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nten gebe ich dem Concierge den Umschlag mit einem Hundert-Dollar-Schein oben drauf.
„Das muss morgen früh raus“, sage ich zu ihm. „Nicht heute. Nicht morgen Nachmittag. Morgen früh. Können Sie das einrichten?“
„Ja, natürlich.“ Er nickt. „Alles, was Sie wollen, Sir.“
„Wie lange ist heute Ihre Schicht?“, frage ich.
„Ich werde bis neun Uhr hier sein, Sir.“
„Gut.“ Ich gebe ihm noch 100 Dollar mehr. „Wenn ich ihn zurückhaben will, geben Sie ihn mir. Aber wenn nicht, bekommt ihn niemand anders, egal, wer es ist. Sie schicken ihn einfach morgen früh ab. Haben wir uns verstanden?“
„Natürlich.“ Er nickt. „Ich werde mich persönlich darum kümmern, Sir.“
„Sehr gut.“
Ich lasse den Umschlag bei ihm zurück und mache mich auf den Weg zum Ausgang, aber bevor ich dort ankomme, klingelt mein Telefon. Als ich sehe, dass es Alexei ist, husche ich in einen Korridor und nehme den Anruf an.
„Ljoschenka“, begrüße ich ihn. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Du bist heute gut gelaunt.“ Er hebt eine Augenbraue. „Für einen Mann, der den Tag vielleicht nicht überleben wird.“
„Du weißt, wie das ist.“ Ich zucke mit den Schultern. „Wir müssen das Beste daraus machen.“
„Ah ja, also ...“ Er kratzt sich am Kinn. „Ich habe Neuigkeiten.“
„Was ist los?“
„Die Bullen durchsuchten das Haus von Andrei. Haben den Garten umgegraben. Konnten nichts finden. Gar nichts.“
„Verdammter Hurensohn“, knurre ich. Ich wusste, dass es eine verdammte Falle gewesen war. Wahrscheinlich hat Vasily die Leiche am nächsten Tag da rausgeholt.
„Wie auch immer“, – Alexei hält einen Finger hoch – „es scheint, dass sie Videoaufnahmen von Andrei mit dem vermissten Mädchen aus dieser Nacht gefunden haben. Der Angestellte einer Tankstelle meldete sich.“
„Nun, das ist immerhin schon etwas“, murmle ich, „aber nicht genau das, was ich mir erhofft hatte.“
„Es reicht erst mal für eine Ablenkung“, sagt Alexei. „Andrei ist immer noch im Krankenhaus, aber meine Quellen sagen mir, dass sie ihn bereits zweimal befragt haben. Vasily ist verschwunden, allen Berichten zufolge untergetaucht, aber ich vermute, dass er auf dem Weg nach New York ist.“
„Das habe ich vermutet.“ Ich nicke. „Wir haben nicht viel Zeit.“
„Nein, hast du nicht“, stimmt Alexei zu.
„Wenn du kostenlose schlechte Ratschläge hast, auch die nehme ich.“ Ich grinse ihn an.
„Fang mit Ciara an.“ Alexei erwidert das Grinsen. „Fang immer mit der Frau an.“
„Bist du bereit?“,
frage ich.
Maxim sieht mich an, als wäre ich durchgedreht. „Bereit, mir die Eier wegpusten zu lassen? Ja sicher, Junge. Jeden Tag
in der Woche und sonntags zweimal.“
Trotz des Ernstes der Situation muss ich lachen. Jetzt, da ich wieder mit dem alten Mann zusammen bin, erinnere ich mich daran, warum ich ihn anfangs so sehr mochte.
„Nun, zumindest kannst du dich damit trösten, dass du so verdammt alt bist, dass du deine Eier wahrscheinlich gar nicht mehr brauchst“, sage ich. „Aber ich habe eine Frau im Hotel, die meine ziemlich liebgewonnen hat. Also, versuchen wir, sie unbeschädigt zu lassen, ja?“
Er zuckt mit den Schultern und starrt den Club an. „Bist du dir sicher, dass das überhaupt der richtige Ort ist?“
„Ja. Ich habe gute Informationen, dass er zuverlässig jeden Mittwoch hierherkommt.“
„Nun, selbst das kann sich ändern.“ Maxim zuckt mit den Schultern.
Wir warten schweigend und schauen uns das Gebäude an. Es ist gehobener als das Delirium
, aber ich kenne den Grundriss nicht. Ich weiß nicht, was uns drinnen erwartet oder was passieren wird, wenn Gleb tatsächlich auftaucht. Er hat den Ruf, skrupellos zu sein, aber ich vermute, mindestens die Hälfte davon ist Vory-Folklore und nur der Rest die Wahrheit.
Es dauert zwei volle Stunden, bis ich endlich einen Blick auf ihn werfen kann. Ein schwarzer Geländewagen fährt an den Bordstein, einer seiner Soldaten geht hinten um den Wagen herum und öffnet die Tür. Als der alte Mann aussteigt, blickt er nach beiden Seiten die Straße hinunter, obwohl seine Soldaten bereits zweimal nachgesehen haben. Die Macht der Gewohnheit, nehme ich an. Wenn du der Mann an der Spitze der Nahrungskette bist, fehlt es nicht an Männern, die gerne deinen Platz einnehmen würden.
Maxim und ich sprechen nicht, während wir uns ihm nähern, und wir schaffen es nicht, uns ihm auf drei Meter zu nähern, bevor einer seiner Soldaten nach seiner Waffe greift.
„Wer zum Teufel sind Sie?“ Gleb dreht sich zu mir um, die
Augen dunkel und hart.
Ich habe das Gefühl, dass wir beide kurz davor sind, erschossen zu werden, aber bevor er den Befehl dazu gibt, richten sich seine Augen auf Maxim, und ein Funke des Erkennens taucht auf.
„Wartet“, sagt er zu seinen Männern. „Den kenne ich. Sollten Sie nicht eigentlich tot sein?“
„So was in der Art.“ Ein Lächeln legt sich über Maxims Lippen. „Aber ich habe noch ein paar Leben in mir.“
„Maxim“, sagt Gleb seinen Namen. „Sie haben früher für Vasily gearbeitet, richtig?“
„Genau.“ Maxim nickt.
„Was haben Sie beide hier zu suchen?“, fragt Gleb, als seine Augen zu mir huschen. „Und wer zum Teufel sind Sie?“
„Ich bin Vasilys Neffe“, antworte ich vorsichtig und hoffe, dass Vasily noch nicht mit ihm gesprochen hat. „Lev.“
„Wir hatten auf eine Privataudienz mit Ihnen gehofft“, sagt Maxim. „Nur ein paar Minuten Ihrer Zeit.“
Einer seiner Soldaten tritt vor und blickt in unsere Richtung. „Boss, ich weiß nicht, ob das so gut ist ...“
Gleb hebt die Hand und bringt ihn sofort zum Schweigen. „Worum geht es?“
Es gibt viele Möglichkeiten, wie ich anfangen könnte, aber ich kann nur daran denken, was Alexei gesagt hat, und ich weiß, dass er recht hat.
„Es geht um Ciara March.“
Für den Bruchteil einer Sekunde verschwindet die Härte in Glebs Augen. Sie wird unter einer Flutwelle von Schmerzen weggespült, während er ihren Namen wiederholt. „Ciara?“
Ich nicke. Maxim bewegt sich neben mir. Wir warten in angespannter Stille, unsicher, wie er reagieren wird. Selbst nach all den Jahren ist es offensichtlich, dass sie ihn immer noch berührt. Die bloße Erwähnung ihres Namens hat eine Wunde aufgerissen, aber es könnte auch etwas sein, das er
vergessen will.
„Kontrolliert sie und bringt sie rein.“ Gleb macht eine Geste zu seinen Männern. „Schnell.“
Er lässt uns auf dem Bürgersteig zurück, während seine Männer uns entwaffnen und uns dabei auch die Telefone abnehmen. Sobald sie sich davon überzeugt haben, dass wir nicht verkabelt sind, führen sie uns hinein, durch den Club und in den Keller.
Maxim blickt mich fragend an und ich zucke nur mit den Schultern. Entweder gehen wir jetzt gerade in den Tod oder Gleb führt von hier aus seine Geschäfte.
Als wir unten an der Treppe ankommen, wartet Gleb an einer Bar, die anscheinend für seinen eigenen privaten Gebrauch eingerichtet ist. Er bedeutet, dass wir uns neben ihn setzen sollen und schaut dann zu seinen Männern.
„Setzt Kopfhörer auf. Wir werden uns unterhalten.“
Die Soldaten tun, was er verlangt. Sie stehen wie Wächter an der Treppe und beobachten uns aufmerksam, während Gleb drei Gläser Wodka einschenkt.
„Es ist lange her, dass ich ihren Namen gehört habe.“ Er schiebt ein Glas in meine Richtung, gefolgt von einem Glas für Maxim. „Woher kannten Sie sie?“
Maxim schaut mich an und ich nicke ihm zu, um fortzufahren.
„Früher kam Ciara in den Club“, erzählt er Gleb. „In Philadelphia.“
Gleb starrt ihn an, als greife er in seine Seele, und schon sehe ich, wie sich die Spannung um seine Augen herum einschleicht. Wir müssen hier vorsichtig vorgehen und ich hoffe nur, dass Maxim seine Worte mit Vorsicht wählt.
„Einmal in der Woche traf sie sich mit Vasily. Zu dieser Zeit sprach ich nie mit ihr und wusste nicht viel über sie. Aber nachdem ich sie bei einem Vory-Treffen mit Ihnen gesehen hatte, begann ich, die Puzzleteile zusammenzufügen.“
„Machen sie weiter“, befiehlt Gleb.
„Dann, eines Tages, aus heiterem Himmel, sagt Vasily, ich müsse mich um sie kümmern. Dass sie ein Problem sei. Und genau das habe ich dann auch getan.“
Glebs Finger spannen sich um sein Glas und ich spüre, wie meine eigenen Muskeln in gleicher Weise reagieren, während Maxim sich beeilt, den Rest zu erzählen.
„Aber dann sah ich sie und ich konnte es nicht tun. Auf keinen verdammten Fall. Ich mochte es nicht, Jobs mit Frauen zu machen, und entschuldigen Sie, was ich jetzt sage, aber ich hatte die Nase voll von Vasilys Scheiß. Alle zwei Wochen wurde ein anderer zum Tode verurteilt.“
„Was ist mit ihr passiert?“, knurrt Gleb.
„Ich habe mit ihr gesprochen“, sagt Maxim. „Sagte ihr, sie solle sich verdammt noch mal aus der Stadt verpissen. Ich erklärte ihr, dass ich nicht der Einzige sein würde, den Vasily schicken würde. Sie verstand das. Und gab mir die hier.“
Maxim zieht die Kopien der Notizen, die er gestern Abend gemacht hatte, aus seiner Jacke und legt sie auf die Bar vor Gleb. Eine Minute lang starrt Gleb sie nur an, blättert sie durch, bevor er die Augen schließt, und erschaudert sichtlich, als er spricht.
„Sie hat mich verraten.“
„Zuerst“, räumt Maxim ein. „Das war ihre Absicht. Aber ich glaube, was Sie mit ihr hatten, war echt. Am Ende wollte sie Ihnen nicht mehr wehtun. Sie fühlte sich gefangen, und sie hatte zu viel Angst, zu Ihnen zu kommen und zu viel Angst, zu bleiben. Also gab sie mir die hier und sagte mir, ich solle sie sicher aufbewahren. Dass Sie es vielleicht eines Tages verstehen könnten.“
„Ich habe es immer verstanden.“ Gleb seufzt. „Ich hatte den Verdacht, dass sie Informationen an jemanden bei den Vory weitergab, ich wusste nur nicht, an wen. Als ich sie damit konfrontierte, stritt sie es ab. Ich ging an diesem Tag, um einen
Job zu erledigen, und als ich zurückkam, war sie weg. Ich sah sie nie wieder, aber ich habe sie all die Jahre gesucht.“
„Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Vasily sie erwischt hat“, sagt Maxim. „Nur ein paar Jahre, nachdem sie abgehauen ist.“
Gleb lässt den Kopf hängen, und selbst von meinem Platz aus spüre ich den Schmerz, der von ihm ausgeht. Es ist offensichtlich, dass das, was sie hatten, trotz allem, was Ciara tat, echt war, und dass Gleb nie darüber hinweggekommen ist.
„Vasily hat das getan?“, fragt er mit einer eindringlichen Endgültigkeit.
„Ja“, antworte ich.
Er hebt den Kopf, um meinem Blick zu begegnen. „Und was hat das alles mit Ihnen zu tun? Warum verraten Sie Ihren Onkel und kommen mit diesen Informationen zu mir? Sie sind nicht einmal eingeweiht. Sie sind mir nichts schuldig.“
Er ist mir gegenüber misstrauisch und ich kann ihm das nicht übelnehmen. Aber ich lege alles offen.
„Ich habe ein paar Gründe“, sage ich. „Der erste Grund ist, dass er meine Mutter ermordet hat, und ich vermute, auch meinen Vater. Die Polizei sagt, er sei überfallen worden, aber das wäre ein seltsamer Zufall.“
„Und der dritte Grund?“, fragt Gleb.
Ich schaue zu Maxim, als sich meine Brust zusammenzieht. Es ist das größte Glücksspiel meines Lebens. „Der ist zwiespältig. Und ich hoffe, Sie können verstehen, warum ich zögere, es Ihnen zu sagen. Was Sie für Ciara empfanden? Ich fühle so für ihre Tochter.“
„Tochter?“ Glebs Augen heben sich und bewegen sich zwischen Maxim und mir hin und her. „Was ... Tochter
?“
„Ich vermute, sie ist Ihre Tochter“, antwortet Maxim. „Oder zumindest schloss ich das daraus, als ich sie mit dem Baby sah, nachdem sie weggelaufen war.“
Der Raum verstummt und ich weiß, dass ich im Moment
nichts dazu sagen kann. Gleb verdaut die Informationen, dreht sie in seinem Kopf um, versucht, den Sinn zu verstehen. Das ist eine Situation, die ich gut nachvollziehen kann, wenn man meine eigene bedenkt, nachdem ich Kat gefunden hatte.
„Es fällt mir schwer, das zu glauben“, sagt er schließlich.
„Das dachte ich mir.“ Ich nehme den gefälschten Führerschein, den Kat in Colorado benutzt hatte, und schiebe ihn über die Bar in seine Richtung. „Aber Gene lügen nicht.“
Sein Finger bewegt sich über ihr Gesicht, untersucht sie, und er schüttelt den Kopf, als seine Stimme bricht. „Es ist, als sähe man einen Geist.“
„Ich kann sie zu Ihnen bringen“, sage ich. „Wenn es das ist, was Sie wollen. Ich glaube, es gibt ein paar Dinge, die sie Ihnen gerne selbst sagen würde.“
Er stellt das Glas Wodka vor sich hin und starrt an die Wand, um seine Emotionen zu verbergen. „Das wäre wunderbar.“
„Ich brauche Ihre Zusicherungen, dass sie in Sicherheit sein wird“, sage ich. „Ich beabsichtige, sie zu meiner Frau zu machen. Und ich lasse sie nicht gehen.“
Gleb blickt mich an, und ein winziger Hauch von Respekt blitzt in seinen Augen auf. Er ist es nicht gewohnt, dass jemand auf diese Weise mit ihm spricht. Er gibt die Befehle. Er sagt anderen Menschen, wie die Dinge zu laufen haben. Aber wenn es um Kat geht, bin ich nicht bereit, Zugeständnisse zu machen.
„Sie wird sicher sein“, antwortet er. „Und die andere Sache, nun, die Zeit wird zeigen, ob Sie würdig sind.“
Ein Grinsen zerrt an meinen Lippen und ich nicke. „Es gibt nur noch eine Sache, die wir besprechen müssen.“
„Ah, ja.“ Er greift nach der Flasche Wodka vor sich und schenkt sich ein weiteres Glas ein. „Vasily.“