Noch als er die Treppe hinunterging, fragte er sich, wie er es anstellen sollte. Christians Einladung war so beiläufig gewesen, sie konnte längst vergessen sein. Claudias Einladung konnte nicht gelten, es war nicht ihre Wohnung. Was sollte er sagen, wenn jemand fragte, wer er sei. Von unten kam Stimmengewirr, laute Musik, Klirren. Die Feier war längst im Gang. Außer den beiden Namen kannte er niemanden.
Seine Bedenken sollten noch wachsen. Die Tür zu Christians Wohnung war weit offen, im Flur standen junge Leute, bekleidet mit Jeans und Jacken, mit weiten Stoffhosen und Lederwesten. Falck sah in erster Linie Männer mit wilden Vollbärten und langen Haaren. Gerade flog die Haustür auf und eine weitere Gruppe betrat das Haus. Sie trugen Bierkästen mit Felsenkeller Pils und wurden mit großem Hallo begrüßt. So gut wie jeder von ihnen rauchte.
Falck blieb auf der letzten Stufe stehen. Vom Hof kamen zwei junge Frauen Arm in Arm durch die Hintertür, lachten beide laut auf, während die eine noch versuchte, die Pointe ihrer Geschichte zu erzählen. Claudia und Christian waren nirgendwo zu sehen.
»Zu wem gehörst denn du?«, fragte eine der Frauen.
»Zu Christian«, erwiderte Falck.
»Na, komm nur mit rein! Traust du dich nicht?«
»Na klar, doch, schon!« Falck zwang sich zu forschem Auftreten. Er folgte den zwei Frauen in die Wohnung, vorbei an den Männern im Korridor, die Bierflaschen in den Händen hielten und Zigaretten im Mundwinkel hängen hatten. Schon im Flur hatte Falck die Frauen aus den Augen verloren. Er drückte sich zum Wohnzimmer durch. Hier war die Musik am lautesten. Ein englischer Sänger. Falck kannte ihn nicht.
Im nächsten Moment überraschte er sich selbst mit seiner beherzten Frage.
»Wo gibt’s hier denn was zu trinken?«, fragte er in eine Gruppe Leute hinein.
»In der Küche!«
Falck schob sich aus dem Wohnzimmer wieder hinaus und drängte sich in die Küche. Auch hier rauchten alle, doch es roch auch nach Essen.
»Was willst du denn?«, fragte eine junge Frau, die Getränke ausgab. Sie trug einen Rock und eine Tunika mit ungarischer Blumenstickerei. Ihr langes dunkles Haar floss ihr um die Schultern.
»Was gibt es denn?«
»Bier, Pfeffi oder Curaҫao.«
Bier wollte Falck nicht, das würde ihn müde machen, und bei der Wahl zwischen einem grünen oder blauen Likör, entschied er sich für Grün. Die junge Frau reichte ihm ein Glas, eindeutig viel zu groß und doch halb gefüllt.
»Hast du auch noch Limo oder Selter?«
»Limo, selbstgemacht!« Die junge Frau lächelte ihn an. Trotz der Enge und des Lärms war sie freundlich und geduldig. »Wer bist du eigentlich? Hab dich noch nie gesehen.«
»Tobias. Ich wohne jetzt da oben.« Er zeigte über sich zur Decke.
»Ich bin Corina. Und was machst du so?«
»Bin Heizer, an einer Schule.«
»Echt? Siehst aus, als hättest du studiert!«, sagte sie und meinte es offenbar ernst.
Falck blieb gelassen. »Bin geext worden. War denen zu frech.«
Corina verzog den Mund und verdrehte die Augen. »Immer dasselbe. Sobald man mal den Mund aufmacht, fliegst du raus. Aber ich sag dir, rede hier nicht mit jedem darüber, manchen kannst du nicht trauen.«
»Wie meinst du das?«
»Na, du weißt schon, die versuchen doch immer, jemanden reinzuschmuggeln.«
»Aha.« Falck versuchte, ein neutrales Gesicht zu machen, trank dann vom Likör und verzog das Gesicht. Der Pfefferminzgeschmack war überwältigend.
»Ich hab noch anderes Zeug. Goldbrand und so«, sagte Corina und grinste.
»Nee, lass uns mal sachte anfangen, ich bin das nicht so gewöhnt.« Falck trank schnell einen Schluck von der Limonade hinterher, die weniger süß war, als er vermutet hatte, fast bitter.
»Kräuterlimonade«, erklärte Corina knapp und lachte. Dann wurde sie plötzlich ernst und beugte sich verschwörerisch zu ihm hinüber. »Sag mal, wenn du Heizer bist, kannste doch ab und an ein paar Briketts mitbringen?«
»Na ja«, antwortete Falck zögernd, »bin ja erst ganz neu dort!«
Corina lachte laut auf und verpasste ihm einen Klaps auf den Oberarm. »Ich hab doch nur Spaß gemacht!«
»Ach so«, murmelte Falck verlegen. »Wo sind denn eigentlich Christian und Claudia?«, fragte er nach dem nächsten Schluck.
»Die kommen schon noch. Willste Waffeln?«, fragte sie und deutete auf mehrere große Glasschüsseln mit Waffelstücken.
»Wo habt ihr denn so viele Waffeln her?«, fragte Falck und nahm sich eine mit weißer Cremefüllung.
»Olaf, der Große dort, der arbeitet bei Rapido in Radebeul. Da dürfen sie den Waffelbruch mitnehmen. Das war am Anfang ganz toll, aber nach ein paar Tagen kannste das Zeug nicht mehr sehen. Siehst ja, die will keiner mehr. Nimm dir, so viel du willst.«
Falck sah jetzt eine gute Gelegenheit, an seinen Auftrag zu denken. »Stimmt es eigentlich, dass hier ein ABV umgebracht wurde?«
»Ach, wer weiß, ob das stimmt.« Sie tat es mit einer Handbewegung ab.
»Hat mir einer erzählt hier.«
»Ach, na ja. Die sagen einem ja nichts, da entstehen nur Gerüchte.«
»Hm, stimmt.« Im Treppenhaus wurde es plötzlich laut. Jemand pfiff, andere klatschten. Aus der Wohnung drängten sich jetzt die Leute nach draußen. Falck presste sich an die Wand, auch die Leute, die am Küchenfenster gestanden hatten, wollten nun raus. Aus dem Stimmengewirr und Geschrei war ein Chor geworden, der »Holgi, Holgi, Holgi«, intonierte.
Fragend sah Falck Corina an, die sich zu seinem Erstaunen mit zwei schnellen Handbewegungen die Tränen aus dem Gesicht wischte.
Nun schob sich die applaudierende Menge in die Wohnung zurück, allen voran ein junger Mann mit kurzgeschorenem Haar. Er sah auffallend grau im Gesicht aus und hatte gerötete Augen, aber er lachte, begrüßte und umarmte verschiedene Leute. Andere klopften ihm auf die Schulter und schüttelten eifrig seine Hand.
»Corina!«, rief der Mann, nachdem er einen Blick in die Küche geworfen hatte. Die anderen gaben ihm den Weg frei, und vor Falcks Augen fielen Corina und er sich in die Arme. Urplötzlich schlug die Freude des Mannes in einen Weinkrampf um. Er presste sein Gesicht in Corinas Halsbeuge und schluchzte hemmungslos, seine Schultern bebten. Corina strich ihm über den Rücken, sie weinte selbst.
»Holger, du hast es doch geschafft!«, tröstete ihn ein anderer und klopfte ihm wieder auf die Schultern.
»Diese Schweine!«, presste Holger heraus. »Diese verdammten Schweine!«
»Lass doch gut sein, Holger, es ist vorbei! Das war nicht für umsonst, das wirste sehen! Irgendwann zahlen wir denen das heim!«
Falck wusste noch immer nicht, was hier eigentlich los war. Er war unangenehm berührt von der enormen Emotionalität der Situation.
»Los, Holger, lassen wir die Sau raus!«, wurde eine Stimme laut. Endlich gab Holger nach, ließ Corina aber nicht los. Umschlungen taumelten sie in das Wohnzimmer, umringt von ihren Freunden.
Falck war erleichtert, als er endlich Christian im Flur entdeckte. Er winkte ihm auffordernd zu.
»Na, schon jemanden kennengelernt?«, fragte Christian.
»Corina. Aber sag mal, was war denn mit diesem Holger?«
In dem Moment legten sich zwei Hände auf seine Schultern. Falck sah sich um und erkannte Claudia, die hinter ihm stand. »Eingefroren war der«, flüsterte sie ihm zu.
»Was heißt denn das?«, fragte Falck.
Christian hatte sich eine Bierflasche genommen und sie fast auf einen Zug ausgetrunken. »Was schon? Der war drei Jahre im Gelben Elend.«
Falck hob das Kinn. Wenn dieser Holger drei Jahre im Gefängnis gewesen war, dann musste das einen Grund gehabt haben.
»Und Corina ist seine Frau?«
Claudia hatte sich jetzt an ihm vorbeigeschoben, um sich ein Bier zu nehmen. »Nee, seine Schwester«, antwortete sie, trank dann einen Schluck, verzog aber angewidert den Mund.
Falck musste sich einmal mehr ermahnen, dass er nicht zu seinem Vergnügen hier war, erst recht nicht, um weibliche Bekanntschaften zu machen. Doch er musste sich auch eingestehen, dass beide Frauen, Claudia und Corina, bei ihm Eindruck hinterlassen hatten. Sie waren so ganz anders als all die Frauen, die er bisher kennengelernt hatte. Anders auch als Ulrike, obwohl die ihm gestern ein komplett neues Gesicht gezeigt hatte.
»Es riecht verbrannt, oder?«, stellte Falck fest.
»Oh ja, Mensch!« Claudia wandte sich eilig dem Gasherd zu, drehte die Flammen im Backofen ab, nahm sich Topflappen und öffnete die Klappe. »Schwein gehabt!«, verkündete sie. Sie nahm ein Blech mit einigen Weißbroten heraus. Das kannte Falck von daheim. Man schnitt die Brote in Scheiben, bestrich sie mit Knoblauchbutter und steckte sie dann mit Schaschlikspießen wieder zusammen. Im Ofen weichte die Butter das Brot ein.
Ein Gedanke schoss ihm plötzlich durch den Kopf. »Irgendwann zahlen wir denen das heim«, hatte einer vorhin gesagt. Vielleicht war das ganz ernst gemeint. Er musste herausfinden, wer das gewesen war. Dann dürfte es nicht schwer sein zu erfahren, ob derjenige eine beige Simson besaß.