellte der Mann ihn vor.

»Der Heizer!«, rief jemand beinahe spöttisch.

Falck wurde es heiß. Ahnten sie, dass er Polizist war?

»Setz dich«, bot Nadine an und klopfte auf den freien Platz neben sich.

Falck setzte sich. »Na, gut heimgekommen?«, fragte er sie leise.

Nadine nickte. »Tut mir leid, war sauer gestern Abend. Nicht auf dich, auf den da.« Sie zeigte auf den Mann, der auch auf der Fete gewesen war. »Erst wollte er mich heimbringen, dann war er zu betrunken dazu.«

»Hast du denn Angst allein?«

»Das ist eine dumme Geschichte.« Nadine winkte ab. »Du wohnst jetzt beim Christian im Haus? Bist du jetzt erst in die Gegend gezogen?«, wechselte sie das Thema.

Falck nickte. »Vielleicht kann ich dich das nächste Mal heimbringen!«

»Da nehme ich dich beim Wort.« Nadine blinzelte ihm zu.

»Aber über diese dumme Sache willst du nicht reden?«, hakte Falck nach.

»Ach, das war nichts. Mir ist einer nachgelaufen und wollte mir an die Wäsche. Dann ist er davongelaufen. Aber es hat mir einen mächtigen Schreck eingejagt.«

»Warum ist der abgehauen? Kam jemand?«

»Weiß nicht, plötzlich lief er los und verschwand um die Ecke.«

»Komisch, oder? Warst du bei der Polizei?«

»Da geh ich doch nicht freiwillig hin! Die behaupten womöglich noch, ich hätte das erfunden.«

»Meinst du?«, fragte Falck. Nadine zuckte nur mit den Achseln.

Nadine verzog das Gesicht. »Ich hab den kaum sehen können.«

»Auch nicht die Kleidung? Lange Haare? Kurze?«

»Es war dunkel.«

»Und gesagt hat der nichts?«

»Nee, gar nichts.«

»Und meinst du, er kannte dich, oder war das Zufall?«

»Kannst du singen?«, fragte ihn der Typ mit der Gitarre unvermittelt.

Falck schüttelte schnell den Kopf. Das fehlte noch, dass er jetzt singen sollte.

»Jeder kann singen«, murmelte der andere, beließ es aber dabei. Stattdessen begann er an den Saiten zu zupfen und summte vor sich hin.

Sag, wie lang kann das noch gehen,

es ist, als blieb die Zeit hier stehen.

Ein Schritt vor und zwei zurück,

gehen wir im gleichen Tritt,

wollt uns euren Will’n aufzwingen,

lasst uns nicht unsre Lieder singen …

»Ralle, lass mal«, mahnte einer aus dem Kreis. Falck ahnte, die Vorsicht galt ihm. Er war der Unbekannte, ihm misstraute man.

»Du, sag mal«, begann Nadine, »hast du Lust, später mit ins Kino zu gehen? In der Schauburg läuft Einer trage des anderen Last. Der ist ganz toll, hab ihn schon zweimal gesehen.«

»Da kommen sie wieder!«, rief jemand, und augenblicklich kam Bewegung in die Gruppe. Falck sah sich um und erblickte einen Polizei-Wartburg, der vom Bischofsweg in den

Eine zweite Funkstreife näherte sich aus der anderen Richtung. Falck konnte seine Nervosität kaum verbergen, als der erste Wartburg hielt und zwei Genossen ausstiegen und über die Wiese näher kamen.

Nadine griff nach Falcks Unterarm und hielt sich fest. Er sah ihr kurz in die Augen. Sie schien wirklich Angst zu haben. Auch die zwei kleinen Kinder, die herbeigerufen worden waren, sahen die Polizisten mit furchtsamem Blick an.

»Jede Woche ist das so, das machen die mit Absicht!«, flüsterte Nadine.

»Personalausweiskontrolle!«, ersparte sich der ältere Polizist jegliche Begrüßung. Der jüngere Uniformierte stand daneben, und auch von der anderen Seite hatten sich weitere Uniformierte genähert. Falck musste seine Hand bezähmen, die sich zum Gruß verselbstständigen wollte. Alles in ihm hätte am liebsten gerufen: Ich bin einer von euch.

»Die Personalausweise! Das geht auch ein bisschen schneller!«, befahl der Hauptwachtmeister. Die Frauen gaben ihre Ausweise als Erste den Polizisten. Der jüngere sammelte sie ein und reichte sie einzeln seinem Vorgesetzten.

»Und Sie!«, trat einer der Polizisten an Ralle heran. Der saß noch immer, die Gitarre auf dem Schoß.

»Sie wissen doch, wer ich bin!«

»Ihren Ausweis, Bürger!«, forderte der Hauptwachtmeister kalt ein.

»Warum kontrollieren Sie uns denn?« Ralle gab sich aufmüpfig, doch seiner Stimme hörte man an, dass in ihm Stolz und Furcht einen Kampf austrugen.

»Fragen Sie nicht so dumm. Ihren Ausweis! Dalli!«

Ralle schnaufte, Falck sah ihm an, wie es in ihm brodelte,

»Stehen Sie doch auf, dann geht’s leichter«, bemerkte der Polizist süffisant.

Ralle zerrte seine Brieftasche heraus, zog den Ausweis hervor und reichte ihn hoch.

»Wir sitzen hier nur«, murmelte er, um nicht zu wirken, als würde er sich widerstandslos ergeben.

»Sie lungern herum, belästigen diese Familien und die Anwohner!«

Das war ausgemachter Blödsinn, wusste Falck, niemand störte sich an ihnen. Sie saßen hunderte Meter vom nächsten Wohnhaus entfernt.

»Haben Sie nichts Besseres zu tun, als hier herumzuhängen?«

»Es ist Sonntag«, widersprach jemand leise.

»Ihren Ausweis!«, wurde Falck plötzlich von hinten angeblafft. Er erschrak, er hatte sich gar nicht angesprochen gefühlt. Nun fingerte er eilig in seinem Portemonnaie nach dem Ausweis. Der Polizist nahm ihn entgegen, blätterte verwundert die leeren und stempellosen Seiten durch.

»Was sind Sie denn für einer?«, fragte er fast besorgt. »Was geben Sie sich denn mit solchen Leuten ab? Sie machen doch einen ganz vernünftigen Eindruck«, sagte er mit echtem Bedauern.

Falck fiel auf die Schnelle keine Antwort ein. Schon veränderte sich die Miene des Polizisten, unwirsch reichte der ihm den Ausweis zurück.

»Sie verlassen diesen Platz jetzt!«, befahl der Hauptwachtmeister.

»Aber warum? Wir sitzen hier nur und die Kinder spielen.«

»Sie verlassen den Platz, das ist ein Befehl! Wenn Sie dem

»Schreien Sie doch nicht so, die Kinder kriegen ja Angst!«, beschwerte sich eine der Mütter, woraufhin der Polizist sich dicht vor sie stellte.

»Werden Sie mal nicht frech, wir können auch ganz andere Saiten aufziehen. Das wissen Sie so gut wie ich!«

Die Frau wandte sich schnell ab, griff nach der Hand des Kindes.

»Los jetzt. Sie auch. Hopphopp!« Nun wurden die Polizisten beinahe handgreiflich, einer langte nach der Gitarre. Ralle riss sie an sich und stand endlich auf, während die anderen schon die Decken zusammenlegten und die Flaschen und Brotbüchsen in Bastkörbe packten.

Falck sah sich um. Die anderen Leute auf der Wiese taten nichts dergleichen. Keiner wagte wirklich hinzusehen, nur gelegentlich traf sie ein verstohlener Blick.

 

»Wohin gehen wir denn?«, fragte Falck leise. Nadine ging neben ihm, vor und hinter ihnen liefen mit einigem Abstand die anderen. Keiner sonst sprach. Nur eine der Frauen schluchzte leise, die andere nahm ihre Hand.

»Weiß ich noch nicht, aber Uwes Eltern haben einen Garten an der Marienallee, die lassen uns dort manchmal zusammensitzen.«

»Warum trefft ihr euch denn nicht immer da?«

Nadine sah ihn fragend von der Seite an.

»Ich meine, warum geht ihr in den Alaunpark?«

Jetzt verstand Nadine die Frage. »Aus Prinzip. Wir machen ja nichts Verbotenes!«

Außer staatsfeindliche Lieder zu singen, ergänzte Falck in Gedanken.

»Und was ist mit ihr los?« Er deutete auf die Frau, die sich

»Der Polizist kannte Ramona, deshalb hat der das gesagt.«

»Was denn gesagt?«

»Mensch, stell dich doch nicht immer so dumm. Das mit den anderen Saiten aufziehen. Die haben sie schon mal abgeholt. Mitten in der Nacht. Sie wollten wissen, ob sie jemanden für die Kinder hat, Ramona hat ja noch einen großen Sohn. Sie hat Nein gesagt, weil sie dachte, dann würden sie sie nicht mitnehmen. Da haben sie die Kinder ins Heim gesteckt. Eine ganze Woche. Kannst du dir das vorstellen?«

»Warum hat die Stasi sie denn abgeholt?«

Wieder sah Nadine ihn prüfend von der Seite an. »Einfach so. Ihr Vater ist Pastor, ihr Bruder war schon mal in Haft. Wenn die an dir dranhängen, bist du dran.«

Jemand näherte sich von hinten. Es war Ralle. »Erzähl doch nicht so viel, du weißt doch gar nicht, was das für einer ist!«, blaffte er Nadine an.

Ramona, die schon weitergelaufen war, blieb jetzt stehen und drehte sich um. »Wenn du nur nicht immer die Polizisten so provozieren würdest«, fuhr sie Ralle an. »Du weißt genau, wie ich das hasse!«

»Ich verteidige unsere Rechte, und im Park zu sitzen ist nicht verboten!«, sagte Ralle.

»Aber das interessiert die nicht, das weißt du doch genau. Müssen wir denn immer auffallen? Können wir nicht mal einen Tag ganz normal sein?«

»Du meinst angepasst? Immer schön Ja und Amen sagen zu allem?«

»Nicht streiten«, bat Nadine. »Das ist doch genau das, was sie wollen. Dass wir uns streiten und keiner dem anderen mehr traut.«

»Ramona, komm!« Nadine nahm sie am Arm und drängte sie weiterzugehen.

»Ramona ist deine Frau?«, fragte Falck, dem dieser Zusammenhang bisher verborgen geblieben war. Ralle schnaubte nur und ließ Falck stehen.

 

Er hatte auf das Kino verzichtet. Und nicht nur darauf hatte er verzichtet. Nachdem Ralle ihm seine Abneigung so unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hatte, war er gar nicht erst in den Garten mitgegangen. Stattdessen hatte er sich abgesetzt. Ihm war ein anderer Gedanke gekommen. Er wollte die Lehrerin besuchen, wegen deren Anzeige er sich eigentlich beim ABV Wetzig hatte melden sollen, wie er nachträglich erfahren hatte.

Falck betrat das Haus Nummer 8 in der Talstraße, an der Haustafel fand er den Namen Pliske.

Aus der Wohnung im ersten Stock war Musik zu hören. Er klopfte an die Tür.

»Frau Pliske, Polizei!«, sagte er.

Die Musik wurde leise gestellt. Falck klopfte noch einmal.

»Wer ist da?«, fragte die Frau.

»Falck, Polizei.«

Er vernahm leises metallisches Rasseln. Dann öffnete sich die Tür einen schmalen Spalt weit, bis die Kette straff spannte. »Ja?«, fragte die Frau.

»Frau Pliske, ich möchte Sie zu dem Vorfall befragen, den Sie kürzlich der Polizei gemeldet hatten.«

»Ach, auf einmal? Ich wollte Anzeige erstatten, wurde aber abgewiesen.«

»Offenbar hat es einen zweiten Vorfall gegeben, ähnlich wie dem Ihren.«

»Würden Sie mir kurz schildern, wie es sich bei Ihnen zugetragen hat, bitte?« Wenn sie wenigstens die Tür richtig öffnen würde.

»Er lief mir nach, den ganzen Weg von der Turnhalle auf der Lessingstraße, über den Lutherplatz, durch die Pulsnitzer. Als ich loslief, begann auch er zu rennen.«

»War es schon dunkel?«

»Ja, es war gegen neun Uhr abends.«

»Meinen Sie, er hat Ihnen aufgelauert an der Turnhalle?«

Die Frau schwieg einen Moment. Falck konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. Er sah nur das, was der Türspalt preisgab, kaum mehr als ein Auge.

»Ich weiß nicht.«

»Sie rannten dann davon, riefen Sie um Hilfe?«

»Nein, ich rannte weg, er hinter mir her, aber er konnte mich nicht einholen. Ich bin sehr schnell, müssen Sie wissen. Ich riss die Haustür auf, die war zum Glück noch nicht abgesperrt. Dann habe ich mich von innen gegen die Tür gestemmt. Als er versuchte, die Tür aufzudrücken, habe ich laut um Hilfe gerufen. Ins Treppenhaus. Als dann jemand kam, war er längst weg.«

»Könnten Sie ihn beschreiben?«

»Schmal, kurze Haare.«

»Die Kleidung?«

»Ich denke, er trug Jeans, die am Knie kaputt waren.«

Falck merkte auf, das glaubte er, auch beim Sozius des Simson-Fahrers gesehen zu haben. »Das rechte Knie?«

»Ich meine schon.«

»Und haben Sie ein Moped gehört? Vorher oder danach vielleicht?«

»Vorher, ja. Aber gesehen habe ich es nicht.«

»Ja, schon seit Jahren, ist das denn wichtig?«

»Könnte sein.« Es war nur eine Idee.

 

Als er wieder auf der Straße stand, hatte sich die vage Idee bereits zu einer konkreten Theorie entwickelt. Er war keine zweihundert Meter vom Wohnhaus des toten ABV entfernt, und er hatte einige Fragen, die er der Witwe Wetzig gerne stellen würde. Allerdings würde er damit einen direkten Befehl missachten.

Er beschloss, erst einmal zu dem Haus in der Prießnitzstraße zu gehen. Das war ja nicht verboten. Als er vor dem Haus stand, wartete er gar nicht erst auf die Skrupel, die sich bei ihm einstellen könnten. Ohne Umschweife betrat er das Haus.

Jemand hatte einen kleinen Teppichläufer ins Haus gelegt. Falck betrachtete ihn und hob eine Ecke an. Es war nicht gelungen, alle Spuren zu beseitigen. Ein dunkler Fleck zeigte an, wo Wetzig gelegen hatte.

Falck ließ den Teppich los und richtete sich auf. Es war still im Haus. Wer konnte, war jetzt sicherlich draußen oder in seinem Schrebergarten. Was war dabei, wenn er mal schnell hochginge, die Klingel probierte, und wenn niemand da war, war gar nichts geschehen.

Es war jedoch jemand da. Schon auf das erste zögerliche Klingeln hin öffnete eine Frau die Tür. Falck schätzte sie auf vierzig. Sie sah müde aus und hatte verquollene Augen.

»Frau Wetzig? Bitte entschuldigen Sie die Störung. Aber es lässt mir keine Ruhe. Ich war es, der Ihren Mann im Haus gefunden hat.« Falck kam ins Stocken. Er hatte etwas ganz anderes sagen wollen. »Ich wollte Ihnen mein herzliches …«

Die Frau verblüffte ihn mit ihrer unerwarteten Reaktion.

»Niemand spricht mit mir!« Frau Wetzig hatte nach einer Weile die Stimme wiedergefunden und ließ endlich auch von ihm ab. »Niemand. Sie weichen mir aus. Diese Polizisten … die sind so unfreundlich, die haben überhaupt kein Mitleid.«

»Frau Wetzig, ich bin auch Polizist. Ich sollte mich bei Ihrem Mann melden an diesem Tag.« Die wenigen Minuten, die zwischen dem Tod ihres Mannes und seinem Zuspätkommen lagen, verschwieg er.

»Wollen Sie reinkommen?«

»Möchten Sie gern darüber reden?«

»Bitte, ja!«

»Wissen Sie, man hat es mir eigentlich verboten.«

»Kommen Sie!« Sie zog ihn in die Wohnung und schloss die Tür. »Gehen wir ins Wohnzimmer.«

»Darf ich Sie ganz direkt fragen? Glauben Sie, dass es ein Unfall war?«

»Ich weiß gar nicht, was ich glauben soll. Sie haben mich gefragt, ob er trinkt. Er hatte Restalkohol im Blut. Aber das war doch nur eine kleine Feier. Richtig betrunken war er nie. Auf keinen Fall so, dass man am nächsten Morgen über das Geländer stürzt, das nicht einmal besonders niedrig ist.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Und wir wollten nach Ungarn im Sommer. Endlich, nach zehn Jahren hat es geklappt …«

Falck ließ der Frau Zeit, sich zu sammeln, und sah sich um. In der Schrankwand stand eine teure Stereoanlage, der Fernseher war nagelneu. Auch die Sofagarnitur machte einen sehr teuren Eindruck. In der letzten Zeit war offensichtlich nicht

»Bitte schauen Sie sich nicht so genau um. Ich kriege es einfach nicht mehr hin. Ich kann mich zu nichts mehr aufraffen.«

»Frau Wetzig, sprach Ihr Mann manchmal von der Arbeit?«

»Ich habe ihn immer darum gebeten, es nicht zu tun. War sowieso alles nicht einfach. Das wissen Sie bestimmt selbst von sich.«

Falck nickte. »Aber sprach er in letzter Zeit von jemand Besonderem?«

»Warum fragen Sie?«

»Bevor ich am Dienstag ins Haus kam, sah ich aus der Grundstückslücke nebenan eine Simson davonfahren mit zwei Männern.«

»Danach hat mich der eine unverschämte Polizist auch schon gefragt.«

»Er glaubt anscheinend nicht, dass es damit was zu tun haben kann.«

»Aber ich kann Ihnen da auch nicht weiterhelfen.«

»Hat er keine Aufzeichnungen? Seinen Meldeblock? Ein Notizbuch?« Darin könnte er vielleicht Hinweise auf die Männer mit der Simson finden.

»Das haben sie alles mitgenommen.«

Falck konnte ein Seufzen nicht mehr unterdrücken.

»Es tut mir wirklich leid!« Frau Wetzig hob die Schultern. »Na ja, aber Jochen meinte einmal, er hätte fast einen erwischt, das war aber schon ein paar Tage her. Er kam spät heim, da lief einer vor ihm, der irgendwie verdächtig wirkte. Als er ihn ansprach, rannte der los und Jochen ihm nach. Er hat ihn aber nicht einholen können.«

»Und warum war er Ihrem Mann aufgefallen?«

»Wir hatten doch schon zwei-, dreimal den Fall, dass Frauen nachts von einem Mann verfolgt wurden. Und dass er

Das war wenigstens etwas. Falck schwieg für einen Moment. Die Frau trauerte, und er wollte sie nicht noch weiter behelligen.

»Wenn Sie wollen, komme ich in der Woche noch mal vorbei«, bot er an.

Sie sah in dankbar an. »Gern, ja. Meine Tochter studiert zurzeit in Greifswald und konnte leider nur kurz hier sein.«

»Darf ich Sie noch um etwas bitten, Frau Wetzig? Ich arbeite hier gerade sozusagen inkognito. Bitte tun Sie so, als ob wir uns nicht kennen, falls wir uns zufällig über den Weg laufen.«

 

Nach dem Besuch bei Frau Wetzig beschloss Falck, sich die benachbarte Baulücke genau anzuschauen. Auf der freien Fläche wuchsen bereits kleine Bäume zwischen Gras und Unkraut. Falck suchte eingehend den Boden ab und hoffte, eine Reifenspur ausmachen zu können oder einen Zigarettenstummel zu finden. Er hatte nicht den Eindruck, dass das schon geschehen war.

Von der Straße waren Motorengeräusche zu hören. Ein Auto fuhr an dem Grundstück vorbei und hielt etwas weiter hinten. Eine Autotür klappte zu, Schritte näherten sich.

»Was gibt es denn hier zu suchen?«, fragte jemand.

Falck erschrak, es war Schmidt. Wie immer hing eine Zigarettenkippe in seinem Mundwinkel.

»Nichts!«, stotterte Falck.

»Eddi!«, hörte man jemanden nach Schmidt rufen.

»Warte mal!«, blaffte Schmidt zurück. »Und Sie, kommen Sie mal her!«, befahl er Falck und schaute ihn misstrauisch an. Dann erst erkannte er ihn.

»Doch, ja, jawohl. Ich wollte nur noch mal nach eventuellen Spuren sehen. Vielleicht wurde da etwas übersehen.«

»Das soll wohl heißen, dass ich etwas übersehen habe?«, fragte Schmidt mit unüberhörbar aggressivem Unterton.

Falck hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Deshalb nickte er nur.

»Hör mal, Sportsfreund!« Hauptmann Schmidt verfiel übergangslos ins Du. »Du machst mal schön deinen Kram und wir machen unseren. Sonst gibt’s ’ne Meldung, und du kannst deine Pläne ad acta legen.«

Falck atmete einmal tief durch und nahm dann all seinen Mut zusammen. »Frau Wetzig meinte, ihr Mann hätte eine Woche vor seinem Tod einen Verdächtigen verfolgt, den er offenbar erkannt hatte. Vielleicht sollte man die Straftäterakten durchgehen, ob in letzter Zeit ein entlassener Häftling zugezogen ist.«

Schmidt hatte sich dicht vor Falck aufgebaut. Nicht nur, dass er nach Zigarettenrauch roch, Falck meinte auch, eine leichte Alkoholfahne wahrzunehmen. Außerdem war er unrasiert und hätte mal wieder ein frisches Hemd anziehen sollen. Seine listigen kleinen Augen ruhten auf Falck.

»Warst du oben, bei der Wetzig?«

»Jawohl, Herr Hauptmann, ich wollte eigentlich nur einen Kondolenzbesuch abstatten! Sie hat von ganz alleine das Reden angefangen.«

Schmidt schwieg einen Moment und stieß dann einen unwilligen Seufzer aus. »Entweder bist du dümmer, als man glaubt, oder du bist ein ganz Schlauer. Letzte Mahnung. Kümmere dich um dein Zeug, Genosse.«

 

Falck schüttelte den Kopf. »Keiner da.«

»Haben sich bestimmt totgestellt.« Christian lachte über seinen eigenen Witz. »Verstehste? Gruftis. Haben sich tot gestellt!«

Falck lächelte verkrampft. »Ich gehe dann später noch mal hin. Sag mal, du kennst dich doch aus hier, weißt du, ob jemand neu zugezogen ist?«

»Du! Gestern!« Erneutes Gelächter.

Falck zwang sich, freundlich zu bleiben, doch es kostete ihn alle Mühe. »Nee, ich meine vor ein paar Wochen vielleicht. Fährt eine beige Simson.«

»Warum? Wieso fragst du?«

»Mir ist meine geklaut worden. Und derjenige soll hierhergezogen sein.«

Christian verzog das Gesicht. »Bist du deshalb hier? Wegen deiner Karre?«, fragte er. Falck sah ihn wortlos an.

»Soll ich mich mal umhören?«, lenkte Christian ein.

»Ja, aber vorsichtig.«

»Verstehe.« Christian tat verschwörerisch. »Also, was ist nun mit den Kassetten? Soll ich die selbst hinbringen?«

Falck winkte ab. »Nein. Hab doch gesagt, ich mach das!«