AM NÄCHSTEN TAG hatte ich bereits nach der ersten morgendlichen Atem-Übung das Aufhebungsangebot der Kanzlei in meinem E-Mail-Account. Es entsprach im Wesentlichen dem, was wir besprochen hatten. Ich fügte aus Prinzip ein paar Änderungen in den Entwurf ein und schickte ihn zurück. Ich bat darum, den geänderten Vertrag bis am Nachmittag um fünfzehn Uhr gegengezeichnet auf meinem Schreibtisch liegen zu haben. Daraufhin verfasste ich eine Erklärung im Namen Dragans, dass er die Kanzlei von Dresen, Erkel und Dannwitz von allen etwaigen Forderungen freistellen würde und in Zukunft – wie auch schon in der Vergangenheit – ausschließlich von mir betreut werden wolle. Dieses Schreiben druckte ich auf einem der von Dragan blanko unterschriebenen Blätter aus und verstaute es in meiner Aktentasche.
Dann ging’s zum Treffen mit Sascha am Kinderspielplatz. Auch heute beschloss ich, den A8 vor meinem Apartment stehen zu lassen und meine neue, freie Welt zu Fuß zu erkunden. Ich hatte meine persönlichen Dinge bereits aus dem Wagen entfernt. Den Wagenschlüssel würde ich heute in der Kanzlei abgeben. Sollte die Kanzlei sich den Firmenwagen selber abholen und zum Leasingunternehmen zurückbringen, wenn sie Lust dazu hatte. Ich ließ mir von niemandem mehr aufzwingen, mit welchem Verkehrsmittel ich mich fortbewegte.
Wie sich herausstellte, hatte der Kinderspielplatz am Schlosspark drei enorme Vorteile für ein konspiratives Treffen. Zum einen war er vormittags von zahlreichen Tages-, und echten Müttern sowie Großmüttern nebst Kindern besucht. Es herrschte also ein permanenter Lärmpegel von jauchzenden Timos und Noemis sowie »Timo, Noemi, lasst das bitte«-rufenden Müttern. Wenn man sich bei dieser Geräuschkulisse auf eine Bank setzte, war bereits aus zwei Metern Entfernung niemand mehr dazu in der Lage, einen Gesprächsfetzen zu verstehen.
Vermeintlicher Nachteil: Auf diesem Spielplatz fielen zwei Männer auf wie zwei Drag-Queens auf einem Salafisten-Treffen. Daraus ergab sich aber gleich ein weiterer Vorteil: Entsprechend auffällig wären uns auch etwaige Beschatter erschienen.
Der dritte Vorteil war inhaltlicher Natur. Das, was ich mit Sascha besprechen wollte, als wir den Termin vereinbart hatten, hatte, zugegeben, viel mit Handgranaten und Toten zu tun. Seit gestern Nachmittag hatte sich die Themenliste allerdings ein wenig erweitert. Nun würde das Gespräch auch viel mit Kindern zu tun haben.
In Sachen Kinder war Sascha der perfekte Ansprechpartner.
Sascha war neunundzwanzig Jahre alt. Er war nicht sonderlich groß, aber drahtig gebaut. Er wirkte verschmitzt, verschlagen und immer einen Tacken ungepflegt. Nicht dreckig, aber so, als sei er vor zehn Minuten aus dem Bett gesprungen, würde unter seiner Kleidung noch einen Superhelden-Schlafanzug tragen und müsste sich noch kämmen und die Zähne putzen. Das führte dazu, dass Sascha von Fremden in der Regel unterschätzt wurde, was sich für manchen von ihnen als tödlicher Fehler herausgestellt hatte.
Vor sechs Jahren war Sascha aus Bulgarien nach Deutschland gekommen. Die ersten Jahre hatte er für Toni gearbeitet. Zunächst als Barkeeper, dann als stellvertretender Geschäftsführer. Sascha war intelligent und kannte bald jeden Türsteher, jeden Dealer und jede Prostituierte in Tonis Club. Es stellte sich heraus, dass sich Sascha auch gut mit Computern auskannte. Er war kein Nerd, aber innerhalb kürzester Zeit war er der Ansprechpartner für alle Viren- und Netzwerk-Probleme.
Was keiner wusste, war die Tatsache, dass Sascha tagsüber in die Uni ging, um dort seinen deutschen Abschluss zu machen. Aber nach drei Jahren musste Sascha feststellen, dass es ihm nicht möglich war, fünf Tage die Woche morgens um acht seinen Arbeitsplatz im Club zu verlassen, um dann um neun Uhr in der Uni zu sitzen.
Sascha schmiss daher die Uni. Um nicht völlig als Mafioso zu verblöden, entschied er sich aber dazu, eine Ausbildung zu machen, die er vormittags ohne großen Lernaufwand absolvieren konnte. Sascha wurde Erzieher. Er fragte Toni, ob er einen Job mit mehr Sonnenstunden haben könne. Dragans Fahrer war eine Woche vorher mit 120 km/h vor einer Grundschule geblitzt worden. Toni empfahl Sascha bei Dragan und verbürgte sich für ihn und nutzte die Chance, einen seiner Vertrauten in Dragans unmittelbarer Nähe zu platzieren. So lernten Sascha und Dragan sich kennen. Sascha war seinem jeweiligen Arbeitgeber gegenüber immer loyal und eignete sich von daher nicht als Informant für Toni. Das Verhältnis zwischen Toni und Sascha kühlte sich merklich ab.
Der Job war ideal für Sascha. Dragan schlief gerne lang und regelte seine Dinge tagsüber von zu Hause aus. Sascha wurde also meist erst am Nachmittag gebraucht und konnte sich tagsüber seiner Erzieher-Ausbildung widmen. Er machte nach drei Jahren einen hervorragenden Abschluss und erzählte Dragan erst davon, als er das Zertifikat in der Tasche hatte. Dragan lachte sich halb tot. Sascha und ich waren die einzigen Menschen mit direktem Zugang zu dem Mafiaboss, die über einen Hochschulabschluss verfügten. Aber Sascha hatte nun auch noch eine Ausbildung zum Erzieher. Dragan fing an, mir meine fehlende pädagogische Qualifikation vorzuwerfen, über die ja nun selbst sein Fahrer verfügte. So erfuhr auch ich von Saschas Zusatzqualifikation.
Als ich beim Spielplatz ankam, saß Sascha schon auf einer Bank und schaute den Kindern beim Toben zu. Ich setzte mich neben ihn.
»Schöner Ort«, begann ich das Gespräch.
»Wenn ich unschuldige Kinder toben sehe, kann ich am besten entspannen.«
»Gibt es denn auch schuldige Kinder?«, wollte ich wissen.
»Nein. Genauso wenig wie unschuldige Erwachsene. Jede Erfahrung lädt die Schuld ihrer Entstehungsgeschichte auf dir ab.«
»Bist du jetzt Pädagoge oder Philosoph?«
»Wer mit Kindern zu tun hat, macht da keinen großen Unterschied.«
»Das kenne ich von meiner Kleinen. Allerdings ist sie eher die Philosophin.«
»Super Mädel, die Emily. Wie geht’s ihr?«
Ich rechnete Sascha hoch an, dass er Emilys Namen parat hatte.
»Klasse, hat das Wochenende am See genossen.«
»Und Dragan?«, wollte Sascha wissen.
»Dem geht’s auch gut. Da er offiziell nie in meinem Kofferraum war, will er auch nicht, dass irgendjemand erfährt, wo er ihn verlassen hat. Aber wir stehen in Kontakt. Dragan hat dir ja gesagt, dass er will, dass die Geschäfte weiter laufen, wie bisher. Die ersten Anweisungen von ihm habe ich dabei.«
»Das wird allerdings schwieriger als gedacht«, bemerkte Sascha.
Das war das Dumme mit Menschen, die sich mit Achtsamkeit nicht auskannten. Sie bewerteten alles.
»Wo ist das Problem?«
»Na ja …«, druckste Sascha. »Ehrlich gesagt, es sind eine ganze Reihe von Problemen.«
Als Freund der wertungsfreien Wahrnehmung und als jemand, der Singletasking zu schätzen wusste, bat ich Sascha, mir der Reihe nach einfach die Aspekte zu benennen, die er als problematisch beurteilte.
»Der Reihe nach? Gut, also: Tatsache ist, dass Dragan beinahe getötet worden wäre, dass ich beinahe getötet worden wäre, dass Igor getötet worden ist und dass Murat ebenfalls tot ist. Toni macht gerade ziemlich auf dicke Hose. Und wenn wir nichts unternehmen, steuern wir auf einen veritablen Bandenkrieg mit Boris zu.«
Dass Dragan und Sascha hatten getötet werden sollen, war mir neu. Doch auch sonst stand Saschas Beschreibung der Problemlage ein wenig im Widerspruch zu meinem Zustand tiefster Entspannung.
»Gut, fangen wir mal von hinten an: Was ist mit dem Bandenkrieg?«
»Boris ist sauer, dass Igor von Dragan erschlagen und verbrannt worden ist. Vor allem ist er sauer, dass sich Dragan deswegen nicht meldet, um sich zu entschuldigen. Boris erreicht dich ebenfalls nicht. Er hat mich jetzt wissen lassen, dass er erwartet, bis heute Abend entweder von dir oder von Dragan persönlich zu hören. Sonst wird er jeden Tag einen von Dragans Officern erschießen, bis der feine Herr bereit ist, mit Boris zu reden. Wobei er ab diesem Zeitpunkt auch keine Probleme hätte, Dragan, dich oder mich zu erschießen. Boris ist wirklich stinksauer.«
Damit war zu rechnen gewesen. Aber Boris würde sich besänftigen lassen. Er war Geschäftsmann. Jedes Menschenleben hatte für ihn einen Preis. Und der Preis für Igor ließ sich in Geld, Drogen oder neuen Reviergrenzen bezahlen.
»Das ist zwar nicht schön, aber nachvollziehbar. Bevor ich mich mit Boris treffe, würde ich allerdings gerne wissen, was genau auf dem Rastplatz passiert ist. Erzähl bitte von Anfang an.«
»Gut. Seit ein paar Wochen stimmen bei Toni die Zahlen nicht mehr. Die Umsätze brechen ein. Nicht dramatisch, aber so, dass man das nicht mehr ignorieren kann.«
»Und woran liegt es?«
»Toni behauptet, in seinem Revier würde jemand Stoff zum halben Preis verkaufen. Das würde ihm den Markt versauen.«
»Und was hat Dragan dazu gesagt?«
»Dragan vermutet, dass Toni einen Teil seines Stoffs auf eigene Rechnung verkauft. Er hat dafür aber keine Beweise und wollte das Ganze auf dem nächsten Officer-Meeting zur Sprache bringen, falls Toni bis dahin keine bessere Erklärung eingefallen wäre.«
»Und? Ist Toni eine bessere Erklärung eingefallen?«
»Eine Erklärung, ja. Aber nach den Vorfällen vom Freitag zweifle ich stark daran, ob die besser ist.«
»Was hat Toni euch erzählt?«
»Toni hat gesagt, er würde sich mal umhören. Ein paar Dealer unter Druck setzen, ein paar Knochen brechen und so. Und am Freitagabend ruft mich Murat an und erzählt mir, es wäre jetzt klar, wer dahintersteckt. Igor. Er würde mit Boris’ Billigung sein eigenes Drogennetzwerk in unserem Revier aufziehen. Und Nachschub für den Stoff würde er noch am selben Abend da auf dem Parkplatz beziehen. Das wäre die Gelegenheit, um Igor zu erwischen. Und das wäre dann auch der Beweis, dass Boris Dragan verarscht.«
»Aha. Und warum hat Toni das nicht Dragan persönlich erzählt? Warum schickt er Murat damit zu dir?«
»Das frage ich mich auch. Höchstwahrscheinlich, damit er notfalls alles abstreiten kann. Falls was schiefläuft. Ist dann ja auch schiefgelaufen …«
»Wie ist es dazu gekommen?«
»Also. Wir sind auf dem Weg nach Bratislava. Ich bekomme den Anruf von Murat. Wir fahren daraufhin kurz zu dem Parkplatz. Wir sehen Igor und einen Typen in dem Van. Dragan brüllt Igor an, ich spritze ihm Benzin auf die Hose, Dragan zündet ihn an. Feuer unterm Hintern machen. Die übliche Nummer. Damit hätte es gut sein sollen. Ich hatte ja schon eine Decke zum Löschen in der Hand. Aber der angebliche Drogentyp zückt in dem Moment eine Handgranate und will aus dem Wagen springen. Anstatt Igor zu löschen, werfe ich die Löschdecke über den Typen und trete ihm die noch gesicherte Handgranate aus der Hand. Igor nutzt die Gelegenheit und rennt brennend aus dem Van. Der Van fängt Feuer. Dragan rennt hinterher. Ich sehe den Bus mit den Kindern kommen, schlage den Handgranaten-Idioten k. o. und hole unseren Wagen. Den Rest kennst du vom Video.«
»Euer Plan war also nur, Igor Feuer unterm Hintern zu machen, und gut ist?«
Sascha nickte. »Ja. Anschließend hätten wir Igor zu Boris gebracht und uns darüber unterhalten, wie sich Boris für den Scheiß entschuldigen könnte.«
Ich schüttelte den Kopf. »Manchmal nützt der beste Plan nichts.«
»Wie man’s nimmt.«
Ich hörte da einen sonderbaren Unterton in Saschas Stimme. »Was meinst du?«
Sascha zögerte. »Vielleicht gab es noch einen anderen Plan. Dragan war so in Rage, der hat bestimmt nicht darauf geachtet. Aber so wie es aussah, war der Typ mit der Handgranate nicht die Bohne überrascht über unser Erscheinen. Igor war eindeutig überrascht. Aber der Typ da hat eher den Eindruck gemacht, als hätte er nur auf uns gewartet. Um uns alle zu erledigen.«
Oha, da hatte ich wohl achtsam die Wespenkönigin getötet, während ein anderer ziemlich unachtsam den Finger in ihr Nest gesteckt hatte.
»Wer war der Typ?«
»Keine Ahnung. Nie gesehen. Und so, wie der in dem Wagen explodiert ist, ist von dem auch nichts mehr zu sehen.«
»Und was war mit den Drogen?«
»Das ist es ja. Da gab es keine Drogen. Gar nichts. Igor wollte auf dem Parkplatz wohl einen Waffendeal abschließen. Handgranaten.«
»Und was für einen Sinn sollte es haben, Dragan und dich in einen Hinterhalt zu locken? Wer hätte davon profitiert?«
»Toni natürlich. Und der Verdacht wäre nicht mal auf ihn gefallen. Außer Dragan und mir wusste niemand davon, dass er Ärger mit Dragan hatte. Wahrscheinlich hätte er sehr schnell Anspruch auf Dragans Erbe erhoben und die Dringlichkeit durch einen Bandenkrieg mit Boris unterstrichen.«
»Aber der Plan hat ja auch nicht funktioniert – falls es einer war. Dragan hat überlebt.«
Sascha zuckte mit den Schultern. »Aber alles andere hat geklappt. Igor ist tot. Boris ist stinksauer. Dragan ist untergetaucht, und Toni ist aus dem Schneider. Keiner denkt mehr an seine krummen Geschäfte, wenn Dragan glaubt, er sei von Boris in eine Falle gelockt worden.«
Verdammt, die Lage war verwirrender, als ich bislang gedacht hatte.
»Okay«, ich kniff die Augen zusammen. »Wenn Toni einen Bandenkrieg vom Zaun brechen möchte – wie passt dann die Ermordung von Murat ins Bild?«
Sascha schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung«, gab er zu. »Aber nach dem Chaos auf dem Parkplatz hat mich Murat angerufen. Ganz kleinlaut. Wollte unbedingt Dragan sprechen. Wollte allerdings nicht sagen, worum es geht. Offensichtlich hatte er die Hosen randvoll. Ich habe ihm gesagt, er soll sich an dich wenden. Du bist Dragans Sprachrohr.«
»Das hat er getan. Er hat mir am Sonntagabend auf die Mailbox gesprochen. Er wollte, dass wir uns Montagmorgen am Wildgehege treffen.«
»Vielleicht hat er kalte Füße bekommen, weil er Dragan in die Falle geschickt hat. Vielleicht wollte er bei dir ein Geständnis ablegen.«
»Wenn er erschossen wurde, weil er Toni verpfeifen wollte, dann heißt das aber, dass Toni den Inhalt des Anrufes kannte. Ich befürchte zwar, abgehört zu werden, allerdings – von der Polizei.«
Sascha stutzte. Man sah ihm an, wie er eins und eins zusammenzählte. »Und wenn Toni einen Informanten bei der Polizei hat? Dann würde er an den Inhalt der abgehörten Gespräche kommen und das Ganze einen Sinn ergeben«, sagte er schließlich.
Ich nickte. »Gut möglich. Und dann wäre ich wahrscheinlich auch gleich mit draufgegangen, wenn ich mich mit Murat getroffen hätte. Toni braucht mich nicht, und er muss befürchten, dass ich davon erfahre, dass Dragan ihn auf dem Kieker hat.«
Sascha sah mich besorgt an. »Soll ich Walters Begleitservice für dich anheuern?«, fragte er.
Walter war in Dragans Firma der Officer für Waffenhandel. Sein legaler Deckmantel war ein Security-Unternehmen. Seine Jungs und auch Mädels waren sehr effektiv, was Personenschutz anbelangte. Aber eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung war im Moment das letzte, was ich brauchte.
»Noch nicht«, sagte ich daher schnell. »Ich … ich warte noch das Gespräch mit Boris ab. Außerdem muss ich all das, was du mir gerade erzählt hast, mit Dragan besprechen. Ich sag dir dann Bescheid.«
Eine kleine Pause entstand. Was vor allem daran lag, dass ich nicht wusste, wie ich nach den ganzen Intrigen-, Mord- und Rache-Themen jetzt zum Thema Kindergartenübernahme überleiten sollte.
Sascha nahm mir das Problem ab.
»Und, was hat Dragan für Anweisungen?«, fragte er.
Ich versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen, als ich Sascha die präparierte Boulevardzeitung vom Vortag übergab. Sie war versehen mit zahlreichen umrandeten Wörtern und Verbindungslinien. Und einem perfekten Daumenabdruck von Dragan.
Sascha begann, das Kunstwerk zu entziffern.
»Bordellpläne geändert. Übernehmen Elterninitiative. Binnen einer Woche. Bauen nicht Puff, sondern Kindergarten aus. Alles weitere über Anweisungen Anwalt.«
Sascha sah mich irritiert an.
»Hab ich Dragan beim Einsteigen den Kofferraumdeckel zu fest auf den Kopf geschlagen? Was hat das zu bedeuten?«
Der Lärm auf dem Spielplatz schien schlagartig verstummt zu ein. Ich hatte das Gefühl, als würden mich plötzlich alle Kinder anschauen und mir dieselbe Frage stellen. Und die Mütter der Kinder sahen mich empört an, warum ich ihren Kindern die Frage nicht beantwortete. Selbst die Vögel waren verstummt und warteten gespannt. Vor allem aber wartete Sascha auf eine Antwort, und der würde sich nicht mit Ausflüchten abspeisen lassen.
Die Übernahme eines Kindergartens durch das organisierte Verbrechen war sicher eine tolle Chance für einen Vater, der für das organisierte Verbrechen tätig war und seine Tochter gerne optimal betreut wissen wollte. Sie war aber nicht direkt die Lösung des Problems, wie auf einen drohenden Bandenkrieg rund um einen untergetauchten und angeschlagenen Verbrecherboss zu reagieren wäre.
Kurz: Mich überkam ein Gefühl der Unsicherheit, ob ich in diesem Punkt Beruf und Privatleben tatsächlich unter einen Hut kriegen würde.
»Unsicherheit und Sicherheit sind irrationale Gefühle, die Sie selber steuern können«, schrieb Joschka Breitner dazu. »Nehmen Sie sich in Gedanken aus der Situation heraus, in der Sie sich unsicher fühlen. Stellen Sie sich einen Ort vor, der Ihnen Sicherheit gibt. Umgeben von Menschen, denen Sie vertrauen. Spüren Sie, wie Sie sich selbst ein Gefühl der Sicherheit geben können.«
Ich nahm mich also in Gedanken aus dem Spielplatz heraus. Ich stellte mir vor, ich säße mit Emily an meiner Seite auf dem Steg an dem Haus am See. Die Wärme des Holzes erfüllte meinen Körper und entkrampfte meine Muskeln. Das Plätschern der Wellen an den Bohlen beruhigte meine Nerven. Das Glitzern der Sonne auf dem Wasser kitzelte meine Sinne.
»Also, so abwegig ist der Gedanke doch gar nicht«, improvisierte ich. »Zum einen hat sich Dragan diese ganzen Intrigen-Gedanken um Toni bislang noch gar nicht gemacht. Wie du gesagt hast: Der hat den Handgranaten-Typen gar nicht so bewusst wahrgenommen.«
»Er weiß aber trotzdem, dass das Ganze hier kein Kindergeburtstag ist«, warf Sascha ein.
»Eben. Und deshalb …«, ich nahm in Gedanken Emily in den Arm und spuckte eine Nuss ins Wasser, »deshalb will Dragan die Dinge selber in der Hand behalten. Er will sich, gerade weil er untergetaucht ist, nicht von anderen treiben lassen. Er will nicht reagieren, sondern agieren.« Na bitte, das klang doch ganz gut. »Und zwar so souverän«, fuhr ich fort, »als wäre gar nichts geschehen. Das Edelbordell, das Dragan geplant hat, ist ein Langzeitprojekt. Kurzfristig sperrt sich der Kindergarten gegen die Räumung. Also sollten wir ihn erst mal übernehmen. Kindergarten statt Bandenkrieg. Das ist ein Zeichen von Souveränität. Es wäre ein Zeichen von Unsicherheit, sich nicht um dieses Projekt zu kümmern, nur weil irgendjemand einen Bandenkrieg provozieren will.«
»Das wird dieser Jemand aber anders sehen.«
»Genau darum geht es Dragan. Dieser Jemand erwartet, dass Dragan alle Zukunftsprojekte einstellt und sich voll und ganz auf einen drohenden Bandenkrieg konzentriert. Soll sich dieser Jemand doch an Dragan abarbeiten.« Ich sah Sascha herausfordernd an. »Was machst du denn im Kindergarten mit Kindern, die aus der Reihe tanzen?«
»Manchmal ist es in der Tat hilfreich, Regelverstöße einfach zu ignorieren.«
»Na siehst du. Wenn Dragan jetzt also einen Kindergarten übernehmen will, anstatt sich einen Bandenkrieg aufzwingen zu lassen, werden wir ja sehr schnell feststellen, wer auf Grund dieser Gelassenheit nervös wird.«
»Aber was will er mit einem Kindergarten? Sollten wir uns nicht lieber um Drogen, Waffen und Nutten kümmern, wie gehabt?«
»Natürlich. Aber dafür braucht es keine neuen Anweisungen. Das läuft alles weiter, wie bisher. Der Kindergarten und das Edelbordell sind ein Politikum. Bis der Kindergarten wegen Eigenbedarf aus dem Haus ist und bis alle Genehmigungen für den Puff da sind, vergehen Jahre. Wenn wir diese Elterninitiative übernehmen, können wir den Laden zu gegebener Zeit einfach still und leise dichtmachen.«
Diesen Teil wiederum glaubte ich selber nicht so ganz. Ich merkte, wie mein gedanklicher Steg leicht zu wanken begann.
»Aha. Die Übernahme eines Kindergartens ist jetzt unser dringendstes Problem und das Einzige, was Dragan auf der Seele brennt.«
»Das Einzige, was Dragan schriftlich kommunizieren möchte. Der Kindergarten ist ihm dumm gekommen … Sieh mal, wenn uns ein konkurrierender Drogenring dumm kommt, dann zerschlagen wir ihn ja auch nicht, sondern übernehmen ihn. Der ganze Kundenstamm ist bares Geld wert.«
Mein Vergleich des Kindergartens mit einem Drogenring führte dazu, dass sich der Steg so stark neigte, dass ich dem See entgegenrutschte.
»Inwiefern ist der Kundenstamm eines Kindergartens Geld wert?«
»Na, ganz einfach … also … jedes Kind hat zum Beispiel in der Regel zwei Eltern. Über einen Kindergartenplatz hast du also drei Kontakte. Kind, Vater und Mutter. Eltern sind von einem guten Kindergartenplatz genauso abhängig wie … wie Junkies von gutem Stoff. Die machen für dich, was du willst.«
Ich klammerte mich mit letzter Kraft an den Steg wie ein Fassadenkletterer. Aber Sascha schien davon nichts mitbekommen zu haben.
»Gut«, sagte er unvermittelt, »dann übernehmen wir den Kindergarten.«
Ich sah Sascha ungläubig an.
»Ich regle das. Kein Problem.«
»Wie bitte?« Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mir alles weitere Gestammel sparen konnte. Der Steg war wieder im Lot.
»Ich rede mit den Leuten von der Elterninitiative.«
»Dragan will, dass das bis Anfang nächster Woche über die Bühne gegangen ist. Ein Gespräch mit den Betreibern sollte also noch diese Woche stattfinden.«
Ich stand erleichtert auf und gab Sascha einen Zettel mit dem Namen, der Adresse und der Telefonnummer von »Wie ein Fisch im Wasser«.
Sascha erhob sich ebenfalls. »Ich versteh zwar nicht, was der Zeitdruck soll, aber so ist Dragan halt. Klar. Binnen einer Woche. Aber sag Dragan bitte, dass ich einen Wunsch habe.«
Ich sah ihn fragend an.
»Wenn unser Syndikat jetzt ins Kindergartengeschäft einsteigt, will ich der Leiter dieser Unternehmenssparte sein.«
»Du willst …?«
»Siehst du hier sonst noch einen ausgebildeten Erzieher?«
Sascha war noch pfiffiger als gedacht. Als Leiter einer Unternehmenssparte in Dragans Kartell wäre Sascha Officer. Auf einer Ebene mit Toni. Was nicht von Nachteil war, wenn Toni hinter dem Anschlag auf Dragan steckte.
»Das wird kein Problem sein. Ich glaube, Dragan will das sowieso.«
Ich sah Sascha an, dass ihn diese Nachricht stolz machte. Endlich wurden seine Qualifikationen gewürdigt. Und sei es nur vom Gipsdaumen eines zerhäckselten Verbrechers.
»Dragan will noch diese Woche ein persönliches Treffen mit mir und allen Officern, in dem wir den neuen Kurs abstecken und mitteilen, dass ansonsten alles beim Alten bleibt.«
»Ich kümmere mich drum. Irgendein Terminwunsch?«, fragte Sascha.
»Frühestens am Donnerstag. Deine Theorie in Sachen Toni muss ich in Ruhe mit Dragan besprechen und eventuell die daraus nötigen Konsequenzen vorbereiten. Das geht nicht von heute auf morgen.«
Sascha trat neben die Bank, wo sich ein metallener Papierkorb befand. Er zündete das Zeitungsblatt an und ließ die verkohlten Überreste in den Korb fallen. Er sah versonnen die rauchende Asche an. Irgendetwas schien ihn zu bewegen.
»Das mit dem Kindergarten ist für Natascha vielleicht ein kleines Trostpflaster«, sagte er schließlich.
»Wer ist Natascha?«
»Bekannte von mir.«
»Was hat die mit dem Kindergarten zu tun?«
»Nichts. Aber mit dem Haus. Natascha wollte eigentlich in dem Edelbordell arbeiten, das es jetzt erst mal nicht geben wird.«
»Und warum sollte sie das mit dem Kindergarten dann freuen?«
»Wenn ich einen eigenen Kindergarten leite, kann sie ihre beiden Kleinen tagsüber da unterbringen. Wie du selbst sagst, von einem Kindergartenplatz sind vor allem die Eltern abhängig. Nicht die Kinder.«
Ich nickte. »Wer betreut denn bis jetzt ihre Kleinen?«
Sascha lächelte. »Ich.« Damit wandte er sich dem Geschehen auf dem Spielplatz zu. »Alexander, Lara«, rief er, »kommt, wir gehen.«
Alexander und Lara hörten aufs Wort und zogen mit Sascha ab. Der erste Kinderjunkie, der auf meine neue Droge abfuhr: Kindergartenplätze.