Die Glocke der Martin-Luther-Kirche schlug sieben. Auf dem Platz vor der Kirche war viel los. Kinder liefen herum, jagten sich oder spielten Ball. An einem Hauseingang, neben einem Sero-Wertstoffhandel, standen ein paar Leute und tranken Bier.
Durch die enge Gasse der oberen Martin-Luther-Straße lief er zur Kamenzer Straße. Und obwohl er sich Zeit ließ, hatte er in kürzester Zeit das Grufti-Haus erreicht. Über das Kopfsteinpflaster kamen ihm ein paar Kinder auf Fahrrädern entgegen. Ihre Schutzbleche schepperten laut, Tauben flogen auf.
Was für eine seltsame Stimmung, fand Falck. Als wäre er in einer anderen Welt. In den letzten Tagen hatte sein Bild von der DDR Flecke und Kratzer bekommen. Was er früher als kleine Unzulänglichkeit betrachtet hatte, dass man anstehen musste nach Bananen, auf den Kohlehändler warten, eine Wohnung beantragen, viele Dinge nicht gleich kaufen konnte, dass man manches nur von unter dem Ladentisch bekam, Holz gegen Reifen tauschte, hatte hier auf einmal eine andere Bedeutung bekommen. Hier waren kein Aufbau und kein Fortschritt. Hier sah man nur Stillstand und Verfall. Dabei wurde ja produziert, fürs Ausland sogar. Es gab Computer, Forschungseinrichtungen, erfolgreiche Sportler.
Zwei Gestalten kamen ihm entgegen. Es war ein Pärchen, wie Falck erst auf den zweiten Blick erkannte. Die beiden jungen Leute hatten sich die Haare aufgefönt und mit Haarspray versteift und die Augen schwarz geschminkt. Sie trugen viel zu große schwarze Jacketts, darunter weiße Blusen und weite schwarze Hosen, deren Aufschläge auf dem Boden schleiften. Fragend sahen sie ihn an.
»Ich suche Karsten. Ich komme von Christian.« Falck zog die Hand aus der Tasche und zeigte eine Kassette.
Das Mädchen sah den Jungen an, unter der Schminke war ihr Gesicht kaum zu erkennen.
»Dann komm mit«, sagte der Junge. Gemeinsam betraten sie das Haus. Ohne zu sprechen, durchquerten sie den Flur und gingen auf die angelehnte Kellertür zu. Der Junge drückte sie auf und ging vornweg. Falck folgte ihm die Treppe hinunter, auf deren Stufen Kerzen brannten.
»Karsten!«, rief der Junge. »Hier ist jemand mit einer Kassette!«
»Christian hat mich geschickt!«, fügte Falck hinzu. Bis auf das wenige Licht der Kerzen, war der Keller dunkel.
Ein großer hagerer Unbekannter kam ihnen entgegen. »Karsten ist noch nicht da. Willste warten?«
»Klar«, meinte Falck und folgte den dreien in einen größeren Raum, in dem sich einige Personen auf Matratzen herumlümmelten. Auch hier brannten Kerzen.
»Kannst dich dahin setzen, wenn du willst«, meinte der Hagere. Falck ließ sich auf einer Holzkiste nieder und sah sich um. Der Kassettenrekorder wurde wieder eingeschaltet, und er bemerkte das Kabel, das durch ein Loch vom Nebenhaus gelegt worden war. Sie klauten also Strom. Das war nicht nur verboten, sondern auch gefährlich. Die Musik aus dem Rekorder hatte Falck vorher noch nie gehört. Man hätte sie mit dem Wort düster beschreiben können. Er verstand höchstens die Hälfte des Textes, obwohl er vier Jahre Englischunterricht genossen hatte. Irgendetwas klagte der Sänger an, dem Tonfall nach war gerade jemand gestorben oder würde bald sterben. Man musste ja zwangsläufig depressiv werden, wenn man den ganzen Tag solche Musik hörte, dachte Falck und versuchte eine neutrale Miene zu machen.
Er zählte acht Leute, Frauen und Männer gemischt, alle trugen sie Schwarz. Fast alle hatten etwas mit ihren Haaren gemacht, sich geschminkt, manche trugen schwarze Hüte. Er kam sich vor wie auf einer verspäteten Faschingsfeier.
»Ich bin übrigens Tobias«, stellte er sich vor.
Die anderen nickten, nannten aber ihre Namen nicht.
»Und ihr hängt hier so rum? Hört Musik?«, fragte er. »Seid ihr hier jeden Tag?«
»Nur am Wochenende, in der Woche müssen wir ja arbeiten und zur Schule«, antwortete ihm eines der Mädchen.
»Lauft ihr da auch so rum?«, fragte Falck.
»Was denkst du denn? Die würden uns sofort nach Hause schicken.«
Falck nickte und war beinahe erleichtert darüber. Dann war dies hier wirklich nur eine Art Maskerade fürs Wochenende. Kein Grund, Leichen zu stehlen.
»Wann wird Karsten denn kommen?«, fragte er nach. Ewig wollte er hier nicht bleiben, er kam sich völlig fehl am Platz vor.
»Vielleicht kommt er gar nicht«, antwortete das Mädchen.
»Sagt mal, habt ihr davon gehört, dass jemand einen Sarg gestohlen hat, mit einer Leiche drin?«, fragte er unvermittelt. Augenblicklich kam Bewegung in den Raum.
»Ja, hat mir auch jemand erzählt«, meinte einer, der bisher noch keinen Ton gesagt hatte. »Ich glaub das aber nicht.«
Falck wagte sich weiter vor. »Ich weiß es aber ziemlich sicher.«
»Und bestimmt denken alle, wir waren das«, beschwerte sich eine andere.
»Wundert mich, warum noch keine Polizei hier war.«
»Weil das doch Blödsinn ist! Wieso sollen wir denn einen Toten klauen.«
»Vielleicht ging es ja um den Sarg. Geht ihr nicht manchmal auf Friedhöfe oder so?«, fragte Falck und bemühte sich, naiv zu klingen.
»Kann sein«, mischte sich jetzt der Hagere ein, der ihn im Keller empfangen hatte, »aber wir klauen keine Toten. Ich glaub das eh nicht. Dummes Gerede!«
»Aber stellt euch mal vor, gruselig ist das schon. Du klaust einen Sarg mit einem Toten drin«, meinte eine andere.
Es vergingen ein paar Minuten mit belanglosen Gesprächen. Von all den Leuten, die er inzwischen kennengelernt hatte, waren das noch die harmlosesten, dachte er. Das waren junge Leute, die zur Schule oder in eine Lehre gingen und im Alltag völlig normal gekleidet waren. Da hatte er ganz andere Leute gesehen. Alkoholiker, Asoziale, wie sie auf dem Luther Platz herumhingen. Schlachtenbummler bei Oberligaspielen, die sich Schlägereien lieferten. Punker und sogar Faschisten, die mit Glatzen herumliefen und den Hitlergruß zeigten. Falck konnte sich das nur so erklären, dass sie von westlichen Revanchisten agitiert wurden.
Dann plötzlich stellte jemand die Musik ab und alle wurden still. Man hörte jemanden die Treppe herunterkommen. Die Musik wurde wieder lauter gestellt.
»Das ist Karsten«, sagte jemand und im nächsten Moment betrat derjenige den Keller. Karsten war nicht sehr groß, aber seine schwarzen Haare waren zu einem imposanten Gebilde aufgetürmt. Falck fühlte sich unweigerlich an einen Adlerhorst erinnert.
»Wer bist du denn?«, fragte er Falck und klang dabei nicht unfreundlich.
»Christian schickt mich«, erklärte Falck und musste sich zwingen, nicht dauernd auf die Frisur zu starren. Er kramte die Kassetten aus seinen Jackentaschen hervor.
»Ach, geil!«, rief Karsten und nahm sie ihm gleich ab. »Willst du noch bleiben?«, fragte er, während er die Beschriftung las. »Hier! Das musst du hören!«
»Nee, ich muss.« Falck erhob sich.
»Karsten, hast du was gehört davon, dass ein Toter weggekommen sein soll beim Friedhof?«, fragte jemand.
Karsten nickte. »Hab ich gehört, soll ’ne Frau gewesen sein. War vielleicht ein Nekrophiler.«
»Was soll denn das sein?«, fragte einer.
»Einer, der es mit Leichen treibt. H.P. Lovecraft soll so einer gewesen sein.«
»Der hat eine Geschichte darüber geschrieben!«, verbesserte ein Mädchen.
Karsten war das Erklärung genug. »Eben, wem fällt denn sonst so was ein?«
Falck hatte keine Lust auf eine Vertiefung der Thematik.
»Habt ihr auch davon gehört, dass diese Woche ein Polizist gestorben sein soll?«
»Ja, auf der Prießnitzstraße«, antwortete Karsten. »Angeblich Selbstmord. Aber das wollen die natürlich vertuschen.«
»Nee«, kam eine Stimme aus der Ecke, »der war in Machenschaften verstrickt. Der hat ’nem ehemaligen Knacki Tipps gegeben, wer gerade im Urlaub ist, und der hat dann deren Bude ausgeräumt. Dann gab’s Streit und der Knacki hat den umgelegt.«
»Du spinnst ja! Woher willst du das wissen?«, rief ein anderer.
»Glaub es nur. Derjenige, der mir das erzählt hat, kennt sich aus. Ich sag aber nicht, wer das ist!«
Wer das wohl sein könnte?, fragte sich Falck. Eine interessante Theorie war es allemal. Ein ABV kannte sich tatsächlich in seinem Revier gut aus, wusste, wer Urlaub hatte, wer aus- und einzog. Und in Wetzigs Wohnung hatten teure Technik und wertige Möbel gestanden.
»Na ja, ist ja auch egal, ich mach mal los«, sagte er. »Viel Spaß noch, man sieht sich.«
Die Abenddämmerung hatte längst eingesetzt, als Falck wieder auf die Straße trat. Es schüttelte ihn unbewusst, er atmete einmal tief durch. Ein kleiner Falke sauste über ihm durch die Luft.
Falck hatte keine Lust, in seine muffige kleine Wohnung zu gehen. Hatte er schon genügend Informationen, um etwas vorzuweisen? Der Gedanke an Ulrike schob sich in den Vordergrund. Wie lange hatte sie schon geplant, ihn zu verlassen? Hatte sie nicht bereits letztes Weihnachten irgendwie abwesend gewirkt? War es das, was ihn eigentlich verletzte? Er wollte nicht länger darüber nachdenken.
Vielleicht sollte er noch einmal bei Nadine nachfragen, sagte er sich, um auf andere Gedanken zu kommen. Falck schob die Hände in die Jackentaschen und machte sich auf den Weg. Er ging die Louisenstraße bis zur Alaunstraße entlang. Hier gab es einige verwilderte Freiflächen zwischen den Häusern, vergleichbar mit der Baulücke neben Wetzigs Haus. Einige waren dicht mit Birken und Gebüsch bewachsen.
Plötzlich hörte er ein eigentümliches Geräusch. Etwas raschelte. Falck wechselte schnell die Straßenseite und beobachtete das Dickicht. Es raschelte wieder. Da versteckte sich jemand.
»Ist da wer?«, fragte Falck. Die Straßenbeleuchtung war angesprungen, doch die Laternen spendeten nur trübes Licht. Es raschelte wieder und dann hörte er einen erstickten Schrei. »Hallo? Wer ist da?«, fragte er noch einmal. »Kommen Sie raus da! Hier ist die Polizei!«
Unvermittelt tauchte ein Junge aus dem Gebüsch auf. Er stolperte, fiel hin, sprang aber gleich wieder auf, ehe Falck ihm helfen konnte.
»Was ist denn mit dir?«, fragte ihn Falck. Er schätzte den Jungen auf zwölf, dreizehn Jahre. Doch der wehrte ihn ab und rannte schluchzend die Louisenstraße hoch. Falck folgte ihm ein Stück.
»Warte doch mal!«, rief er und sah noch, wie der Junge, ohne nach rechts und links zu sehen, über die Straße stürmte.
Falck drehte sich wieder um und erblickte einen Mann, der sich von dem verwilderten Grundstück schleichen wollte. Als er sich ertappt sah, rannte er unvermittelt los. Falck verschwendete keine Sekunde und spurtete hinterher. Auf die Entfernung konnte er nur ausmachen, dass der Flüchtende Jeanshosen trug, einen hellen Nicki und kurzes dunkles Haar.
Der war unterdessen schon an der nächsten Kreuzung angelangt und bog zum Alaunpark hinauf ab.
Falck war sportlich und ein guter Läufer, doch der Anfangssprint des Mannes hatte diesem einen ordentlichen Vorsprung verschafft. Falck durfte den Abstand nicht zu groß werden lassen und hoffte, dass ihn seine Kondition nicht im Stich lassen würde. Der Verfolgte wurde jedoch nicht langsamer. Es gab für ihn doch einiges zu verlieren.
Am Bischofsweg bog er nach rechts ab. Falck war noch nicht an der Querstraße angelangt, als er plötzlich Scheppern und lautes Geschrei vernahm. Als er die Kreuzung erreichte, sah er den Mann auf einem Fahrrad in den Alaunpark fahren. Auf dem Fußweg lag eine Frau und hielt sich das Knie. Ihr Begleiter stand erschrocken daneben, sein eigenes Rad zwischen den Beinen.
»Das Rad!«, keuchte Falck. »Ich bin Polizist! Jemand soll Verstärkung rufen!«
Der Mann sah ihn verständnislos an, reagierte aber nicht.
»Das Rad!«, fuhr Falck ihn an, riss ihm den Lenker aus der Hand, schwang sich auf den Sattel und strampelte los. Wertvolle Sekunden waren verstrichen. Der andere war schon längst auf halbem Weg Richtung Garnisonskirche. Im Park war es stockdunkel. Falck wusste, war der Kerl erst auf der Kurt-Fischer-Allee, wäre er nicht mehr einzuholen.
Falck ging aus dem Sattel und trat voll in die Pedale. Da sprang die Kette ab. Er trat ins Leere, rutschte ab, prallte auf die Querstange und stürzte auf die Wiese. Der Schmerz im Schritt war übermächtig. Er kniete sich hin, ihm wurde beinahe schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, war der Mann längst in der Dunkelheit verschwunden.
Verärgert und mit latentem Unwohlsein schob Falck das Rad wieder über den Rasen zurück zu seinem Besitzer.
Dieser hatte seiner Frau inzwischen aufgeholfen.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Falck und stellte das Rad an der Wand ab.
Die Frau winkte ab und rieb sich das Knie. »Geht schon. Mein Rad ist wohl weg?«
»Das finden wir bestimmt wieder. Konnten Sie die Polizei verständigen?«
»Ja, jemand hat angerufen«, brummte der Mann, der misstrauisch sein Rad inspizierte.
»Mir ist die Kette abgesprungen, sonst hätte ich ihn wohl gekriegt«, fühlte Falck sich genötigt zu erklären.
»Passiert ständig«, murmelte der Mann. »Wer Mifa fährt, ist Dresche wert.«
»Darf ich fragen, wer das war?«, fragte die Frau leise.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber Sie sind ihm doch nachgelaufen. Sie sind doch von der Polizei, oder?«
»Ja, Zivilstreife.«
Die Frau sah ihren Mann an, der ihr aufmunternd zunickte.
Die Frau räusperte sich. »Vielleicht war das ja der, über den hier alle reden? Der die Frau überfallen haben soll?«
»Ist das vielleicht einer von den Russen?«, fragte der Mann.
»Ein Sowjetsoldat, meinen Sie«, verbesserte ihn Falck. »Ich denke nicht. Wir kümmern uns darum. Wir warten auf den Streifenwagen. Dann kommen Sie bitte mit auf das Revier, eine Aussage machen.«
Es war eher ein Gefühl als das Geräusch, das ihn veranlasste, sich umzudrehen. Aus der Görlitzer Straße kam eine Simson gefahren. Es war zu dunkel und zu weit weg, doch Falck war sich sicher, der Mann erkannte ihn. Denn er reagierte umgehend, schaltete, bog ab und fuhr davon. Wenige Sekunden später schaltete er noch das Licht aus.
Hilflos sah Falck zu, wie das Moped verschwand. Eines wusste er: Wetzigs Sturz war weder ein Unfall noch ein Selbstmord! Er musste einfach herauskriegen, wer diese beiden Männer auf der Simson waren.