»DAS KOMISCHE IST DER TACHOSTAND«, druckste Peter Egmann herum.

Wir standen im Garten von »Wie ein Fisch im Wasser« und tranken Kaffee. Unsere Kinder tobten ausgelassen im Bällebad der Flipper-Gruppe, während unsere Frauen sich die Räumlichkeiten ansahen.

Peter hatte mich am Sonntagvormittag angerufen, weil seine Frau ein paar Fragen zum Kindergarten hatte. Da ich mit Emily und Katharina sowieso gerade in Katharinas Auto unterwegs in die Herderstraße war, lud ich ihn ein, seiner Familie doch einfach die Räumlichkeiten zu zeigen. Wir trafen uns dann dort. Frauen und Kinder waren begeistert von der Einrichtung. Selbst Katharina hatte nichts an dem Kindergarten auszusetzen.

Als Peter und ich schließlich allein in der Sonne im Kindergarten-Garten standen, erzählte er mir von Klaus Möller.

»Du kennst doch Möller, oder?«

Ich nickte – mit gemischten Gefühlen.

»Er ist gestern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«

»Oh.« Ich gab mich überrascht. »Im Einsatz?«

»Nein. In Polen.«

»Wie das?«

»Eine ganz komische Sache. Er hat seiner Freundin einen Zettel geschrieben, dass er über das Wochenende ›in Sachen Liebe‹ unterwegs sei. Überfahren wurde er vor der Haustür von ihren Eltern an der Grenze zu Weißrussland. Er muss den Spuren nach eine Flasche Whiskey und einen Blumenstrauß dabeigehabt haben. Sein Wagen stand auf dem Parkplatz auf der anderen Straßenseite.«

»Vielleicht wollte er einen Heiratsantrag machen? Was ist daran komisch?«

»Das komische ist der Tachostand.«

»Der Tachostand?«

»Möller hat überall herumerzählt, dass er mit seinem Wagen bei exakt 100 000 Kilometern auf dem Tacho in die Inspektion gerollt ist. Er war sehr spießig, was solche Dinge anging.«

»Und?«

»Die Kollegen in Polen sagen, der Wagen auf dem Parkplatz hat exakt 100 058 Kilometer auf dem Tacho.«

»Und?«

»Möller hat den Wagen erst am Donnerstagnachmittag aus der Inspektion zurückbekommen. Und seine Werkstatt liegt nicht 58 Kilometer von dem polnischen Ort Sokolka entfernt.«

Meine Güte, über was für Details sich Polizisten Gedanken machten. Wichtig war doch nur, dass der Lebens-Tacho von diesem Verräterbullen endgültig abgelaufen war.

»Und warum machst du dir darum jetzt einen Kopf? Wie ich dich verstanden habe, war der Tachostand nicht ursächlich für Möllers Ableben, oder?«

»Nein. Möller muss von einem großen, schnellen Auto erfasst worden sein. Der Fahrer hat Fahrerflucht begangen. Es ist aber so … dass die letzte Nummer, die Möller gewählt hatte, die von Toni war.«

»Peter, welche Geschichte möchtest du mir erzählen? Die, dass dein Möller, liebestoll, nach einer langen Autofahrt, nervös bis unter die Hutkante, ohne nach links und rechts zu gucken, mit einer Flasche Whiskey und einem Strauß Blumen in den Händen über eine polnische Straße gelaufen und überfahren worden ist? Oder die, dass Möller Toni angerufen hat, mit seinem Auto nach Polen geflogen ist und dann absichtlich totgefahren wurde? Zufälligerweise vor dem Haus der Eltern seiner Frau?«

»Es ist ja nur so ein Gefühl. Zumal Toni seit Freitag verschwunden ist.«

Ich legte meinen Arm um Peter.

»Peter, wenn du dir einen Kindergarten für deinen Sohn anguckst, guckst du dir einen Kindergarten für deinen Sohn an. Wenn du einen Mörder suchen willst, den es gar nicht gibt, suchst du einen Mörder, den es gar nicht gibt. Aber tu mir bitte den Gefallen und suche keinen Mörder, den es gar nicht gibt, während du dir einen Kindergarten für deinen Sohn anguckst. Okay?«

»Was ist das denn für eine Philosophie?« Peter sah mich verwundert an.

»Das ist Achtsamkeit. Also, was ist dir wichtiger? Mörder oder Kindergarten?«

Peter musste keine Sekunde überlegen. »Kindergarten! Vielleicht war der Tacho ja einfach nur kaputt.«

Vielleicht war der Tacho einfach nur kaputt. Vielleicht erkannte Peter Egmann auch langsam die Prinzipien der Achtsamkeit. Vielleicht wollte sich Peter Egmann auch nur den Kindergartenplatz seines Sohnes nicht durch weitere Nachfragen gefährden.

In jedem Fall waren die Ermittlungen in Sachen des Dahinscheidens von Klaus Möllers nichts, mit dem ich mich irgendwie belasten wollte oder musste.

Als die Egmanns gegangen waren, zeigte ich Emily und Katharina den leer stehenden Rest des Hauses. Katharina war nicht nur von dem Kindergarten bei Tageslicht begeistert, sondern auch von meinen Kanzleiräumen darüber. Die Vorstellung, dass ich eine Etage über meiner Tochter, bei freier Zeiteinteilung, arbeiten würde, war nicht nur für mich, sondern auch für sie etwas durch und durch Positives. Völlig unabhängig davon, wie es mit uns beiden als Ehepaar in Zukunft weitergehen würde, wäre diese Lösung in Bezug auf Emily optimal.

»Habt ihr auch Hunger?«, fragte ich nach Ende der Besichtigungstour.

»Ein bisschen. Was schlägst du vor?«, wollte Katharina wissen.

»Wie wäre es mit McDonald’s?« Zum einen wollte ich mit der Wahl dieses Restaurants Emily einen Gefallen tun. Zum anderen kam es mir natürlich entgegen auch an diesem Tag so zu tun, als würde ich mich mit Dragan austauschen.

Katharina wollte gerade wegen Ersterem pädagogisch empört gucken, aber Emily kam ihr zuvor: »Ich will Chicken McNuggets, Vanilleeis und einen Kakao.«

Katharina und ich schauten Emily an und mussten lachen.

»Nun ja. Es lässt sich wohl nicht verleugnen, dass Emily mit mir schon mal bei McDonald’s war.«

»Da ich als euer Anwalt der Schweigepflicht unterliege, wird das außerhalb dieser Kanzlei niemand erfahren.«

Katharina nahm mich spontan in den Arm. »Es ist schön, dich so entspannt zu sehen. So kenne ich dich ja gar nicht.«

Und sie hatte recht. Es machte mir Freude, gut eine Woche nach Beendigung meines Achtsamkeitskurses zu erleben, wie sich alle meine beruflichen Probleme nach und nach in Luft auflösten. Joschka Breitner hatte mir etwas sehr Abstraktes zum Thema Minimalismus mit auf den Weg gegeben.

»Lassen Sie nur an Ihrem Leben teilhaben, was Ihnen guttut. Menschen, Gegenstände, Gedanken und Gespräche, die Sie belasten, dürfen Sie getrost wie Wolken an sich vorbeiziehen lassen. Von allem, was Sie nicht weiterbringt, was Sie belastet oder was Ihnen nicht behilflich ist, dürfen Sie sich jederzeit trennen. Durch diese minimalistische Achtsamkeit werden Sie schnell feststellen, dass Sie sich selbst genug sein können.«

Zu sehen, wie diese abstrakte Weisheit gelebt ganz reale Formen annehmen konnte, war sehr erfüllend. Ich hatte mich von meinem Mandanten getrennt. Ich hatte mich von meiner Kanzlei getrennt. Ich hatte Klaus Möller ziehen lassen. Malte würde sich noch heute Abend in der Müllverbrennungsanlage in Luft auflösen und als perfekt gefilterte Wolke an mir vorüberziehen. Und auch Toni würde morgen Abend nicht mehr existieren. Minimalistischer hätte ich mein berufliches Umfeld nicht gestalten können – jedenfalls nicht, wenn ich noch ein paar mögliche Mandate übrig lassen wollte.

Nach einem ausgiebigen Familienessen bei McDonald’s fuhren mich Emily und Katharina zurück zu meinem Apartment. Katharina hielt in der Parkbucht, in der erst am Mittwoch mein Firmenwagen explodiert war. Sie betrachtete irritiert den verkohlten Baum.

»Was ist denn da passiert?«

»Da hat ein Wagen gebrannt. Das wächst aber nach.«

»Wessen Wagen denn?«

»Meiner jedenfalls nicht.«

Und das war nicht mal gelogen.

Abends rief ich dann Boris an.

»Ja«, raunzte Boris kurz angebunden.

»Ich bin’s, Björn. Ich habe gerade mal auf den Kalender geguckt und festgestellt, dass morgen ja schon Montag ist.«

»Sehr richtig. Und wenn du anrufst, um mehr Zeit herauszuschlagen, Herr Anwalt, dann kannst du schon mal anfangen zu googeln, was ›njet‹ bedeutet.«

»Deswegen rufe ich nicht an. Ganz im Gegenteil, Boris. Ich möchte dir zunächst einmal danken.«

»So? Wofür?«

»Dass du dich an deinen Teil unserer Abmachung gehalten hast, und wir hier in Ruhe den Verräter finden konnten.«

Dankbarkeit ist nicht nur ein Gefühl, das einen selber entlastet. Dankbarkeit entspannt auch das Gegenüber. Und damit die ganze Atmosphäre.

Boris klang auf einmal wesentlich offener. »Es ist nicht gerade üblich, dass sich jemand in unserer Branche dafür bedankt, dass eine Abmachung eingehalten wird. Aber deinen Worten entnehme ich, dass du das Arschloch hast.«

»Richtig.«

»Wann bekomme ich ihn?«

»Das kommt darauf an. Golden Delicious oder Granny Smith?«

»Bitte?«

»Soll ich dem Schwein als Apfel einen Golden Delicious ins Maul stecken oder lieber einen Granny Smith. Golden Delicious habe ich zu Hause.«

»Du kannst ihm auch einen Pferdeapfel in die Mundhöhle packen. Hauptsache ich kann mit dem Penner machen, was ich will.«

»Ist alles mit Dragan geklärt. Du bekommst die Daumen-Stempel-Zeitung, den Verräter und einen Golden-Delicious-Apfel.«

»Und wann sehe ich Dragan?«

»Im Anschluss. Wir können alle zusammen zu ihm fahren. Du mit deinen Officern. Ich mit Dragans Officern. Wir klären alle Probleme auf allen Ebenen.«

»Hört sich gut an. Und wo soll das stattfinden?«

»Du wirst verstehen, dass ich das niemandem im Vorfeld sage. Das wissen auch Dragans Officer nicht. Das erfahren alle, wenn wir da sind. Dafür darfst du bestimmen, wo wir euch den Verräter übergeben sollen.«

»Warum treffen wir uns nicht an diesem Autobahnparkplatz, an dem die ganze Scheiße angefangen hat?«

»Da, wo Igor abgefackelt wurde?«

»Genau. Wenn da gerade kein Bus voll Kindern hält, ist es dort nachts sehr ruhig.«

»Heute Nacht oder morgen Nacht?«

»Heute um drei Uhr. Kommst du allein?«

»Nein, ganz offiziell – mit allen Officern.«

»Und dem Arschloch.«

»Einer der Officer ist das Arschloch.«

»Hab ich mir gedacht.«

»Du bist ja auch schlau, Boris.«

»Spar dir dein Geschleime für später auf. Wenn wir bei Dragan sind, kannst du ihm gerne sagen, wie toll du mich findest.«

Genau das war mein Plan.