WÄHREND WIR NOCH IN DEM CAFÉ saßen und uns ausmalten, wie es sein würde, wenn Emily ab dem Sommer ein Kindergartenkind wäre, bekam ich eine SMS von Carla auf meinem nicht abgehörten Prepaid-Handy.
»Hotel Domino. Jetzt gleich.«
Reflexartig wechselte bei Katharina wieder die Stimmung.
»Hört das denn nie auf mit dem Handy?«
Katharina wusste, dass ich für die Familie den Achtsamkeitskurs belegt hatte, mich an alle Zeiten mit Emily hielt, mittlerweile meinen Job gekündigt hatte und nun sogar den benötigten Kindergartenplatz erkämpft hatte.
Sie wusste nicht, dass ich dafür Dragan ermordet, meine Kanzleichefs erpresst und die Kindergartenleiter bedroht hatte. Sie wusste noch viel weniger, dass ich wegen all dem nun selber mit dem Leben bedroht wurde.
Sie hätte aber bemerken können, wie wohl ich mich in dem Augenblick fühlte, den sie mit ihrer Bemerkung gerade zerstörte.
Trotzdem hielt sie es für angebracht all das mit einem sinnlosen Standardsatz zunichtezumachen: »Hört das denn nie auf mit dem Handy?«
In dem Moment war mir klar, dass es unmöglich wäre, mein Leben für meine Frau zu ändern, solange diese ihr eigenes Leben nicht ändern würde. Ich änderte mein Leben also gar nicht für meine Frau. Ich änderte es für mich und Emily. Und das tat schon mehr als gut.
Als Reaktion auf die sinnige Bemerkung Katharinas schaute ich auf meine Uhr: elf Uhr. Dann schaute ich mich in dem Café um: Ich war der einzige Mann. Dann sagte ich:
»Ich sag mal so: Die Tatsache, dass ich um elf Uhr morgens als einziger Mann mit meiner Frau und meiner Tochter in einem Kindercafé einen überteuerten Espresso trinke, hängt in der Tat viel mit diesem Handy und meinem Beruf zusammen. Alle anderen Männer hocken nämlich gerade vor einem Festnetzanschluss im Büro. Und kümmern sich dort einen Dreck um den Kindergartenplatz ihrer Tochter.«
Die Atmosphäre im Café schien Katharina wirklich gutzutun. Sie schaute sich die anderen Mütter an. Sie schaute sich die beiden Briefe an. Sie schaute mich an. Und dann sagte sie etwas, das sie seit Jahren nicht mehr gesagt hatte: »Sorry. Du hast recht. Wie auch immer du das angestellt hast: danke.«
Na also, ging doch.
»Wenn du darauf antworten musst, dann mach ruhig.«
Nett gemeint. Aber eigentlich unverschämt. Katharina war nicht dazu in der Lage zu begreifen, dass diese Erlaubnis im Grunde die Anmaßung beinhaltete, sie hätte das Recht, es auch zu verbieten.
Mir war das in diesem Moment egal. Ich hatte in der Tat Wichtigeres zu tun. Der erste Schritt des ersten Teils des gestern Morgen im Wald geborenen und gestern Abend besprochenen Planes hatte laut SMS von Carla funktioniert.
Carla hatte die Lebensgefährtin von Klaus Möller, dem für Toni arbeitenden Polizisten, um fünfzehn Uhr ins Hotel Domino bestellt. Dem lag ein achtsam durchdachter Gedanke zugrunde.
Ich hatte bei meinem gestrigen Brainstorming im Wald erfahren, dass ich diesen Möller dazu missbrauchen wollte, Toni dahin zu bringen, wo ich ihn gerne haben wollte. Ich wollte Möller schlicht und ergreifend umdrehen und benutzen.
Wie aber sollte ich mit den Mitteln der Achtsamkeit einen korrupten Polizisten dazu bringen, mir zu gehorchen? Dazu war erst einmal wichtig, sich in das Gefühlsleben dieses Polizisten hineinzuversetzen.
Polizisten sind Beamte. Beamte denken in der Regel rational und lassen sich nicht von ihren Emotionen leiten. Einen rationalen Menschen zu manipulieren ist schwieriger als einen irrationalen Menschen. Ich musste diesen Möller also zunächst einmal dazu bekommen, seine Rationalität über den Haufen zu schmeißen.
Jetzt ist Achtsamkeit natürlich in erster Linie für das Gegenteil gedacht: Durch Achtsamkeit soll man mit irrationalen Emotionen fertigwerden. Das schöne an der Achtsamkeit ist ja gerade, dass sie ein friedlicher Weg ist, um selbst die gewaltigsten, explosivsten Emotionsausbrüche zu entschärfen. Aber zum Glück ist dieser Weg keine Einbahnstraße.
Gefühle lassen sich ebenso entschärfen wie Bomben. Der grundlegende Unterschied zwischen der Anwendung der Achtsamkeit und dem Entschärfen einer Bombe ist, dass der Bombenentschärfer bei seiner Tätigkeit draufgehen kann. Das kann beim Achtsamsein nicht passieren. Wenn es mit den Methoden der Achtsamkeit heute nicht gelingt, ein Problem zu lösen, dann gelingt es eben morgen.
Wenn der Bombenentschärfer heute einen schlechten Tag hat, dann gibt es kein Morgen.
Aber das Entscheidende ist: Der Bombenentschärfer weiß, wie eine Bombe aufgebaut ist. Das heißt, er kann eine entschärfte Bombe auch wieder scharf machen.
Und für die Achtsamkeit gilt: Man kann mit dem Wissen der Achtsamkeit um den Aufbau des Seelenfriedens auch umgekehrt aus einem rationalen Menschen ein irrationales Nervenbündel machen. In dem man sein Gegenüber ganz bewusst in eine Emotion bringt, die ihm den Boden unter den Füßen wegzieht.
Ich war also auf der Suche nach einer Emotion, die dem guten, rationalen Herrn Möller so das Hirn vernebeln würde, dass ich mit ihm machen konnte, was ich wollte. Dazu hatte ich mit Sascha, Carla, Walter und Stanislav in Dragans Namen einen schönen Plan ausgearbeitet.
Herr Möller hatte eine auffallend attraktive Lebensgefährtin, Bascha, mit der er ohne Trauschein in eheähnlicher Verbundenheit lebte. Sie war zehn Jahre jünger als er. Eine Polin, die die Vorzüge von einem Beamtengehalt mit Pensionsansprüchen durchaus als Statussymbol ansah. Und ihr attraktives Aussehen war für Möller mehr als nur ein Statussymbol. Nach allem was ich wusste, führten die beiden eine ganz glückliche Beziehung, auch wenn sie optisch überhaupt nicht zueinander passten. Bascha vermied es tunlichst, sich von irgendwelchen Typen anbaggern zu lassen
Das hieß aber nicht, dass sie nicht für Komplimente offen gewesen wäre. Oder sich nicht von Frauen ansprechen ließ.
Deshalb hatten wir beschlossen, dass Carla Bascha auf der Straße ansprechen würde. Als seriöse Chefin einer Modelagentur, die auf der Suche nach neuen Gesichtern war. Sie würde Bascha bitten, mit ihr im Hotel Domino – einem als solches nicht erkennbaren, seriösen Stundenhotel für Carlas gehobene Escort-Girls – einen Kaffee zu trinken, um die Möglichkeiten zu erörtern, als Hausfrau nebenbei Geld mit Fotoaufnahmen für Werbeprospekte zu verdienen.
Sobald ich die Bestätigung von Carla hatte, dass Bascha angebissen hatte – und die Erlaubnis von Katharina, ein paar SMS zu schreiben –, führten Sascha und ich einen vorher geskripteten SMS-Dialog. Auf den von Herrn Möller abgehörten Handys.
Ich: »Weißt du, wo Toni ist? Kann ihn nicht erreichen.«
Sascha: »Der lässt sich bestimmt wieder von der Bullenfrau reiten.«
Ich: »Von wem?«
Sascha: »Die junge Blonde von diesem nichtssagenden Schnörres-Heini aus der Mordkommission.«
Ich: »Die Olle vom Möller?«
Sascha: »Exakt.«
Ich: »Die hat was mit Toni?«
Sascha: »Immer wenn der gute Möller im Dienst ist. Immer im Hotel Domino. Suite 812.«
Ich: »Gut zu wissen. Danke.«
Da ich mittlerweile eine gewisse Erfahrung in Sachen Work-Life-Balance hatte, kümmerte ich mich nach dieser geschäftlichen SMS wieder um meine Familie. Ich hatte mich mit der Idee des Delegierens nicht nur angefreundet, sondern sie auch so verinnerlicht und in die Tat umgesetzt, dass ich den weiteren Dingen ganz entspannt ihren Lauf lassen konnte. Zufrieden steckte ich mein Handy weg.
Katharina erzählte mir von ihren Plänen, am Samstag mit Emily zu ihren Eltern zu fahren. Wir wussten beide, dass ich hätte mitkommen können. Wir wussten beide, dass ich das nicht tun würde. Wir beschlossen, am Sonntag einen Familienausflug zu unternehmen. Ich schlug vor, Emily den Kindergarten zu zeigen. Sie kannte ihn zwar schon vom Vorstellungsgespräch, aber da hatte ihr Papa dort noch nicht das Sagen gehabt.
Der Sonntag würde also ein Familientag werden. Wenn es den Papa am Sonntag überhaupt noch gab. Das wiederum hing unter anderem vom Verlauf des heutigen Freitags ab.
Beim Delegieren war vor allem das offene Feedback der Beteiligten wichtig. Von den nachfolgenden Ereignissen konnte mir zum Glück Sascha ebenso genau wie amüsiert berichten.
Das Lesen des SMS-Dialoges zwischen uns muss für Möller zunächst einmal, wie geplant, ein emotional ungemein bewegendes Ereignis gewesen sein. Während ich das Handy wieder in meinem Sakko verschwinden ließ und darauf wartete, dass zumindest ein aufgesetztes Lächeln auf Katharinas Gesicht erschien, ließ Möller bereits den soeben abgefangenen Datensatz meines Handys verschwinden, um sofort in seinen Wagen zu springen und zum Hotel Domino zu rasen. Auf dessen Parkplatz tatsächlich der Wagen seiner Lebensgefährtin stand.
Rasend vor Wut, Hass und Angst fuhr er in die achte Etage und trat die Tür zur Suite ein. Aus dem Schlafzimmer kamen wildeste Sex-Geräusche. Aber die Schlafzimmertür war eine massive Doppelschiebetür. Abgeschlossen – und zum Auftreten schlicht ungeeignet.
Was dann passierte, muss live noch um einiges spannender gewesen sein, als es für mich im Anschluss auf Video aussah. Selbstverständlich hatte Carla in jedem Zimmer des Hotels Mini-Kameras versteckt. Es gibt keine wertvolleren Erinnerungen als die ans Fremdgehen. Jedenfalls aus Sicht dessen, der das Fremdgehen filmt.
Im Wohnzimmer der Suite sah man also einen vor Wut nicht mehr zurechnungsfähigen Polizisten an einer verschlossenen Schlafzimmertür rütteln.
In dem Schlafzimmer befanden sich Sascha, Stanislav und das Security-Pärchen. Sowie ein auf maximale Lautstärke aufgedrehter Fernseher, der auf das hoteleigene Porno-Programm eingestellt war. Sascha und Stanislav lehnten an der Wand, die das Schlafzimmer vom Wohnzimmer der Suite trennte. Das Pärchen wartete, entkleidet, im Badezimmer.
Herr Möller schrie gegen die Geräusche an, die er nicht dem Fernsehprogramm, sondern seiner Frau und Toni zuordnete.
»Toni, mach sofort die Tür auf, du hinterhältiges Arschloch!«
Nichts passierte. Unvermindertes Stöhnen hinter der Tür.
»Ich hab dir alle Infos gegeben, und du nimmst mir dafür meine Frau?«
Nichts passierte. Bis auf einen lustvollen Schrei hinter der Tür.
»Ich habe meinen Job für dich riskiert. Jetzt komm sofort da raus und riskier dein Leben, du feige Sau.«
Nichts passierte. Bis auf ein sich rhythmisch steigerndes, zweistimmiges Brüllen.
»Wenn du bei drei nicht die Tür aufmachst, dann bring ich dich und die Schlampe direkt im Bett um!«
Nichts passierte. Außer einem lang gezogenen »Jaaaa …!« hinter der Tür.
»Eins … zwei … drei …«
Möller verballerte ein ganzes Magazin wutentbrannt durch die Schlafzimmertür. Die Geschosse drangen ins leere und ohnehin altersschwache Doppelbett.
Als das Magazin ganz offensichtlich verschossen war und die blinde Wut von Möller ins Leere ging, schaltete Sascha den Fernseher aus. Nachdem der Platz im Bett sicher zu sein schien, gab Stanislav dem nackten Security-Pärchen ein Zeichen, sich dort hinzulegen und öffnete die Schiebetüren des Schlafzimmers.
Davor stand ein vor Wut zitternder Polizist mit Schaum vor dem Mund und weißen Handknöcheln, die sich um eine leergeschossene Pistole klammerten.
»Überraschung!«, rief Sascha.
»Da ist die Kamera«, rief Stanislav und zeigte auf den Rauchmelder, in dem die Überwachungskamera installiert war.
»Aber … was … wo …?«, stammelte der Polizist.
»Das können Sie uns vielleicht erklären, Herr Möller?«, antwortete Sascha. »Sie haben gerade ein ganzes Magazin Ihrer Dienstpistole durch eine geschlossene Schlafzimmertür einer illegal von Ihnen betretenen Hotelsuite auf ein Ihnen völlig unbekanntes Pärchen geballert. Was soll das? Wo sind Ihre Manieren?«
Möller war völlig fassungslos.
»Aber meine Bascha … und Toni … wo sind die?«
»Wo Toni ist, wissen wir nicht. Das interessiert uns im Moment auch gar nicht«, informierte ihn Sascha.
»Ihre Bascha allerdings …«, fuhr Stanislav fort.
»Oder wie Sie sagen: die Schlampe …«, ergänzte Sascha.
»… ist hier im Hotel«, erklärte Stanislav. »Sie hat gerade acht Etagen tiefer ein Gespräch mit der Geschäftsführerin einer Casting-Agentur. Wenn Sie wollen, holen wir Bascha gerne hoch. Dann erfährt sie, dass Sie aus grundloser Eifersucht beinahe ein wildfremdes Pärchen erschossen hätten.«
»Die Bild- und Tonaufnahmen sind spitze.«
»Und dabei erfährt Bascha dann auch, dass Sie ihr ein Verhältnis mit diesem Vollassi-Toni zutrauen«, ergänzte Sascha. »Und die ›Schlampe‹ bei der Gelegenheit gleich mit erschossen hätten. Wenn Sie mich fragen, ist Bascha auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss dann mental schon Ihre Ex.«
»Wenn Bascha allerdings an den Aufnahmen gar kein Interesse hat, dann aber bestimmt der Polizeipräsident. Der muss sich die Aufnahmen sogar anschauen, wenn dieses freundliche Pärchen hier Anzeige gegen Sie wegen versuchten Mordes erstattet.«
»Aber ich …«, stammelte Möller.
»Und dann wären Sie wahrscheinlich Ihren Job und Ihre Lebensgefährtin los. Richtig? Ohne Job wären Sie für Madame ja nur ein halber Mann«, ergänzte Sascha.
»Wie man es dreht und wendet: Scheiß Tag, für Sie, Herr Möller. Was?«
Es soll Nahtoderfahrungen geben, bei denen vor dem inneren Auge des Sterbenden der Film des bisherigen Lebens abgespielt wird. Vor dem inneren Auge von Herrn Möller spielte sich in diesem Moment ein Film ab, der den Rest seines zukünftigen Lebens darstellen könnte. Es war ein Horror-Film. Da Herr Möller gerade von einem Wechselbad der Gefühle ins nächste gekippt wurde (»Verdammt, meine Freundin betrügt mich …Juhu, meine Freundin betrügt mich nicht … Verdammt, meine Freundin betrügt mich nicht, verlässt mich aber trotzdem … Wie, ich bin meinen Job los?«), leistete er keinerlei Widerstand gegen den Vorschlag, den Sascha ihm nun unterbreitete.
Herr Möller würde ein letztes Mal polizeiliche Informationen an Toni durchstecken. Informationen, die völlig falsch waren. Anschließend würde Herr Möller nie wieder von Toni hören, nie wieder von dem Pärchen im Hotelbett hören und auch das Video von seinem Auftritt in der Hotelsuite würde er nie wieder zu sehen bekommen.
Weil er nämlich seine Bascha heiraten und ein glückliches Leben bis zur Pensionierung führen würde.
Das mit dem Heiraten und der Pensionierung würde natürlich nie stattfinden, war aber ein so schönes Bild. Und mit Drohungen alleine motiviert man eben nicht zur Mitarbeit. Mit Lügen schon viel besser.