16
Kat
J osh und ich sitzen im hinteren Teil des SUV, während Lev vorne mitfährt. Ich bin nervös, als wir uns durch den Berufsverkehr schlängeln. Der Fahrer sagt kein Wort und Lev schreibt etwas auf meinem Handy. Da seines vorhin leer war, ließ er es zum Aufladen im Zimmer liegen und nahm meines.
„Ich habe Hunger, Mami“, sagt Josh.
„Wir besorgen dir bald etwas zu essen“, sage ich. Er hat seit unserem späten Mittagessen nichts mehr gegessen, und ich habe keinen Snack dabei.
„Wir sind fast da“, sagt Lev und dreht sich ein wenig um.
Ich nicke und beiße mir auf die Lippe. Einige Minuten später kommt der SUV zum Stehen, und sowohl Lev als auch der Fahrer steigen aus. Der Fahrer öffnet meine Tür und ich schlüpfe hinaus. Lev nimmt Josh in die Arme und hält ihn fest. Wir gehen auf die beiden Männer zu, die neben der Tür stehen.
„Tasche“, sagt der eine zu mir.
Ich bin verwirrt und blicke zu Lev, der nickt. Ich öffne meine Tasche, damit er hineinschauen kann. Lev nahm die Waffe und legte sie in den Hotelsafe, bevor wir losfuhren.
Nachdem er meine Tasche durchsucht hat, sagt mir der Mann, ich solle die Arme ausstrecken.
„Ich hole Josh eine Brezel. Wir sind gleich wieder da“, sagt Lev und bedeutet mir, das zu tun, was die Männer sagen, während er Josh ablenkt.
Ich beobachte, wie er Josh den Kopf wegdreht, während die Männer mich durchsuchen. Als sie zufrieden sind, sehe ich, dass Lev und Josh zurückkehren und Josh auf einer riesigen weichen Brezel kaut.
„Warum wartest du mit Josh nicht drinnen? Ich bin gleich da“, sagt er zu mir und reicht mir Josh. Ich weiß, dass Lev bewaffnet ist, und ich vermute, dass sie ihm die Waffe und das Handy abnehmen werden, so wie sie es vorhin getan haben.
Ich warte gleich hinter der Tür, die ein Mann öffnet, und einen Augenblick später kommt Lev zu uns. Er nimmt mir Josh ab und seine Hand ruht auf meinem Rücken, während wir dem Mann durch den geschäftigen Club zu einer Treppe auf der Rückseite folgen. Ich schaue Lev noch einmal an, bevor ich hinuntergehe, und er nickt mir zu.
Unten ist es ruhig. Hier gibt es auch eine Bar, aber es sind viel weniger Leute da, alles Männer.
Ich weiß sofort, welcher von ihnen Gleb ist. Ich weiß, dass er der verantwortliche Mann ist, denn er strahlt Macht aus.
Er ist älter, als ich erwarte und war wohl mindestens zwanzig Jahre älter als meine Mutter. Er ist auch groß, so groß wie Lev. Ich sehe es, als er aufsteht und seine Anzugsjacke zuknöpft, die dunklen Augen auf mich gerichtet.
„Lev?“ Ich zögere, drehe mich um.
„Geh weiter, Kat.“ Er nimmt meine Hand, und als wir näher kommen, zieht Gleb einen Stuhl heraus und sieht Josh an. Obwohl ich ihn nicht durchschauen kann, schwöre ich, dass sich Überraschung über sein Gesicht zieht.
„Katerina“, sagt Gleb, als ich ihm so nahe wie möglich bin und das Einzige, was uns noch trennt, der Stuhl ist. Er mustert mein Gesicht, die – zugegebenermaßen etwas schlampig gefärbten – Haare, aber ich hatte nicht den Luxus von genug Zeit. Seine Augen sind intensiv und er lächelt fast, als hätte er gerade an etwas gedacht. „Drehen Sie sich um.“
„Was?“
„Ich muss etwas nachsehen.“
Ich drehe mich um, bin mir nicht sicher, was er will, aber dann fühle ich seine Hand an meinem Haar, wie er es vom Nacken wegstreicht und meinen Pullover ein wenig nach unten schiebt. Da wird mir klar, wonach er sucht.
Er gibt einen Laut von sich und ich drehe mich zu ihm um.
„Jedes Mitglied meiner Familie hat das gleiche Zeichen. Sieht an einer Frau besser aus“, sagt er, und versucht, einen Witz zu machen, aber ich habe das Gefühl, dass dieses Treffen schwerer für ihn ist, als er erwartet hat.
Das Zeichen, von dem er spricht, ist das herzförmige Muttermal auf meinem Rücken, direkt unter meinem Nacken. Auch Josh hat es – genau an der gleichen Stelle.
„Mami.“ Joshs Stimme ist klein. Er ist nervös.
Ich drehe mich um und sehe, dass er seine Arme nach mir ausstreckt, also nehme ich ihn Lev ab.
Gleb schaut zu Josh und Josh sieht ihn auch an. Joshs Haar ist eine Nuance dunkler als das von Lev und ich frage mich, ob das von Glebs Seite kommt.
„Er hat es auch“, sage ich und Gleb sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. „Das Muttermal.“
Gleb lächelt, dann schaut er auf Joshs Brezel. „Was ist das? Bist du hungrig, Junge?“
„Josh. Sein Name ist Josh.“
„Bist du hungrig, Josh?“
Josh vergräbt sein Gesicht an meinem Nacken.
„Setz dich“, sagt Gleb und ruft jemanden herbei.
Ich setze mich, mit Josh auf dem Schoß, und Glebs Augen wandern von mir zu Josh und zurück, als könne er nicht ganz glauben, was er da sieht.
„Was möchtest du essen?“, fragt er Josh. „Sie kochen dir alles, was du willst.“
Josh sieht mich an.
„Keine Marshmallow-Pancakes“, sage ich mit einem Augenzwinkern.
Er lächelt und dreht sich zu Gleb um. „Chicken Nuggets.“
„Chicken Nuggets.“ Gleb schüttelt den Kopf. „Bringen Sie dem Jungen ein paar Chicken Nuggets und legen Sie etwas Grünes daneben.“
„Er isst nichts Grünes“, unterbreche ich. „Vielleicht Karotten?“
„Karotten. Legen Sie einige Karotten daneben. Wie wär’s mit etwas zu trinken, Josh?“ Es ist, als würde er den Namen ausprobieren.
„Cola“, sagt Josh.
„Du übertreibst es“, sage ich.
Er schaut von mir zu Gleb und fügt ein „Bitte“ hinzu.
Gleb grinst und nickt. „Höflich. Sehr gut. Eine Cola für den Jungen. Und bringen Sie meinen Wodka. Bist du hungrig, Katerina?“
„Ähm, nein danke.“
Er nickt, um den Mann zu entlassen, und dieser taucht einen Augenblick später mit einer Flasche Wodka wieder auf. Ich habe noch nie von dieser Marke gehört, aber der dekorativen Flasche nach zu urteilen, vermute ich, dass es sich um eine ziemlich exklusive Marke handelt. Gleb schenkt Lev und mir ein, ohne zu fragen, ob wir etwas wollen, aber, ehrlich gesagt, kann ich es brauchen.
Wir sitzen in unbehaglicher Stille, während Gleb mich ansieht und dreimal soviel Wodka trinkt, wie ich schaffe.
Als die Chicken Nuggets kommen, nimmt Lev Josh auf den Schoß, und Josh beginnt zu essen.
Gleb beobachtet ihn eine lange Minute lang. „Er ist deiner?“, fragt er Lev.
„Ja.“
Gleb nickt, dann wendet er sich mir zu.
„Sie hat dich nach meiner Schwester benannt“, sagt er schließlich. „Sie waren gute Freundinnen.“
„Wirklich?“ Ich bin plötzlich so traurig. Ich weiß nichts über meine Mutter. Nicht eine einzige Sache.
„Auch sie starb jung. An Krebs. Ein Jahr, bevor deine Mutter ... gezwungen wurde zu gehen.“ Seine Stimme wird am Ende härter, und er schenkt sich noch einen Wodka ein, wobei er die Flasche hart umklammert.
„Ich weiß gar nichts über sie. Ich kann mich an nichts erinnern.“
„Ich werde es dir erzählen. Mach dir keine Sorgen. Aber wir müssen zuerst andere Dinge besprechen. Du wohnst mit dem Jungen bei mir zu Hause –“
„Nein. Sie bleiben bei mir und wir bleiben, wo wir sind“, sagt Lev, die Stimme hart und kompromisslos. Er greift unter den Tisch und nimmt meine Hand.
Gleb sieht irritiert aus und ich habe das Gefühl, dass nicht viele Leute Nein zu ihm sagen. Er dreht sich zu mir um.
„Ich kenne Sie nicht“, fange ich an, bevor er etwas sagen kann. „Josh hatte in der letzten Woche genug Aufregung in seinem Leben. Ich kann nicht noch eine Sache ändern.“
Er überdenkt meine Worte und nickt dann. „Bis auf Weiteres.“ Er berührt mein Haar. „Du hast deine Haare gefärbt. Es hat die gleiche Farbe wie Ciara?“
Ich nicke.
„Wegen dieses Bastards Vasily?“
Ich richte meinen Blick auf Josh.
„Entschuldigung, Entschuldigung“, sagt Gleb und trinkt wieder von seinem Wodka. „Ihr braucht Schutz. Das Hotel –“
„Lev beschützt uns. Es ist in Ordnung.“
Gleb blickt Lev mit hochgezogener Augenbraue an. Josh ist mit seinem letzten Chicken Nugget fertig und greift zu seiner Cola. Sie sieht hier fehl am Platz aus, die Plastik-Kindertasse mit den bunten Zeichentrickfiguren darauf und dem leuchtend gelben Strohhalm. Er schlürft den Rest Cola und stellt dann die Tasse hin.
„Spielst du gerne Spiele, Josh?“, fragt Gleb.
Josh nickt und fühlt sich entspannter, nachdem er genau das bekommen hat, was er wollte, denke ich.
„Dima“, ruft Gleb. Ein Mann kommt zu uns. „Spiel mit Josh eines dieser Spiele.“
Er zeigt auf einige Maschinen, die aus den 90er Jahren zu stammen scheinen.
„Sieht aus, als hätten sie Pac-Man“, sagt Lev zu Josh, der nicht weiß, was Pac-Man ist.
„Willst du spielen?“, frage ich Josh.
„Mit dir.“ Er wirft einen noch unsicheren Blick auf Gleb.
„Ich werde genau hier bleiben. Du kannst mich die ganze Zeit sehen und ich kann dich sehen, okay?“
Er nickt, aber ich sehe, dass er eine Minute braucht, um seine Hand in die von Dima zu legen, obwohl Dima versucht, zu lächeln. Ich frage mich, ob ich ihm sagen sollte, dass es besser ist, wenn er es nicht tut.
„Es wird ihm gut gehen“, sagt Gleb.
Lev und ich drehen uns zu ihm zurück. Er lehnt sich zu mir und schiebt mir die Haare aus dem Gesicht. Er ist näher, als ich dachte und es dauert einen Moment, bis ich daran denke, mich nicht zurückzuziehen. Er streicht mit dem Daumen über den verheilenden gelblichen Bluterguss.
„Andrei Stanislov hat das getan? Er hat dich berührt? Dieser Schweinehund Vasily wusste, dass sie schwanger war und hat sie geschlagen. Er wusste, dass ich ein Kind habe, aber er hat es mir nicht gesagt.“ Er schüttelt den Kopf, als würde er es bereuen. „In all den Jahren ... Auch ein Enkelkind.“ Er greift in die Tasche und holt sein Handy heraus. Jemand nimmt sofort den Anruf an. „Irgendwas Neues von der Ratte?“ Ich kann den Ekel in seiner Stimme hören.
Er nickt, murmelt etwas.
„Ich will sie beide. Lebendig.“