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Merit gab Jacob einen flüchtigen Kuss. Ungeduldig wartete sie darauf, bis er endlich seine letzten Sachen eingesammelt und sich auf den Weg zum Schulbus gemacht hatte. Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, stürzte sie zum Telefon und hörte die Nachricht ab, die sie unter der Dusche verpasst hatte. Es war die Beschwerde eines Kunden aus New Jechida, dass ein Fleck aus seiner Hose nicht ordnungsgemäß entfernt worden war.
In der Küche lag noch Jacobs angebissener Marmeladentoast auf dem Teller. Sie wollte gerade die Essensreste in den Mülleimer werfen, da brach sie in Tränen aus.
Das mache ich alles nur für dich. Du sollst es doch mal besser haben als ich. Vielleicht bleibst du dann und verschwindest nicht wie deine Geschwister nach Deutschland, weil sie sich dort »verwirklichen« können.
Verwirklichen … Müde ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und starrte auf die halb volle Tasse mit dem kalten Kaffee. Letzten Endes lief es immer aufs Gleiche hinaus. Man machte seine Fehler. Ohne die schien es nicht zu gehen im Leben. Ihr größter war es gewesen, viel zu lange an ihren sozialromantischen Träumen kleben zu bleiben.
Einst war sie mit den Fortschrittlichen angetreten, und nun fand sie sich im Lager der Gestrigen wieder. Die anderen hatten moderne Häuser, Klimaanlagen, Satellitenschüsseln und Autos, mit denen sie die Einkäufe fast bis vor die Tür fahren konnten. Merit besaß bloß ein Fahrrad und, nur weil Jacob sonst gar nicht mehr nach Hause gekommen wäre, auch einen Fernseher. Den zahlte sie immer noch ab. Das einfache Handy hatte keine sechzig Schekel gekostet und wurde von ihrem Sohn mit tiefster Verachtung gestraft.
Die Wäscherei lief schlecht. Sie war mit den Strom- und Wasserrechnungen im Rückstand. Seit Wochen lebten sie von Zucchini, und wenn die Bohnen reif waren, kämen die an die Reihe. Ihre Bandscheibe meldete sich. Die Knie taten ihr weh. Im Spiegel blickte ihr das Gesicht einer reizlosen Frau entgegen, die ihren Zenit längst überschritten hatte. Das Alter kam, und sie hatte nicht vorgesorgt. Alles, was sie besaß, war in diesem Haus, das noch nicht einmal ihr gehörte. Man hatte es ihr mietfrei überlassen. Wahrscheinlich waren sie froh, dass überhaupt noch jemand in diesem Teil von Jechida lebte und die Vandalen abhielt. Sie sollte sich einen Hund anschaffen.
Der Gedanke an einen deutschen Schäferhund ließ wieder etwas von ihrem alten Sarkasmus aufblitzen. Da würden sie sich die Mäuler zerreißen, die braven Bürger von New Jechida. Für sie war Merit immer die Deutsche geblieben. Egal wie nahe sie damals dran gewesen war, sich einen echten Platz im Leben zu erobern …
Was würde sie anders machen, wenn endlich der erlösende Rückruf käme? Auf keinen Fall in Israel bleiben. Dahin zurückgehen, wo das Leben einfach und planbar war. Mit Kranken- und Sozialversicherung und einer kleinen Rente, von der man wenigstens mit Ach und Krach leben konnte. Ihre beiden Ältesten Jorim und Hanna hatten einen zweiten Pass. Sie konnten jederzeit Deutsche werden. Also genau das, was ihre Mutter einmal gewesen war und wovon sie sich so lange zu befreien versucht hatte. War das nicht echte Ironie des Schicksals?
Sie trank einen Schluck Kaffee und wartete. Sie machte Jacobs Bett und räumte das Wohnzimmer auf. Das Telefon klingelte nicht. Sie spülte das Geschirr, ging in den Garten, überprüfte die Bohnen, die Avocados und die Kürbisse. Sie kam zurück – er hatte sich nicht gemeldet. Von Stunde zu Stunde stieg ihre Wut.
Am Mittag hatte er seine Chance verspielt. Das Ultimatum, das sie ihm gestellt hatte, war längst abgelaufen. Dabei hatte er versprochen, sich gleich am nächsten Tag zu melden und das Geld zu besorgen. Wie freundlich er gewesen war. Wie sanft seine Stimme. Dabei hatte sie ihn ganz anders in Erinnerung gehabt und sich vor diesem Anruf gefürchtet. Mit einem Tee, um die Nerven zu beruhigen, setzte sie sich auf die Stufen vor dem Haus.
Hunderttausend Euro. In bar. Dann wird Daniel auf ewig in Griechenland verschollen bleiben. Und glaub ja nicht, du könntest mich verarschen. Ich habe vorgesorgt für den Fall, dass mir was passiert …
Waren das Stare? Merit sah hoch zu dem aufgeschreckten Vogelschwarm, der sich laut zeternd über dem Dach der Gemeinschaftshalle neu versammelte. Hunderttausend Euro. Was man damit alles anfangen konnte. Als Erstes hier wegziehen. Vielleicht nach Tel Aviv. Deutschland war keine Option, allein der Gedanke, wie ihre Familie sie aufnehmen würde, jagte ihr einen Schauer des Abscheus den Rücken hinunter. In Tel Aviv könnte sie versuchen, eine Arbeit zu finden. Mit den Rücklagen würde sie ziemlich lange durchhalten. Vielleicht eine kleine Wohnung, sie musste ja nicht im Zentrum sein. Irgendwo, zum Beispiel in Ramat Gan oder Jaffa. Jacob würde eine anständige Schule besuchen, und sie könnte sich was zum Anziehen kaufen, mal ausgehen, vielleicht einen Mann kennenlernen, der ihr die Sorgenfalten wegküssen würde.
Ach, lieber doch keinen Mann. Männer stellten bloß Fragen. Vor allem wenn die Frau Geld hatte. Nicht nach dem Woher, sondern eher: »Kannst du mir vielleicht was geben?« Sie hatte die Schnauze voll vom Teilen.
Merit legte die Hand über die Augen, weil die Sonne blendete. War da jemand? Im Gebüsch hinter dem Gemeinschaftshaus? Für einen Moment hatte sie geglaubt, dort eine Gestalt zu sehen, die gebückt durchs mannshohe Unkraut schlich. Sie hatte sich getäuscht. Wer sollte schon zu ihr kommen? Der letzte Besucher war Joe gewesen, Joachim Vernau. Und wonach hatte er sich als Erstes erkundigt, nachdem er krampfhaft versucht hatte, seinen Schock über ihr ärmliches Zuhause zu verbergen? Nach Rebecca. Natürlich!
Sie stand auf, ging ins Haus, stellte den Becher neben dem Telefon ab und versuchte es erneut. Wieder nichts.
Langsam wurde sie wütend. Was bildete der Kerl sich eigentlich ein? So lange hatte er in Frieden und Wohlstand leben können. Wenn sie nur ein einziges Mal richtig nachgedacht hätte, wäre sie schon viel früher darauf gekommen, dass es bei ihm etwas zu holen gab.
Ein Schatten verdunkelte die Haustür. Merit fuhr herum. Sie konnte nicht erkennen, wer da im Gegenlicht stand. Aber dass er nicht in freundlicher Absicht gekommen war, verriet die Art, wie er dort stehen blieb. Dunkel, bedrohlich. Sie wollte gerade eine scharfe Frage stellen, da bemerkte sie den Baseballschläger in seiner Hand.
Sie warf den Hörer auf die Gabel und rannte in die Küche. In fliegender Hast riss sie die Schublade auf, aber noch bevor sie nach einem Messer greifen konnte, wurde sie auch schon herumgerissen und gegen das Regal geschleudert. Es schwankte. Gläser stürzten auf sie herab. Merit wollte sich aufrichten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Schatten ausholte. Der Schlag traf sie mitten in der Bewegung, riss ihr fast das Ohr ab und zerschmetterte das Schlüsselbein. Mit einem Schrei ging sie in die Knie. Sie wusste: Er war gekommen, um sie zu töten.
Hektisch kroch sie unter den Tisch. Er umfasste ihr Bein und zog sie wieder heraus. Sie wehrte sich. Blut lief ihr von der Stirn in die Augen, die ganze linke Seite ihres Gesichts war ein einziger Schmerz.
»Hilfe!«, schrie sie. »Hilfe!«
Es war das deutsche Wort, ein anderes kam ihr nicht mehr in den Sinn. »Nein!«
Sie umklammerte das Tischbein, und – oh Wunder – er ließ los. Wimmernd blieb sie liegen, zusammengekauert, halb totgeschlagen, so verängstigt, dass sie kaum noch zu atmen wagte. Sie sah Turnschuhe, eine Jeans, mehr nicht. Mann oder Frau? Die Gestalt ging zwei Schritte zur Einbauwand und öffnete eine Schublade. Es klirrte. In affenartiger Geschwindigkeit kroch sie unter dem Tisch hervor und trat mit voller Wucht dagegen. Das Möbelstück krachte von hinten in ihren Angreifer, er stöhnte wütend auf und drehte sich zu ihr um. Er trug eine schwarze Sturmhaube. Die Augen … Die Augen! Sie raste in den Flur und durch die Tür ins Freie, dann quer durch den Garten über den Trampelpfad in Richtung der alten Baracken. Noch im Laufen erkannte sie ihren Fehler: Es war eine Sackgasse. Das Gelände war zu den Feldern hin mit einem Stacheldrahtzaun abgegrenzt. Sie lief geradezu in ihr Verderben.
Hinter einer fast völlig eingestürzten Hütte, von der nur noch eine löchrige Holzwand stand, versteckte sie sich. Das Adrenalin rauschte wie ein kochender Wasserfall durch ihren Körper. Vorsichtig tastete sie nach der Kopfverletzung. Heiß, geschwollen, taub. Als sie ihre Finger betrachtete, waren sie voller Blut. In unendlichem Jammer krümmte sie sich zusammen.
Selbst schuld, selbst schuld, trommelten ihre Gedanken. Du hast die Geister der Vergangenheit geweckt. Sie keuchte, und sie wusste, dass sie viel zu laut war. Aber ihr Körper spielte verrückt und ließ sich nicht mehr beherrschen.
Vorsichtig spähte sie durch einen Spalt zwischen zwei Brettern. Alles blieb ruhig, bis auf das Rascheln von vertrockneten Gräsern und Blättern. Sie verfluchte sich, dass sie das Handy nicht bei sich hatte, dass sie nicht gleich den Notruf gewählt hatte. Aber alles war so brutal und schnell gegangen – sie hätte noch nicht einmal ihren eigenen Namen sagen können.
Er ist hier, um mich zu töten. Oh Himmel! Er will mich töten!
Merit begann zu zittern. Die Hitze in ihrer linken Gesichtshälfte verwandelte sich erst in Glut und dann in Schmerz. Den Arm konnte sie gar nicht mehr heben. Wie sollte sie da fliehen? Wie Hilfe rufen? Jacob, dachte sie, wenn er aus der Schule kommt und dem Kerl in die Arme läuft … Vor Schmerz und Erschrecken hätte sie um ein Haar laut aufgeschrien. Sie wusste, dass sie nicht in Sicherheit war. Er würde sie finden. Vielleicht wenn sie es schaffte einen Bogen zu machen und sich zum alten Gemeindehaus durchzuschlagen … Nein, sagte die Vernunft. Ja!, schrie die Panik.
Sie lauschte. Nichts zu hören.
Merit holte tief Luft, sprang hinter der Wand hervor – und da stand er, den Baseballschläger erhoben.
»Nein«, wimmerte sie und taumelte zurück. »Nein!«
Sie wollte fliehen und drehte ihm den Rücken zu. Der nächste Schlag schien sie zu spalten. Sie wusste, dass es aus war, als sie die Erde auf sich zustürzen sah. Jacob, dachte sie noch, dann wurde es schwarz.