IN DER FOLGENDEN NACHT schlief ich unruhig. Ich träumte von Drohungen und Verrat, von Folter und Gewalt. Als ich aufwachte, war mir klar, woran das lag. Zum einen natürlich, weil ich mich mit diesen Themen ein Stück weit tatsächlich auseinandersetzen musste, wenn ich den nächsten Montag überleben wollte. Aber warum ließ der Geist sich immer wieder von Negativem runterziehen? Wahrscheinlich, weil Achtsamkeit auch ein gewisses Maß an Disziplin erforderte. Ich hatte vor genau einer Woche meine letzte Achtsamkeitsstunde bei Joschka Breitner besucht. Gestern war der erste Donnerstagabend seit Monaten gewesen, den ich ohne angeleitete Achtsamkeitsübung verbracht hatte.
Aber Joschka Breitner hatte mich auf einige Übungen in seinem Buch aufmerksam gemacht, die ich auch alleine durchführen konnte. Ich las eine entsprechende Stelle nach:
»Es gibt ein Gefühl, das sehr schnell zu erzeugen ist und das alle negativen Gedanken überlagert. Dieses Gefühl nennt sich Dankbarkeit. Denken Sie bei allen Belastungen, die Sie gerade mit sich herumtragen, spontan an drei Dinge, für die Sie dankbar sind. Das kann der Sonnenstrahl beim ersten Blick nach draußen sein oder die letzte Gehaltserhöhung oder einfach ein gutes Gespräch. Fühlen Sie diese Dankbarkeit ganz konkret. Sie können nicht gleichzeitig dankbar und frustriert sein.«
Ich setzte mich also ganz bewusst im Bett auf, schloss meine Augen und versuchte an drei Dinge zu denken, für die ich dankbar war.
Ich war dankbar für meine Tochter, meine Gesundheit, den vollen Kühlschrank, den Espresso, den ich gleich trinken würde, meine berufliche Freiheit, das Buch von Joschka Breitner, die Unterstützung von Sascha, von Carla, von Walter, von Stanislav, für den Kindergartenplatz für Emily, das nicht zerrissene Band zwischen mir und Katharina, meine Zukunft als Anwalt in einer schönen Kanzlei, die Tatsache, dass ich bereits das Ultimatum von Katharina erfüllt hatte und das von Boris so gut wie …
Wow! Das waren aus dem Stand wesentlich mehr als drei. In meiner ersten Achtsamkeitsstunde war ich nicht dazu in der Lage gewesen mich auf fünf mich stressende Dinge zu beschränken. Eine Woche nach der letzten Sitzung sprudelte das Positive nur so aus mir heraus.
Für jeden einzelnen Punkt meiner Positivliste versuchte ich nun Dankbarkeit zu spüren. Der Versuch gelang. Ich spürte die Dankbarkeit geradezu körperlich. Die Dankbarkeit durchströmte mich von meinem Sonnengeflecht aus mit einer Wärme, die die kalten Sorgen, die ich kurz vorher noch hatte, wegschmelzen ließ. In diesem Gefühl der Wärme wollte ich den Tag verbringen. Ich wollte meine Dankbarkeit teilen. Und ich beschloss, sie mit Katharina und Emily zu teilen.
Aus Gründen der Dramatik wäre es sicherlich angebracht gewesen, Katharina erst mit Ablauf ihres Ultimatums am 30. April darüber zu informieren, dass ich ihre Forderung erfüllen würde. Nach Dramatik hatte mir aber auch schon vor meinen Achtsamkeitserfahrungen nie der Sinn gestanden. Jemandem eine frohe Nachricht vorzuenthalten, damit er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt dann umso mehr darüber freut, war in meinen Augen völlig sinnfrei.
Ein Beispiel: Ihr Kettenrauchender Opa wird in drei Tagen fünfundachtzig. Seit einer Woche hustet er Blut. Vor drei Tagen waren Sie deswegen beim Onkologen. Heute ist das Ergebnis gekommen: Opa hat lediglich eine Lungenentzündung. Das ist unangenehm. Aber kein Todesurteil. Natürlich können Sie noch drei Tage warten, bis Sie Opa pünktlich zu dessen fünfundachtzigstem Geburtstag die Krebsheilung als Geschenk verpackt auf den Geburtstagstisch legen. Alles, was Sie ihm dadurch tatsächlich schenken, sind drei Tage Todesangst. Wenn Ihnen das den Effekt wert ist, bitte sehr.
Dramatik ist das Gegenteil von Achtsamkeit.
Weil ich für den heutigen Tag für mich erfühlt hatte, dass mir Dankbarkeit guttut, wollte ich Katharina an meiner Dankbarkeit teilhaben lassen und sie darüber informieren, dass Emily den gewünschten Kindergartenplatz bekommen würde.
Ich rief sie an, und Katharina schlug ein Treffen in einem Café in unserem Viertel vor.
Das Café wurde als »kinderfreundlich« geführt. Die Kinderfreundlichkeit bezog sich darauf, dass auf jedem zweiten Stuhl Mütter aller Alters- und Gewichtsklassen offen ihre Still-BHs hochklappten, während sie laktose- und koffeinfreie Latte Macchiatos in sich reingossen. Kinderwagen aller Preisklassen durften vor dem Café den Radweg blockieren. Auf der Damentoilette war ein großzügiger Wickelbereich eingerichtet. Auf Kosten der Herrentoilette. In dieser befand sich ein einziges Klo. Und kein noch so kleiner Wickeltisch. Mütter bröselten vegane Croissants für 3,90 Euro über die Markenklamotten ihrer Kinder und bemitleideten sich gegenseitig wegen ihrer finanziell angespannten Situation.
Exakt die »Wie ein Fisch im Wasser«-Klientel.
Emily fand es hier allerdings toll, weil man mit Kreide die Wand anmalen und die Finger anschließend an den Polstermöbeln abwischen konnte. Trotzdem wirkte alles sehr gepflegt. Ein Teil der hohen Preise war wohl schlicht eine oft genutzte Renovierungsrücklage.
»Seit wann gehst du in solche Cafés?«, fragte ich Katharina, nachdem wir eine Sitzgruppe gefunden hatten, von der aus wir Emily beim Malen zuschauen konnten.
»Seit mein Mann ausgezogen ist.«
»Was hat mein Auszug mit den Menschen zu tun, mit denen du dich hier umgibst? Das ist doch gar nicht dein Umfeld.«
»Ich brauche ab und an mal den Eindruck, dass es Menschen gibt, mit denen ich nicht tauschen möchte. Auch wenn in deren Leben Mafia-Bosse und Edelbordelle wohl eher keine Rolle spielen. Dafür ist es mir aber egal, ob ich Sojamilch-Flecken bei dreißig Grad aus einer Jack-Wolfskin-Jacke rauskriege. Verglichen mit den Luxus-Mutter-Problemen, unter denen diese Mädels hier leiden, sind unsere Eheprobleme geradezu lobenswert handfest.«
Andere Menschen gehen in Cafés, weil sie die Menschen dort mögen. Katharina ging in Cafés, weil sie die Menschen dort hasste. So war sie halt.
»Ich hab zwei Briefe für dich«, sagte ich, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.
Ich übergab Katharina zunächst einmal ein Schreiben von »Ein Fisch im Wasser« im Namen der Hipster.
Sehr geehrte Frau Diemel,
hiermit möchten wir uns in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Wir haben Ihnen in der letzten Woche eine Absage bezüglich der Kindergartenbewerbung Ihrer Tochter geschickt. Das war falsch. Ihre Tochter ist das tollste Kind der Welt. Sie sind die tollste Frau der Welt und Ihr Mann, der ebenfalls der tollste Mann der Welt ist, hat auch den tollsten Beruf der Welt. Wir haben eingesehen, dass wir all dies viel zu spät erkannt haben. Um den Weg für einen Neuanfang freizumachen, teilen wir Ihnen hiermit mit, dass wir die Geschäftsführung der Elterninitiative »Wie ein Fisch im Wasser« freiwillig zum Ersten des kommenden Monats abgeben. Der neue Geschäftsführer wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen und Ihrer Tochter Emily einen Kindergartenplatz anbieten.
Mit freundlichen Grüßen, auch an Emily,
Unterschriften
Katharina guckte mich ungläubig an.
»Ist das Blut?«
»Wo?«
»Da, zwischen den Begriffen ›tollster Mann‹ und ›tollster Beruf der Welt‹.«
Ich schaute mir den Brief noch einmal genauer an. Da eigentlich alle Hipster kurz vor der Unterschrift des Briefes noch heulend damit beschäftigt gewesen waren, sich Taschentücher in die frisch gebrochenen Nasen zu friemeln, konnte ich das mit dem Blut natürlich nicht ausschließen.
»Keine Ahnung. Wenn du willst, kann ich die Herren aber bitten, das noch mal neu auszudrucken.«
»Ist nicht nötig. Mir gefällt der Brief sehr gut. Will ich wissen, wie du die Leute dazu gebracht hast, das zu schreiben?«
»Durch Achtsamkeit.«
»Wie das denn?«
»Ich habe mich mit ihren Bedürfnissen auseinandergesetzt und ihnen vergeben. Anschließend waren auch sie bereit, ihre Fehler einzusehen und wieder rückgängig zu machen.«
»Und das heißt jetzt für Emily?«
Ich gab Katharina den zweiten Brief von »Wie ein Fisch im Wasser«.
Liebe Frau Diemel, lieber Herr Diemel,
ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass für Ihre Tochter Emily in unserer Einrichtung zum 1. August diesen Jahres ein Platz zur Verfügung steht. Emily wird gewiss eine große Bereicherung für »Wie ein Fisch im Wasser« sein. Bitte melden Sie sich doch kurzfristig zwecks der Vertragsunterzeichnung.
Mit freundlichen Grüßen
Sascha Ivanov
Katharina guckte schon wieder ungläubig.
»Moment, Sascha Ivanov … Ist das nicht der Fahrer von Dragan?«
Mir wurde flau im Magen. Ich atmete tief durch. »Richtig.«
»Und der leitet jetzt den Kindergarten?«
»Dragan war mir was schuldig.«
Katharina starrte abwechselnd auf die Briefe, und ich befürchtete schon, dass sie mir jeden Moment beide um die Ohren hauen würde. Doch dann trat unvermutet ein feuchtes Glänzen in ihre Augen, und schließlich nahm Katharina mich tatsächlich in den Arm.
»Du hast schon wesentlich schlimmere Dinge getan. Danke.«
Achtsamkeit kann Menschen töten und Nasen brechen. Und Eisberge zum Schmelzen bringen.