»Nicht so berauschend eure Ergebnisse in Sachen wegge Leiche, was?«, fasste Schmidt am nächsten Morgen zusammen und legte die Berichte weg, die Falck und Bach am Tag vorher kurz vor Dienstschluss noch verfasst hatten. Er rauchte bereits wieder, interessanterweise unterstützt von Hauptkommissarin Suderberg, die sich ebenfalls eine Zigarette angezündet hatte. Falck und Bach hoben fast gleichzeitig die Schultern.

»Dafür seid ihr weitergekommen im Fall Rühle. Damit lässt sich arbeiten. Prima!« Schmidt schürzte die Lippen.

Falck hob die Hand. »Wenn ich dazu was sagen darf …?«

»Bei uns herrscht Redefreiheit, da braucht man sich nicht zu melden«, polterte Schmidt gut gelaunt.

Falck stutzte. Die ungewöhnlich aufgekratzte Art des Hauptmanns irritierte ihn. Die westdeutsche Kollegin zeigte sich dagegen unerwartet still. Falck fiel auf, dass Schmidt Pall Mall rauchte, die er ganz offensichtlich von der Suderberg bekommen hatte. Was war denn hier los?

»Ich glaube nicht, dass Rühle die Frauen überfallen hat. Der ist doch …«

»… stockschwul, ich weiß, aber warum sollte er deshalb nicht der Täter sein? Die Aussagen der beiden Frauen sind schon sehr genau. Vor allem die Sache mit der abgebrochenen Zahnecke. Lassen wir ihn mal schmoren. Der Haftrichter hat die U-Haft abgesegnet. Rühle tobt gerade durch die Zelle.«

»Der schiebt einen Affen«, kommentierte Suderberg. Sie trug heute einen grünen Pullover und fast weiße Jeans. Ihr

»Was macht er?«, fragte Schmidt.

»So nennen wir das, wenn ein Junkie runterkommt und keinen Stoff hat.«

»Der Junkie kommt runter?« Schmidt sah sie fragend an.

Suderberg nahm einen letzten Zug und drückte dann ihre Kippe aus. »Das bezeichnet einen Drogensüchtigen, der von seinem Trip runterkommt, also im Prinzip nüchtern wird. Ein kalter Entzug. Wir sagen auch Cold Turkey. Es gibt bei uns dafür Ersatzdrogen, die können sie sich in der U-Haft oder beim Entzug verabreichen, damit es erträglicher wird. Das ist wirklich eine Qual, das sag ich Ihnen.«

»Und was nimmt der Rühle?«

»Heroin, würde ich sagen. Haben Sie die Einstiche in der Armbeuge gesehen?«

»Ich dachte, das ist ein Ausschlag.«

Suderberg schüttelte den Kopf.

»Aber wie kann der Mann denn so schnell süchtig werden? Die Mauer ist doch noch keinen Monat offen.«

Suderberg seufzte. »Das geht ganz schnell. Heroinabhängig ist man im Prinzip vom ersten Mal an«, sagte sie leise. »Die Szene ist sehr mobil. Hier öffnet sich gerade ein gigantischer Markt. Nicht nur für Fernseher, Autos und Pornografie, sondern auch für Drogen aller Art. Und die Leute im Osten haben … wie soll ich sagen … so einen Nachholbedarf, die würden alles probieren!«

»Na ja, es ist ja nicht so, dass wir hier alle bescheuert sind«, unterbrach Schmidt sie.

»Das hat überhaupt nichts mit bescheuert sein zu tun. Und fühlen Sie sich nicht gleich wieder angegriffen. Es ist so, und es ist völlig normal. Auch Konsumieren muss gelernt sein. Woher hättet ihr denn das lernen sollen?« Sie sah auffordernd

Es war still im Büro, nachdem Suderberg ihren Vortrag beendet hatte.

»Haben Sie denn etwas erreichen können?«, fragte Bach in die Stille hinein.

Schmidt übernahm sofort. »Ja und nein. Dieser Torsten Gwisdek hatte offensichtlich Kontakt mit einem Mann, dessen Beschreibung auf Thomas Kallbusch passt. Das wissen wir nur von verschiedenen Aussagen. Offenbar war Gwisdek auch gelegentlich Gast in der Kneipe, in der Kallbusch ums Leben kam. Ob sie da zusammensaßen, wurde nicht bestätigt. Wir wissen inzwischen, dass Kallbusch in einer großen Wohnung in der Nähe der Leipziger Straße übernachtet hat, die einer alten Frau gehört. Also, der Frau gehört das ganze Haus. Gestern jedenfalls war sie nicht anzutreffen. Wir wollen heute versuchen, mit ihr zu sprechen. Kallbusch soll der Frau fünfzigtausend D-Mark dafür angeboten hat.«

Bach pfiff anerkennend. »Fuffzigtausend!«

»Das ist nichts!« Suderberg schüttelte den Kopf.

»Für Sie vielleicht!«

»Nein, im Ernst. Sie denken, das ist viel Geld, aber in ein paar Jahren ist die Bude eine Million wert.«

Bach schüttelte energisch den Kopf. »Nie im Leben!«

»Gwisdek jedenfalls soll gesehen worden sein. Er und ein

»Darf ich mal etwas sagen?« Falck erhob sich.

»Wollen Sie jetzt auch eine Rede halten?«, fragte Schmidt feixend.

Aber Falck war nicht bereit, sich jetzt ablenken zu lassen. Er hatte gerade so etwas wie eine Eingebung. »Dieser Rühle. Können wir den herholen? Jetzt?«

Suderberg sah ihn unwillig an. »Warum denn das? Wollen wir nicht das Haus der alten Frau durchsuchen?«

»Es ist wichtig, glauben Sie mir! Es geht um Mord oder wenigstens um Totschlag!«

»Und wen soll der Rühle totgeschlagen haben?«, fragte Schmidt.

»Den Wetzig! Die Akte von damals, wo ist die?«

Schmidt zuckte mit den Achseln und wirkte plötzlich verlegen. »Hast du doch selbst weggeräumt vorgestern.«

»Die Akten, die hier lagen, waren von der Mordkommission? Haben Sie die mitgenommen, als Sie hierherversetzt wurden?« Falck war verblüfft.

»Das waren meine Fälle«, versuchte Schmidt sich zu verteidigen. »Und der Fall Wetzig war geklärt! Ich weiß nicht, was der Rühle damit zu tun haben soll!«

»Wollen wir quatschen oder handeln?«, mischte Bach sich ein. »Ich hole den Rühle her. Ihr sucht die Akte! Wollen Sie mitkommen, Frau Hauptkommissarin? Frauenpower!«

 

Heiko Rühle ging es schlecht. Eigentlich hätte er in ein Krankenhaus gehört. Der Schweiß lief ihm über die Stirn, er zitterte und hatte sich in seiner Zelle so oft erbrochen, dass sein

»Haben Sie das verstanden?«, fragte Schmidt schon das zweite Mal. »Sie wurden von zwei Zeugen identifiziert. Und ich wette, wenn wir weitere Zeugen befragen, werden diese das bestätigen. Das bedeutet erstens, Sie bleiben hier in U-Haft, und zweitens, Sie werden für noch ein paar Jahre in den Knast gehen.«

Rühle reagierte nicht, nur ein paar Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Habt ihr nicht irgendwas?«, krächzte er.

»Wir könnten was besorgen, wenn Sie ein bisschen mitmachen«, sagte Suderberg und erntete von allen drei ostdeutschen Polizisten erstaunte Blicke.

Rühle sah gequält und doch hoffnungsvoll auf.

»Lars Burghardt kennen Sie schon lange?«, fragte Falck und wollte den Moment nutzen.

Rühle nickte.

»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm? Ist er ein Freund, sind Sie ein Paar?« Damals hatte Burghardt die Haare ganz kurz und keinen Bart getragen, klar, dass er ihn nicht gleich als den Mann von damals erkannt hatte, dem er durch den Alaunpark gefolgt war.

Rühle verzog das Gesicht bei der letzten Frage. Das bestätigte Falcks Vermutung.

»Sie haben Burghardt im Gefängnis kennengelernt? Sechsundachtzig etwa, hab ich recht?«

»Fünfundachtzig«, krächzte Rühle. »Ich wurde in seine Zelle verlegt.«

»Siebenundachtzig wurden Sie entlassen, Burghardt ein paar Monate später. Anfang achtundachtzig?«

Rühle nickte.

»Damit habe ich nichts zu tun«, presste Rühle hervor.

»Aber mit den Fällen achtundachtzig schon. Mindestens zwei Frauen wurden von Ihnen angegriffen!«

Hinter Rühle fuchtelte Schmidt jetzt herum und klopfte dann fragend auf die Akte Wetzig. Falck nickte, winkte ab.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte er weiter. »Sie haben den Frauen weder etwas gestohlen, noch haben Sie sexuelles Interesse an ihnen. Es ist doch offensichtlich, dass Sie homosexuell sind.«

Nun hatte Bach im Hintergrund einen Einwand, wiegte den Kopf. Falck winkte auch sie weg, er wusste, dass es auch bisexuelle Menschen gab. Das Herumgefuchtel der Kollegen im Hintergrund störte jedoch nur.

»Was wollen Sie denn jetzt hören?«, fragte Rühle und krümmte sich unter einem Krampf.

»Ich will auf Folgendes hinaus: Burghardt ist nicht wirklich Ihr Partner. Er unterdrückt Sie, er zwingt Sie zu Handlungen, die Ihnen nicht gefallen. Er hat Sie veranlasst, die Frauen anzugreifen, vermutlich aus Spaß, um zu sehen, wie hörig Sie ihm sind. Er lässt Sie Handtaschen stehlen oder Einbrüche begehen. Sie müssen Schmiere stehen, wenn er sich an kleinen Jungs vergreift, holt Fremde in Ihre Wohnung. Ich wette, Sie sind sogar für ihn geschminkt. Burghardt hat Sie auch umgehend zu einem Heroin-Junkie gemacht, damit Sie noch abhängiger werden.«

Rühle hatte begonnen, unaufhörlich den Kopf zu schütteln, und auch Bach und Schmidt hinter ihm verzogen die Gesichter. Nur Hauptkommissarin Suderberg schien interessiert zuzuhören und nachzudenken, stellte Falck erstaunt fest.

»Spritzen Sie sich selbst?«, fragte sie Rühle jetzt. »Kaufen Sie das Zeug? Nein, warten Sie, das macht Burghardt, richtig?«

»Das ist mir egal, ich will wissen, ob es so ist!«, übernahm Falck wieder.

Rühle schwieg.

»Also gut, wenn wir jetzt die Wohnung durchsuchen, finden wir dann einen blauen und einen braunen Motorradhelm? Sind Sie im Besitz einer beigefarbenen Simson?«

Rühle schüttelte den Kopf. »Nee, nichts davon. Ich weiß auch nicht, was das soll. Buchten Sie mich doch ein, wegen sexueller Belästigung oder Diebstahl. Mir egal. Lars ist vielleicht manchmal gemein, aber der hat sich immer um mich gekümmert. Als Einziger. Alle anderen haben immer nur auf mir herumgehackt. Und ich sag nix mehr. Sie haben eh nichts für mich.«

Nun war es Falck, der den Kopf schüttelte. »Nein, es geht hier nicht um sexuelle Belästigung oder Diebstahl. Es geht um Mord!«

Rühle zuckte zusammen.

»Wo waren Sie am Morgen des zehnten Mai achtundachtzig? Ich kann es Ihnen sagen«, beantwortete Falck seine eigene Frage. »Ich habe Sie gesehen. Sie waren auf der Prießnitzstraße im Haus vom ABV Wetzig. Sie haben ihn über das Geländer geworfen, Sie und Burghardt.«

Rühle konnte nicht antworten, er schüttelte nur heftig den Kopf.

»Ich habe Sie gesehen. Ihr Moped, Ihre Helme. Ich war bei Ihnen im Hinterhaus auf der Pulsnitzer, ich habe Sie reden hören, Sie und Burghardt. Ich habe Sie auf dem Moped gesehen, eindeutig. Sofern ich weiß, war Wetzig vierundachtzig maßgeblich an der Verhaftung Burghardts beteiligt, er hat ihn des Einbruchdiebstahls und des Raubes überführt. Burghardt wollte sich dafür rächen. Sie haben Wetzig in seinem Haus

»Nee, nicht, so war das nicht!«, keuchte Rühle.

»Wie denn dann? Es ist eindeutig nachvollziehbar. Das ist Mord oder wenigstens Totschlag, dafür gibt’s locker zwanzig Jahre.«

»Nein!«, schrie Rühle auf und Spucke flog durch die Luft. »Wir wollten ihm nur Angst machen.«

»Sie oder Burghardt? Es müsste doch in Ihrem Interesse gewesen sein, unauffällig zu bleiben?«

»Lars wollte ihm Angst machen. Er wollte sich rächen an ihm, dafür, dass er ihn in den Knast gebracht hat. Er wollte ihm klarmachen, dass er mit allem rechnen musste. Aber glauben Sie mir, wir wollten ihm nur Angst machen. Der hatte Diebesgut unterschlagen. Der hat Lars verhaften lassen, aber sich selbst bereichert. Lars wollte ihm drohen, dass er Bescheid weiß, und wenn er uns nicht in Ruhe ließe, wollten wir ihn verzinken.«

»Und das wollten Sie, indem Sie ihn übers Geländer hängten?«

»Ja, Lars wollte das«, schluchzte Rühle kleinlaut. »Aber ich konnte ihn nicht halten. Der war so unglaublich schwer, sein Bein rutschte mir aus der Hand, der Schuh flog weg und plötzlich lag er unten. Das war keine Absicht, das müsst ihr mir glauben!«