Am Tag drauf stand Falck nachmittags im Haus in der Böhmischen Straße. Er atmete noch einmal durch, dann hob er die Hand, um zu klopfen. Die Haustür hatte offen gestanden, die Erdgeschosswohnung war leer. Es gab anscheinend keine weiteren Bewohner.
Er zögerte. So konnte es nicht bleiben. Sie mussten sich aussprechen, auch auf die Gefahr hin, dass … Dass, was eigentlich? Dass er eingestehen müsste, dumm und unverantwortlich gehandelt zu haben?
Er klopfte. Vorsichtig zuerst, dann etwas kräftiger. Schritte näherten sich der Tür. Claudias Stimme war zu hören.
»Wer ist da?«
»Tobias!«
Eine Weile blieb es still. Dann wurde die Sicherheitskette entfernt und der Schlüssel drehte sich im Schloss. Claudia öffnete die Tür einen Spaltbreit.
»Was willst du?«
Darüber hatte Falck noch gar nicht so wirklich nachgedacht. »Ich wollte gern reden mit dir!«
»Ja und? Worüber?«
»Ich wollte mich entschuldigen. Und ich muss dir etwas gestehen. Ich bin gar kein Heizer. Ich bin Polizist. Also, ich war es schon letztes Jahr!«
Claudia sah ihn stumm an. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. »Das ist gemein, weißt du das?«
Falck nickte mechanisch, fühlte sich aber nicht besser damit. Er könnte so viel erzählen, von seinem Auftrag damals, wie sehr Ulrike ihn verletzt hatte, dass er zum Lehrgang delegiert worden war, doch das hätte nichts entschuldigt.
»Also, falls du Hilfe brauchst … Ich meine … Ich will sagen … Ich helfe dir natürlich. Auch finanziell.«
»Ich habe keine Kohlen mehr. Ich verheize schon die Möbel aus der Wohnung unten.«
»Wirklich?« Falck war entsetzt. Damit hatte er nicht gerechnet.
Claudia nickte düster. »Ich habe schon vor Monaten eine Wohnung mit Zentralheizung beantragt. Aber nichts passiert.«
»Pass auf, ich kümmere mich. Ich besorge dir Kohlen. Vielleicht kann ich auch …« Er durfte ihr nicht zu viel versprechen. Er konnte ihr ja keine Wohnung besorgen.
Schweigend standen sie voreinander.
»Sag mal, darf ich sie mal sehen?«, fragte Falck dann leise.
Claudia nickte, ohne zu zögern, und öffnete die Tür für ihn. »Komm rein, sie schläft aber gerade.«
Falck folgte ihr durch den Flur ins Wohnzimmer, dem einzigen Raum, in dem es merklich wärmer war. Ein Kinderbett stand neben der Couch. Auf einmal fiel Falck auf, was ihm vor einem Jahr nicht bewusst gewesen war. Claudia hatte wirklich kein Geld. Sie lebte sehr spartanisch, alles hier war vermutlich aus zweiter Hand.
»Hast du niemanden? Deine Eltern?«
Claudia schüttelte den Kopf. »Die meinten, ich soll die Suppe mal schön alleine auslöffeln.« Sie kniff die Lippen zusammen und hob traurig die Schultern.
Im Kinderbettchen regte sich jetzt was. Die ungewohnte Stimme im Raum hatte das kleine Mädchen aufgeweckt, ein kleiner Arm kam unter der Decke hervor und fuchtelte herum.
Claudia beugte sich über das Bett, schlug die Decke zurück und nahm das Baby heraus. »Psst, meine Kleine, nicht weinen. Mami ist hier«, flüsterte sie und wiegte das Kind in ihren Armen.
Falck versuchte einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen, als ob er etwas darin sehen könnte. Er erkannte nichts und er wagte auch nicht zu fragen. War es vielleicht doch Christians Kind? Oder hatte sie das nur im Zorn behauptet, weil sie ahnte, wie ihn das verletzen würde?
»Magst du sie mal halten?«, fragte Claudia, als ob sie seine Gedanken lesen könnte. Schon drückte sie ihm das Baby sanft gegen den Oberkörper und zeigte ihm, wie er das Baby halten sollte. »Keine Angst, sie geht nicht gleich kaputt.«
Falck hielt die Luft an. Das war ein kleiner Mensch, den er da in seinen Armen hielt, so leicht und warm und doch so schwer. Sein Herz zog sich zusammen und eine große warme Welle durchflutete seinen ganzen Körper.
Er sah auf, wollte etwas sagen, doch er brachte keinen Ton heraus.
»Siehst du, sie beschwert sich gar nicht«, flüsterte Claudia. »Magst du dich setzen? Ich kann Tee machen.«
Falck nickte und setzte sich vorsichtig hin.