»Die können nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen«, murmelte Alex.
Gemeinsam liefen sie vom Sportgelände zurück zum Wohngebäude. Falck schwitzte vom Dauerlauf. Noch immer hing ihm das Gesehene von gestern nach. Heute war der Unterricht einfach so weitergegangen wie jeden Tag. Dabei hatten sie gerade im Staatsbürgerkundeunterricht erwartet, dass ihr Ausbilder auf die Geschehnisse einging, sie analysierte. Stattdessen aber vertieften sie sich weiter in den Marxismus-Leninismus und paukten für die anstehenden Prüfungen. »Doch, die tun so«, antwortete er endlich, um seinen Freund nicht länger warten zu lassen. Bei Alex konnte er sich darauf verlassen, dass der nichts weitersagte. »Die schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Weil keiner den Befehl zum Schießen geben will.«
»Ach, Quatsch!« Alex lachte, doch nicht, weil er amüsiert war.
»Sieh dir doch Leutnant Berger an. Der hatte Schiss. Alle hatten Schiss. Und die Alten, die merken das gar nicht. Honecker versteht doch gar nicht, was los ist. Der hat noch dafür gesorgt, dass sie die Züge aus Prag durch Dresden leiten. Keine Ahnung, warum der das gemacht hat. Der wollte noch mal provozieren. Aber deshalb kam es überhaupt erst zu der Randale am Bahnhof.«
»Woher willst du das wissen?«
»Mein Vater kennt Leute, die direkt unter Modrow und Berghofer arbeiten.«
»Und wer sind die genau?«
»Der Erste Sekretär der Bezirksleitung in Dresden und der Bürgermeister. Beim Bahnhof waren mehr als fünftausend Leute, die haben Anlagen zerstört, die Gleise blockiert, weil sie mit aufspringen wollten. Angeblich haben Leute auch Kinderwagen auf die Schienen gestellt, damit die Lokführer anhalten. Transport- und Bereitschaftspolizei sind mit Wasserwerfern und Knüppeln auf die Menschen losgegangen. Aber gegen so eine Masse wie gestern Nacht, kommst du nicht an.«
Nun hatten sie das Gebäude erreicht. »Aber denkst du nicht, die Sowjets werden eingreifen?«, fragte Alex leise.
Diese Befürchtung hatte Falck schon die restliche Nacht um den Schlaf gebracht. Trotzdem wollte er sie nicht mit Alex teilen. »Ich glaube nicht. Nicht mit Gorbatschow.« Er wollte ins Haus, doch Alex hielt ihn am Ellbogen fest.
»Wenn wir wieder nach Leipzig fahren sollen, was machen wir dann?«
»Wie meinst du das?«
Alex flüsterte noch leiser, Falck verstand ihn kaum noch. »Ich meine, wollen wir dann auch verweigern?«
Vor einer Woche noch hätte Falck nicht einen Gedanken daran verschwendet. Vor einer Woche war sein Leben geregelt gewesen, bis zur Rente. Niemals hätte er daran gedacht, einen Befehl zu verweigern oder dass Hunderttausende auf die Straße gehen.
»Ich weiß nicht«, wich er einer richtigen Antwort aus und hoffte, er würde nie auf die Probe gestellt. Was war ein Eid denn wert, wenn man ihn nicht hielt?
Alex hatte sich vermutlich mehr erhofft, doch auch er legte sich nicht fest. Sie gingen ins Haus um zu duschen und um nachher auf dem Zimmer noch zu lernen.