»Das war also nichts Sexuelles?«, fragte Schmidt.
Am nächsten Morgen waren sie alle drei wieder pünktlich zum Dienst erschienen, obwohl die Nacht für jeden nur kurz gewesen war. Schmidts eine Gesichtshälfte zierte immer noch ein großes Pflaster. Falck unterdrückte mit Mühe ein Gähnen und schüttelte den Kopf. Bach konnte weniger Selbstbeherrschung aufbringen und gähnte, dass ihr der Kiefer knackte.
»Vollkommen kaputt, der Typ. Der hat mit diesen Mumien gelebt wie mit einer Familie. Er hat sogar gekocht für sie und ihnen Klamotten gekauft«, erklärte sie und schüttelte sich in der Erinnerung daran.
Falck tat der Mann leid. Wie er geweint hatte, als die Leichenwagen gekommen waren, um die drei Toten abzuholen, das Bild brachte Falck nicht aus seinem Kopf. Das war für den Mann tatsächlich, als entrisse man ihm die Liebsten. Die Trauer war aus ihm herausgebrochen, als er Abschied nehmen musste, und er hatte ein Bild des Jammers geboten. Falck konnte die Verzweiflung von Schütt nachempfinden. Der saß jetzt mutterseelenallein in der U-Haft-Zelle und wusste nicht, wie es mit ihm weitergehen würde. Er hatte etwas für immer verloren.
»Aber der Kallbusch war nicht unter den Toten?«, fragte Schmidt nach.
»Bisher haben wir Frau Olpe, Alexandra Beyer und eine Tote, die vermutlich seit siebenundachtzig schon verschwunden ist, identifiziert. Das muss noch geprüft werden. Mehr Tote gibt’s vorerst nicht. Aber noch ist nicht alles durchsucht, er hatte noch einen Bungalow und eine Garage, in der ein Wartburg steht. Würde mich aber wundern, wenn wir Kallbusch fänden.«
»Saubere Leistung! Erst den Fall Wetzig aufgeklärt, Burghardt dingfest gemacht und nun noch diese Sache.«
Falck merkte auf. So viel Lob aus dem Mund von Schmidt klang schon fast verdächtig. Und prompt relativierte der es mit einer Portion Ironie. »Direkt ordensreif. Für den Aufbau des Sozialismus!«
»Wo ist denn eigentlich Frau Suderberg?«, fragte Bach schnell, ehe Falck sich ärgern konnte.
Schmidt hob einen Zettel hoch. »Bin in Werkstatt. Probleme mit dem Wagen«, las er vor. »Der hatte vorgestern schon solche Aussetzer gehabt. Sie behauptete, unser Benzin sei schlecht.« Schmidt lachte bei dem Gedanken daran auf. »Ich frage mich, ob die in einer hiesigen Werkstatt mit einem BMW klarkommen? Die haben doch gar keine Ersatzteile. Ach, noch was. Auf der Bautzner ist es übrigens gestern ganz glimpflich ausgegangen. Keine Toten, kaum Verletzte. Die meisten haben sich beim Sturm der Stasizentrale selbst verletzt, hauptsächlich am Glas geschnitten. Jetzt müssen die Schäden erst mal beziffert werden. Es wurde schon einiges zerstört, vor allem gingen viele Akten verloren. Ob auch Waffen abhandengekommen sind, wissen sie noch nicht. Einer der Männer dort hat sich wohl in der Waffenkammer verschanzt und gedroht, jeden niederzuschießen, der die Tür aufzubrechen versucht. Beinahe ein Held. Hätte noch gefehlt, dass hier ein Dutzend Kalaschnikows und Pistolen in Umlauf kommen. Aber das ist alles Hörensagen. Derzeit halten sie das Gebäude besetzt.«
»Wie gehen wir weiter vor?«, fragte Falck und merkte selbst, dass er eine Spur beleidigt klang. Er hätte nichts dagegen gehabt, noch ein bisschen länger über seinen Ermittlungserfolg zu sprechen. Geschlafen hatte er dafür erstaunlich gut. Vermutlich neutralisierten sich die verrückten Ereignisse des Vortages gegenseitig, übrig geblieben war der Gedanke, dass er womöglich Vater geworden war, und die Frage, ob er seiner Mutter davon erzählen sollte. Sie war eine liebevolle Frau, die mit ihm, ihrem Jüngsten, selten geschimpft hatte und seine Entscheidung für die Polizeilaufbahn als Erste akzeptiert hatte. Doch wie sie auf diese Nachricht reagieren würde, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.
»Mir ist ganz schlecht vor Müdigkeit«, murmelte Bach und stand auf, um hastig das Zimmer zu verlassen.
»Steffi, kannst du Kaffee kochen? Frau Zille ist heute nicht da!«, rief Schmidt ihr hinterher. »Sie hat Urlaub und will in den Westen, um Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Anscheinend hat sie Verwandtschaft in Wolfenbüttel«, brummte Schmidt mehr zu sich.
Einmal mehr fühlte Falck sich nicht ernst genommen. Er wollte wissen, wie es mit dem Fall weiterging, und nicht über die Einkaufsgepflogenheiten von Frau Zille sprechen.
»Also, Kallbuschs Leiche ist noch immer verschwunden«, resümierte er. »Der Tote im Keller gestern ist, soweit ich den Unterlagen entnehme, nicht Kallbusch, sondern vermutlich sein Leibwächter. Genauso, wie es die Suderberg gesagt hat. Können wir nicht noch einmal die Listen der Zeugen durchgehen? Aller Zeugen, vom Todesfall in der Kneipe und vom Hausbrand gestern. Es ist zwar nervig und kostet viel Zeit, aber wir müssen da genauer nachfragen, anstatt hier nur herumzusitzen.«
Schmidt schnappte sich die Akte von seinem Tisch und warf sie auf Falcks Tisch. »Nur zu.«
Falck seufzte, schlug die Akte auf und zuckte zusammen, als die zweite Akte angesegelt kam. Steffi Bach war zurückgekommen und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie sah aus, als könnte sie einen Tag Urlaub vertragen.
»Hast du Kaffee gemacht?«, fragte Schmidt. Bach schüttelte nur den Kopf. Missmutig erhob sich Schmidt.
»Dann mach ich es eben«, knurrte er, »bin ja nur der Chef. Macht halt jeder, was er will. Ich sag’s ja: Anarchie.«
Bach wartete, bis er draußen war. Dann rollte sie mit ihrem Stuhl zu Falck hinüber.
»Also, im Waschbecken im Frauenklo, da war ein Rest Zahnpasta zu sehen. Eindeutig Westzahnpasta, mit rotem und blauem Zeug drin. Ich schwör dir, die Suderberg hat heute Nacht wieder hier gepennt.«
»Oder hat sich einfach nur die Zähne geputzt? Vielleicht hatte sie einen Zahnarzttermin oder Zahnschmerzen? Würde einiges erklären, oder?«
Bach war aufgestanden und gab ihm mit dem Handrücken einen Klaps an den Oberarm. »Komm, wir klären das!«
»Wie meinst du das denn jetzt?«
»Steh auf, zieh deine Jacke an, wir klären das! Gestern hab ich bei dir mitgemacht, heute machst du bei mir mit!«
Falck gab sich geschlagen. »Und Schmidt?«
»Dem sagen wir über Funk Bescheid. Wir sind ja gleich wieder da!«
»Wo wollen wir hin?«
»Ins Bellevue!«
»Willst du fragen, ob sie dort gemeldet war? Das dürfen sie gar nicht sagen!«
»Aha, heute sind wir wohl kein Schimanski mehr? Wir werden es doch sehen!«
Es waren nur wenige Minuten bis zum Hotel. Sie hätten eigentlich laufen können. Bach parkte den Trabant auf dem Hotelparkplatz und stellte den Motor ab.
»Hast du Skrupel? Musst du nicht! Neue Zeiten, neue Methoden!« Sie zwinkerte Falck zu.
Gemeinsam betraten sie das Hotel und gingen schnurstracks auf die Rezeption zu.
»Ausweis!«, raunte Bach. Hastig holte Falck seinen Dienstausweis heraus.
»Guten Tag, Kripo Dresden«, stellte sie sich der jungen Frau hinter der Empfangstheke vor und zeigte ihren Ausweis vor. »Wir müssen jemanden sprechen, der bei Ihnen im Hotel Gast ist. Es ist eine dringende Angelegenheit.« Bach schaute die Angestellte streng an.
»Also, ich weiß nicht …« Die junge Frau war sichtlich verunsichert.
»Es handelt sich um jemanden aus der Bundesrepublik Deutschland, Frau Sybille Suderberg. Es ist wirklich sehr dringlich!«
»Da muss ich fragen!« Die Rezeptionistin verschwand ins Büro.
»Das klappt nie«, flüsterte Falck.
»Werden wir sehen.« Bach stieß ihn an. Aus dem Büro war ein älterer Mann gekommen, offenbar der Vorgesetzte der jungen Frau.
»Es tut mir leid, wir können Ihnen da nicht weiterhelfen«, sagte er. »Eine Frau dieses Namens ist nicht bei uns im Hotel.«
»Sie meinen, sie ist nicht mehr hier? Wir haben gesicherte Informationen, dass sie hier sein muss.«
»Nein, wir hatten keinen Gast mit diesem Namen!«
»Es handelt sich um eine allein reisende Frau mit hessischem Dialekt, groß, blond, fährt einen großen dunkelgrünen BMW.«
»Nein, wirklich nicht, an so jemanden kann ich mich nicht erinnern.«
»Was soll das denn jetzt bedeuten?«, sprach Falck seine Gedanken draußen laut aus. »Ist das eine Verwechslung? Vielleicht ist sie in einem anderen Hotel?«
»Ich glaube vielmehr, sie macht uns was vor«, sagte Bach nachdenklich. »Lass uns erst mal zurückfahren!«
»Seid ihr bescheuert? Haut einfach ab, ohne was zu sagen!« Schmidt war stocksauer, als sie das Büro betraten.
»Jetzt aber mal halblang, wir sind ja keine Leibeigenen«, fuhr Bach ihm über den Mund. »Wir mussten nur mal schnell was überprüfen. Die Suderberg wohnt nämlich gar nicht im Bellevue. Und ich schwöre, die hat die letzten beiden Nächte hier verbracht. Im Büro!«
»Die Suderberg?« Schmidt riss verwundert die Augen auf. Er lehnte sich zurück, nahm sich eine Kippe und versank in Gedanken. Nach ein paar Augenblicken raffte er sich auf.
»Auf geht’s, Falck, besorg uns mal ein Telefonbuch! Unten vielleicht, beim Pförtner, oder klau es aus einer Telefonzelle.«
»Ich hab eins«, unterbrach ihn Bach, holte es aus ihrer Schreibtischschublade und krachte ihrem Chef den dicken Wälzer auf den Tisch.
Der knallte ihn umgehend auf ihren Tisch zurück. »Alle Hotels raussuchen, anrufen, nach der Frau fragen! Ich geh mal in die Direktion und frag nach, was sie an weiteren Informationen über die Frau haben.«
»Hier auch nicht«, seufzte Bach und legte auf. »Die nächste!«
Falck schüttelte den Kopf. »Das war die letzte Nummer der großen Hotels. Die haben wir alle durch. Jetzt müssten wir noch in der ganzen Umgebung herumtelefonieren. Aber es gibt mehr Hotels, als du denkst. Noch dazu im Umland.«
Bach rieb sich die müden Augen. »Das ist sinnlos. Ich sag ja, die Frau hat kein Zimmer, sie schläft immer hier.«
Beide sahen auf, als die Tür aufging und Schmidt zurückkam. Schweigend setzte er sich an seinen Platz, starrte die Wand an und vergaß sogar, sich eine Zigarette anzuzünden. Bach sah Falck kurz fragend an, der hob nur ratlos die Schultern.
»Also, Genossen«, sagte Schmidt schließlich, und es klang alles andere als witzig. Langsam drehte er sich zu ihnen um und grinste unglücklich, wie jemand, der gerade ein Auto geschrottet hat, das ihm nicht gehörte. »Wir sind hier jemandem mächtig auf den Leim gegangen. Es gibt gar keine Anfrage zur Ermittlungsunterstützung. Weder aus Frankfurt am Main noch sonst woher aus dem Westen. Eine Hauptkommissarin Suderberg gibt es immerhin, aber mehr wollten die drüben nicht rausrücken, wegen des Schutzes persönlicher Daten oder so einem Quatsch. Sicher ist aber: Es gibt keinen Ermittlungsauftrag, schon gar nicht hier in Dresden. Niemand hat die Frau hierhergeschickt, niemand hat sie hier in Empfang genommen. Wer auch immer die Frau ist, sie hat sich hier eingeschlichen und uns einen mordsmäßigen Bären aufgebunden. Weder bei Neubert in der Mordkommission noch bei irgendeinem anderen in der Direktion ist die Frau gewesen. Leute, da haben wir uns mal so richtig lächerlich gemacht.«
»Aber wie kommt die hier überhaupt rein?«, fragte Bach leise.
»Genau so, wie sie es gemacht hat. Ausweis vorgezeigt, großkotzig, frech, selbstbewusst, Wessi halt, und alle kuschen. Ich sage euch, das nehme ich nicht allein auf meine Kappe! Die Pförtner unten haben sie durchgelassen. Und das Schreiben, das sie mir in die Hand gedrückt hat, sah auch echt aus.« Schmidt schüttelte den Kopf, dann warf er einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. »Schon zehn, und ich hab noch nicht mal gefrühstückt. Ich hol mir ’ne Bocki. Kommt jemand mit zum Kiosk?«
Falck hob zögernd die Hand. Er hatte auch Hunger. Vielleicht nicht gerade auf Bockwurst, aber auf eine Karlsbader Schnitte. Da klingelte das Telefon, und Schmidt, der schon bei der Tür war, stöhnte entnervt auf. Doch Bach hatte schon abgehoben.
»Kriminaldauerdienst«, meldete sie sich. »Alles klar«, sagte sie kurz darauf gedehnt und legte langsam auf.
»Was is?«, fragte Schmidt ungeduldig.
»Das wird Ihnen nicht gefallen.« Steffi Bach verzog das Gesicht, um dann die Augenbrauen hochzuziehen. »Oder vielleicht erst recht.«