»Hier ist es!« Falck deutete lustlos auf einen Eingang im Häuserblock. Es sah alles gleich aus. Wieder in der Neustadt, wieder so ein altes heruntergekommenes Haus, grau, schmutzig, deprimierend. Das Wetter, die Kälte und der feuchte Wind trugen dazu bei. Falck hatte schlecht geschlafen. Immer wieder war er aus einem unangenehmen Traum aufgewacht, immer genau dann, wenn sie feststellten, dass der Tote verschwunden war. Peinlich war das. Die Westdeutsche musste doch denken, dass hier alles drunter und drüber ging und sie allesamt Dilettanten waren.
»Sechs Mark, überleg mal, ich komm gar nicht darüber hinweg.« Steffi Bach lachte und zeigte einen Vogel. »Für eine Dose Cola.«
Im Konsum am Platz der Einheit hatte eine Palette Coca-Cola-Dosen gestanden. Eine Menschentraube hatte sich drum herum gebildet. Vor allem Kinder. Keiner von denen hatte sechs Mark einstecken, die eine Büchse kosten sollte. Bubblegum hatte es auch gegeben, Riesenblasen sollte man damit machen können, doch die Kaugummis hatte sich auch niemand leisten können.
»Was nützt es, die Palette dahin zu stellen, wenn es sich niemand leisten kann? Oder? Sag mal!«
»Wirste schon sehen, am Ende ist sie doch leer gekauft, weil alle mal eine Cola haben wollen. Selbst meine Eltern haben den ganzen Mist schon probiert. Die waren sogar bei McDonald’s und haben so einen Schießbürger gegessen. Mein Alter hat geschimpft, sag ich dir. So ein lappsches Ding.« Falck musste lachen bei dem Gedanken daran. »Wollen wir mal reingehen?«
Bach nickte. »Na los.«
»Da, erste Etage«, las Falck von der Haustafel.
»Ich wette, es ist keiner da, der Briefkasten ist noch voll.«
»Der Junge wird keinen Schlüssel dafür haben.«
»Ob er uns was erzählen wird?«, überlegte Bach, da waren sie schon die halbe Treppe hochgestiegen.
Falck kam nicht zum Antworten, denn die Haustür ging unten auf und Kinderstimmen wurden laut. Die Schritte kamen dann doch nicht näher und die Stimmen verloren sich wieder. Bach und Falck traten ans Treppenhausfenster, das zum Hof zeigte. Zwei Jungen hatten das Haus durchquert, standen nun im Hinterhof und steckten die Köpfe zusammen. Dann gingen sie auseinander, jeder eine Zigarette im Mund.
»Könnte das einer von denen sein?«
»Der linke ist es.« Falck staunte, denn in den knapp anderthalb Jahren hatte sich der Junge stark verändert, war viel größer und jugendlicher geworden, doch er war eindeutig der richtige.
»Bist du Silvio Meinert?«, fragte Steffi, als sie unten im Hof angelangt waren.
Die zwei Jungen hatten sich bei ihrem Erscheinen hastig umgedreht und die Zigaretten hinter ihren Rücken versteckt.
»Warum?«, fragte Silvio. Sein Haar war lang, hing ihm in die Stirn, und er warf es mit einer Kopfbewegung beiseite.
»Wir sind von der Kripo. Wir möchten kurz mit dir reden.«
»Worüber denn?«
»Über eine Sache vom letzten Jahr.«
»Ich hau mal ab«, meinte Silvios Freund und wandte sich ab.
»Eh, du Blödi!«, rief ihm Silvio wütend hinterher, weil sein Kumpel so schnell kniff. Er selbst schien drauf und dran zu sein abzuhauen. Bach hielt ihn mit einer Berührung an der Schulter auf.
»Silvio, wir wollen nur etwas wissen. Letztes Jahr, bist du da in eine dumme Situation geraten? Hat ein Mann etwas von dir gewollt?«
»Nee, bestimmt nicht, was soll’n das gewesen sein?« Wieder schüttelte sich der Junge das Haar aus der Stirn, während hinter seinem Rücken die Zigarette in seinen Fingern verglomm.
»Wir wissen es, Silvio, ein Mann hat dich in Bedrängnis gebracht. Ich möchte wissen, ob du dich erinnern kannst, wie er hieß. Vielleicht weißt du auch noch, wie du ihn kennengelernt hast? Was wollte er von dir?«
»Gar nichts, keine Ahnung!« Der Junge wollte fort, doch Falck stellte sich ihm in den Weg.
»Ich habe dich gesehen. Ich war zufällig dazugekommen, erinnerst du dich noch? Dann bin ich dem Mann nachgelaufen, aber er ist entkommen.«
»Silvio!«, brüllte es plötzlich durch den Hausflur. »Hoch! Aber zackig!«
Ein Mann stand in der Durchfahrt, dem Alter und Auftreten nach Silvios Vater.
»Herr Meinert?«, fragte Bach. Silvio nutzte die Gelegenheit und zwängte sich zwischen ihnen durch.
Falck ließ ihn gewähren, sah, wie Bach die Kippe mit der Fußspitze in den Sand drückte.
»Was woll’n Sie von dem Jungen?«, rief der Mann. Als Silvio an ihm vorbeiwollte, griff er nach ihm. Der hatte schon damit gerechnet, duckte sich weg, fing sich trotzdem eine auf den Hinterkopf, bevor er die Treppe erreichte.
Bach ging vor. »Kripo Dresden, wir brauchen ihn für eine Zeugenaussage.«
»Der Junge hat gar nichts zu sagen.« Der Mann wartete gar nicht erst, bis sie herangekommen waren, und folgte seinem Sohn die Treppe hoch.
»Das lassen wir uns nicht gefallen!«, schnaufte Bach. »Komm!«
Gemeinsam liefen sie zurück ins Haus, die Treppe hinauf, hörten, wie oben die Tür zugeworfen wurde und der Vater den Jungen anschrie.
»Ich hab doch gar nichts gemacht«, wehrte sich der Junge.
»Bleib stehen!«, befahl der Vater.
Schon hatten die beiden Polizisten die Tür erreicht. Falck klingelte. Drinnen verstummten Vater und Sohn.
»Was denn noch?«, ertönte es hinter der Tür.
»Lassen Sie uns mit Ihrem Sohn sprechen. Er hat nichts Falsches gemacht.«
Es blieb kurz still. Dann aber öffnete der Vater die Tür wieder. »Ich habe doch gesagt, der Junge hat nichts zu sagen.«
»Lassen Sie uns das doch bitte mit dem Jungen besprechen«, sagte Bach freundlich. Falck staunte, wie sie so ruhig bleiben konnte. Der Mann war angetrunken, hatte seinen Sohn offensichtlich geschlagen, und das nicht zum ersten Mal. In der Wohnung sah es schrecklich aus. Der Flur war ein wüstes Durcheinander. Kleidung lag auf dem Boden, kaputtes Spielzeug, Dreck, Schuhe in einem unübersichtlichen Haufen, vom Garderobenschrank war eine Tür abgerissen. Es stank nach Zigarettenrauch, kaltem Essen und Bier.
»Silvio, komm her!«, rief der Mann jetzt. Kurz darauf kam der Junge und sah die Polizisten wütend an.
»Können wir das allein machen, gleich hier im Hausflur?« Bach sah den Mann freundlich an, bis er endlich verstand und sich ins Wohnzimmer verzog, von wo kurz darauf der Fernseher erklang. Elf neunundneunzig, der Erkennungsmelodie nach. Diese Fernsehsendung gefiel auch Falck. Es gab sie erst seit September letzten Jahres, und es sah so aus, als ob die Oberen der DDR noch versucht hätten, mit einem neuen Konzept die Jüngeren wieder auf ihre Seite zu ziehen. Inzwischen aber hatten sich die Macher dieser Sendung darauf spezialisiert, Missstände aufzudecken.
»Ich will das sehen!«, meinte Silvio trotzig.
»Kannst du auch gleich, aber sag doch mal, was ist denn da passiert? Im Mai letzten Jahres, oder?«
»Keine Ahnung, das war halt so ein Typ. Hab den auf dem Lutherplatz kennengelernt. Hat mit uns Fußball gespielt. Der war eigentlich ganz nett. Kann ich jetzt wieder rein?«
»Hat er dir etwas versprochen? Wollte er dir was zeigen?«
»Der hat gesagt, dass er Mickey-Mouse-Hefte hätte.«
»Hatte er welche?«
»Ja, schon.« Silvio hob die Schultern.
»Na, erzähl doch mal, wir wollen dir nichts Schlechtes.«
»Na, er meinte, er hätte das Zeug im Gebüsch versteckt, damit es ihm seine Kumpels nicht klauen. Dann hat er gesagt, dass er pinkeln muss und ob ich auch muss. Ich musste aber gar nicht.« Wieder stockte der Junge.
»Silvio, du bist nicht der Erste, der so was erzählt. Das ist schon anderen passiert. Das braucht dir nicht peinlich sein.«
»Na ja, der hat gemeint, ob ich mal seinen … na, ob ich das Ding anfassen will. Ich wollt ja gar nicht, aber er meinte, dann kriege ich alle Hefte.«
»Hat er dich auch angefasst?«
Silvio zuckte mit den Achseln und nickte.
»Wie sah er aus, würdest du ihn erkennen, wenn du ihn siehst?«
Silvio zögerte, schüttelte dann den Kopf. »Das ist zu lang her«, murmelte er.
»Und wenn wir dir mal ein Bild vorbeibringen irgendwann, was glaubst du, erkennst du ihn dann?«
Silvio hob wieder die Schultern, nickte langsam.
»Gut, wenn dir was einfallen sollte, dann rufst du uns an! Du hast nichts falsch gemacht, verstehst du? Egal, was der Kerl dir gesagt hat. Du bist ein Kind. Er hat was Falsches gemacht!«
»Warum hast du so schnell aufgegeben?«, fragte Falck draußen. »Ich hatte das Gefühl, der wollte es nur nicht sagen. Ich glaube sogar, dass er ihn kennt.«
»Genau deshalb. Der Junge hat Angst. Wenn ich dem jetzt zu sehr zusetze, dann sagt er gar nichts. Was dagegen, wenn ich eine paffe?«, fragte Bach.
»Von mir aus. Wusste gar nicht, dass du rauchst.«
»Nur gelegentlich. Das, was Schmidt raucht im Büro, reicht für zwei, da brauch ich gar nicht selbst zu rauchen. Aber jetzt ist mir kalt. Stört es dich?«
Ja, es störte ihn, aber er schüttelte den Kopf.
Bach zündete sich eine Zigarette an, und langsam gingen sie in Richtung des geparkten Trabants.
»Fetzt eigentlich, oder? Dass die Mauer weg ist.«
Falck nickte. Ja, jetzt fand er es auch gut. Vorher hatte er es sich nicht vorstellen können. Und gewünscht hatte er es sich auch nicht.
»Wir können wirklich heilfroh sein, dass die nicht alle zusammengeschossen haben. Innerlich habe ich gejubelt.«
»Aber du siehst ja selbst, was jetzt los ist«, meinte Falck skeptisch.
»Ich glaube, das sehen wir gerade nur so, weil es so geballt auf uns zukommt. Die Kaputten und die Verrückten, aber die meisten sind nicht kaputt und verrückt. Solche Leute, wie der hier gerade, die ihre Kinder vermöbeln, die sind in der Minderheit. Und die Leute müssen ja auch erst mal kapieren, was jetzt möglich ist und was nicht, und lernen, mit der Freiheit umzugehen. Schau mal, dahinten hat ein Laden aufgemacht, den gab es vor zwei Wochen noch gar nicht. In der Louisenstraße gibt es jetzt eine Galerie. Wenn du mich fragst, hässliche Bilder! Aber es gibt sie, verstehst du, was ich meine? Und in einer alten Fabrik oben in der Albertstadt gab es ein Konzert letztes Wochenende. Einfach so, ohne Genehmigung, ohne dass sich jemand drum geschert hätte, weder Polizei noch Rathaus. Elektromusik. Das war stark.«
»Du warst da?«, fragte Falck und hätte beinahe noch hinterhergefragt, mit wem.
»Klar, ich hab mir vorgenommen, nichts auszulassen. Ich finde es affengeil, wie alles plötzlich so locker ist. Ich glaube, auch die Gesichter der Leute haben sich verändert, irgendwie offener. Alles scheint plötzlich möglich.«
Ja, das stimmte. Es lag eine seltsame Stimmung in der Luft, eine Aufgeregtheit. Keine Unterdrückung mehr, keine Zensur, keine Angst. Nun war jeder für sein Glück selbst verantwortlich.
»Ich hoffe nur, die Leute geben das nicht so schnell auf. Schmidt hat schon recht. Die denken nur an die D-Mark und das ganze Westzeug. Wir sind EIN Volk, rufen sie inzwischen. Schon mitgekriegt? Nicht mehr Wir sind DAS Volk. Und hast du gehört? Kohl will nach Dresden kommen. Noch vor Weihnachten. Schmidt sagt: Kohl wird so tun, als ob er die Wende eingeleitet hätte.«
»Glaubst du denn noch an Sozialismus und so?«, fragte Falck.
»Warum denn nicht? Aber anders halt, freundlicher. Ich hab keine Lust auf Kapitalismus und Ausbeutung. Da wird schon was dran sein, dass der einfache Arbeiter ausgenutzt wird und die Reichen sich die Taschen vollmachen. Die stellen es nur schlauer an, da geht es den Leuten besser, aber nur scheinbar, das große Geld machen die anderen.« Sie waren beim Trabi angelangt. Bach stieß Falck an. »Sag mal, hast du eigentlich Kinder?«, fragte sie unvermittelt.
»Nee, natürlich nicht. Ich habe ja nicht mal eine Frau.« Falck musste lachen.
»Sicher?«, fragte Bach, stieß ihn noch mal an und deutete dann mit dem Kinn über die Straße. Dort schob eine junge Frau einen Kinderwagen vorbei.
Falck wollte erst pflichtgemäß lachen über den Witz, dann aber verstand er. Die junge Frau auf der anderen Straßenseite war Claudia.
Ein undefinierbares Gefühl durchzuckte ihn. Schreck war dabei, schlechtes Gewissen, Verlegenheit, und noch dazu machte sein Herz einen seltsamen kleinen Hüpfer.
»Was mach ich denn jetzt?«, fragte er leise.
»Dreh dich weg. Du hast sie eben nicht gesehen«, riet Bach.
Falck drehte sich weg.
»Zu spät«, flüsterte Bach. Falck hob den Kopf und schaute direkt in das Gesicht von Claudia, die ihn ebenfalls erkannt hatte. Nun gab es kein Zurück. Falck ließ einen Fahrer auf seiner MZ passieren und überquerte dann die Straße.
»Ich warte hier«, rief ihm Bach halblaut nach.
»Hallo! Na?«, begrüßte er Claudia. Sie trug einen dicken Mantel, eine Pudelmütze und hatte sich einen Schal fest um den Hals gewickelt.
»Na?«, erwiderte sie.
»Wie geht es dir denn?«, fragte Falck und wagte einen Blick in den Kinderwagen. Das Kind darin, ebenfalls fest eingepackt, war kein Neugeborenes mehr, sofern Falck das beurteilen konnte. Er versuchte krampfhaft nachzurechnen, wie viele Monate seit ihrem gemeinsamen Abend vergangen waren, doch sein Hirn war wie blockiert.
»Brauchst keine Angst zu haben, Tobias, es ist nicht deins!«, sagte Claudia, ohne eine Miene zu verziehen.
»Hatte auch keine Angst«, erwiderte er und fühlte sich ertappt.
»Warst ja schnell weg damals!« Claudia packte den Vorwurf in ein Lächeln.
»Äh …. das war keine Absicht, eher beruflich.«
»Ich dachte, du wärst in den Westen abgehauen.« Sie wirkte fast enttäuscht. Abgehauen zu sein wäre tatsächlich ein guter Grund gewesen. »Hast dann wohl vergessen, wo ich wohne? Ich hätte echt nicht gedacht, dass du so einer bist.«
Ich bin nicht so einer, wollte sich Falck verteidigen. »Ich dachte …«, begann er. Doch dieser Satz war nicht zu Ende zu bringen. Trotzdem zeigten die beiden Worte Wirkung.
»Aha, du dachtest, ich bin so eine, die mal schnell mit jemandem in die Kiste steigt.«
Falck hob die Hände. »Nein, ich … Es tut mir leid.« Es tat ihm wirklich leid, vor allem auch der Gedanke, dass er sie ja wirklich gemocht hatte, dass er sie verletzt hatte und dass es offenbar Zukunftsaussichten gegeben hatte, dass sie ein Paar hätten werden können. Jetzt war diese Gelegenheit verpasst. Und nun hatte sie ein Kind. War es unverschämt, nach dem Vater zu fragen? Sollte er sagen, dass er Polizist ist und abkommandiert worden war? Es wäre trotzdem keine Ausrede für sein Verhalten.
»Wie heißt es denn? Junge oder Mädchen?« Es war an der Kleidung nicht auszumachen. Es sah sowieso aus, als hätte Claudia nicht unbedingt viel Geld. Eher wirkte es, als müsste sie sich alles zusammensuchen.
»Es heißt Julia«, gab Claudia zur Antwort.
Falck nickte. »Und darf ich dann fragen …?«
»Christian!«, sagte Claudia und ihr Gesicht verhärtete sich von einer Sekunde zur nächsten.
Ausgerechnet, dachte Falck. Claudia musste es ihm angesehen haben, denn sie verzog ihr Gesicht auf eine Weise, die sagte: Siehst du, deine Schuld.
»Der hat sich auch verkrümelt. Da kannst du ganz beruhigt sein«, meinte sie und war jetzt wirklich sauer. »Der ist einfach weg, abgehauen. Hatte auch allen Grund dazu. Er hat für die Stasi gearbeitet. Der hat die ganzen Leute ausspioniert, die sich in seiner Bude getroffen haben. Das haben wir noch vor der Wende rausgefunden. Sieht so aus, als ob ich ein ganz gutes Arschlochradar habe, oder?« Sie lächelte wieder, aber unglücklich.
Falck überlegte, ob er ihr Hilfe anbieten sollte und ob er dafür verantwortlich war, dass sie ein Kind von diesem Idioten hatte. Dass er Polizist war, konnte er ihr jetzt einfach nicht mehr sagen.
»Hallo!« Bach kam herangeschlendert.
»Das ist Steffi, meine Kollegin!«, stellte Falck sie vor, erleichtert, nicht mehr allein zu sein in dem Moment.
»Och, ist die süß!« Bach warf einen Blick in den Kinderwagen. »Wie heißt sie?«
»Julia!«, antwortete Falck schnell und hätte sich im nächsten Augenblick auf die Zunge beißen können. Was ging ihn das an? Das Baby hatte die ganze Zeit still im Kinderwagen gelegen und schaute Falck aus großen Augen an.
»Wie alt?«
»Neun Monate!«, antwortete Claudia.
»Hübsch, wirklich!« Bach richtete sich auf. »Du, wir müssen!«, mahnte sie und schaute zu Falck.
»Ja, okay. Wohnst du noch da?«, fragte Falck schnell und schaute Claudia an. Er wusste auch nicht, warum er das wissen wollte.
»Ja, noch!«, erwiderte Claudia. »Mach’s gut!«
Wir können ja …, wollte Falck sagen, doch Bach hatte ihn am Ärmel gefasst und zog an ihm.
»Mach’s gut!«, brachte er heraus. Gemeinsam warteten sie, bis Claudia weitergegangen war.
»Danke!«, sagte Falck dann.
»Hübsches Kind, gratuliere!«
»Es ist nicht von mir! Sagt sie.«
»Sie hat deine Augen, ist neun Monate alt. Passt doch.«
»Sie sagt, sie hatte was mit dem anderen …«
»Ja, aber das heißt ja nicht, dass das Kind nicht trotzdem von dir ist!«
Falck versuchte, in Steffi Bachs Gesichtsausdruck zu lesen, ob sie sich lustig über ihn machte oder ob sie mit ihrem Lächeln nur Zorn kaschieren wollte. Welches Bild hatte sie jetzt von ihm? Und warum sollte sie zornig sein? Weil er sich typisch wie ein Mann benahm oder weil sie ihn vielleicht sogar mochte?
Bach ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Komm, fahren wir zurück, Schmidt ist bestimmt schon ungeduldig!«
»Wie hast du denn gelernt, so mit den Leuten zu reden? Wie mit dem Jungen vorhin?«, fragte Falck, um kein peinliches Schweigen aufkommen zu lassen.
»Als ich neu zur Kripo kam, hatte ich nichts zu melden. Aber ich habe gesehen, wie man mit Frauen umging, die gerade vergewaltigt worden waren. Und jetzt stell dir mal vor, dir ist gerade so etwas passiert und du sollst vor einer Riege von Männern aussagen, die sowieso glauben, dass du dich selbst in diese Situation gebracht hast. Warum laufen Sie nachts alleine draußen herum? Warum haben Sie so einen kurzen Rock angezogen? Warum wohnen Sie allein? Das war wirklich unsäglich. Ich habe angeboten, dass ich mit den Frauen rede, und habe es damit erklärt, dass die Frauen bei mir freier reden können und genauere Aussagen machen, weil sie sich mir gegenüber nicht so schämen. Aber ich habe bald gemerkt, dass das gar nicht erwünscht war. In der DDR sollte es solche Vorfälle nämlich nicht geben. Exhibitionisten, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt. Jedenfalls habe ich nie irgendwelche Unterstützung bekommen, wenn ich gegen jemanden ermitteln wollte. Wirklich nur, wenn die Faktenlage ganz offensichtlich war, wenn sie es einfach nicht unter den Teppich kehren konnten. Es gab sogar Frauengruppen, so eine Art Selbsthilfe. Das waren betroffene Frauen, die sich nicht den Mund verbieten lassen wollen. Die haben Umfragen gemacht, welche Frau schon so was erleben musste, Belästigung oder Vergewaltigung, alles inoffiziell natürlich. Aber klar, anstatt dass sich die Stasi um das Problem kümmert, haben sie die Frauengruppen überwacht. Ich hatte jedenfalls viel mit betroffenen Frauen zu tun und auch mit Kindern. Als ich dann deinen Bericht in die Hände bekam, wollte ich der Sache nachgehen. Es gab nämlich schon einige Übergriffe auf Jungen und auf Frauen. Die begannen Ende siebenundachtzig, genau als dieser Rühle aus der Haft entlassen worden war und eine kleine Wohnung in der Neustadt zugewiesen bekam.«
»Ja, aber der Typ, dem ich nachgelaufen bin, der sah kein bisschen wie der Rühle aus. Deswegen denk ich ja, er hatte einen Kumpan.«
»Jedenfalls, als man rausfand, dass ich der Sache nachgegangen bin, hat man mich gleich versetzt. Ich war sowieso schon mehrmals verwarnt worden.«
»Ich habe aber keinem erzählt, dass wir miteinander gesprochen haben!«, verteidigte sich Falck.
»Hab ich auch nicht behauptet«, konterte Bach schnell, so schnell, dass klar war, dass sie genau das vermutet hatte.
»Vielleicht war das dieser Christian, unten im Erdgeschoss, wenn der wirklich von der Stasi war?«
»Verrückt, was? Wer weiß, wer noch alles bei denen war. Und wer weiß, ob wir nicht alle noch rausfliegen? War nicht falsch, was die Suderberg gesagt hat: Irgendwie hatten wir ja alle mal mit dem Verein zu tun.«