18

Mike Plog lag in einem Einzelzimmer. Der Fernseher lief, gerade zeigten sie noch einmal, wie die Feuerwehr sein Autowrack auf den Abschleppwagen hievte. Keine neuen Hinweise, dafür ein Phantombild, das mit Rachel allenfalls die Haarfarbe gemein hatte. Seine Frau hatte mit Liz Taylor nicht viel anfangen können. Aber wenigstens stimmte der Rest ihrer Aussage mit seiner überein.

Das war ganz schön knapp.

Der Schock war vorbei, aber in seinen Adern kochte beim Anblick der Bilder immer noch das Adrenalin. Ein dicker Verband schützte seinen Hals. Schweres HWS-Trauma, das hatten die Ärzte nach seinem Beschwerdebild diagnostiziert. Sandra saß in einem Stuhl neben seinem Bett und hielt die Fernbedienung. Ein ungewohntes Bild.

»Ein Wunder, dass du das überlebt hast … Die Kinder wissen von nichts. Was soll ich ihnen denn bloß sagen? In der Schule und im Kindergarten wird es wieder losgehen mit den dummen Sprüchen.«

Plog versuchte zu nicken, aber das ging nicht mit der Halskrause. Also brummte er zustimmend. Er war es gewohnt, angegriffen zu werden. Doch dass die Leute vor den Kindern nicht haltmachten … Als bekannt geworden war, wer der Vater von Susa, Berndt und Leni war, hatte für die drei ein wahrer Spießrutenlauf begonnen. Spielkameraden und Mitschüler quälten sie mit dem Blödsinn, den sie zu Hause aufschnappten.

»Es wird nicht mehr lange dauern. Sobald wir Personenschutz bekommen, kann ich die Kinder in Privateinrichtungen unterbringen.«

»Ich weiß nicht, ob das …«

»Still.«

Sein Parteichef erschien auf dem Bildschirm. Gerhard Jontzer, Anfang vierzig, ein gelackter Streber in Anzug und Krawatte, der beim letzten Parteitag die alte Spitze weggefegt hatte. Mit Jontzer war ein ganz neuer Zug in die Sache gekommen, ein Rechtsruck, der die letzten Liberalen vertrieben hatte. Plogs politisches Überleben hatte in diesen Wochen davon abgehangen, wie schnell er sein Fähnlein von der einen in die andere Windrichtung hängen konnte. Es war ihm geglückt. Wenn die Umfragen stimmten, würden sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum ersten Mal ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen. Zwei Senatorenposten waren ihnen sicher. Einer für Jontzer. Der zweite für Plog.

»… war diese Tat ein nicht zu duldender Angriff auf die Meinungsfreiheit. Wir werden es nicht hinnehmen, dass Mörder und Terroristen unser Recht auf Versammlungsfreiheit und Demonstrationen beschneiden. In Chemnitz werden wir zeigen, was wir von diesen …«

Ging es etwa gar nicht um ihn, Plog? Moment mal! Er hatte gerade ein Attentat überlebt, und Jontzer schwafelte von Meinungsfreiheit und machte Stimmung für das BfD und den nächsten Aufmarsch.

»Mach das aus«, raunzte er Sandra an.

Verwundert drückte sie den Knopf. Normalerweise waren ihm Jontzers seltene Fernsehauftritte so wichtig wie die Osteransprache des Papstes.

Mit einem Stöhnen sank er auf das Kissen zurück. »Und? Irgendetwas Neues?«

Hoffentlich hatten sie dieses Biest bald gefasst. Diese Verrückte, die gestern Nachmittag bei ihnen zu Hause aufgetaucht war und unzusammenhängendes Zeug gestammelt hatte. Ein Brief. Rebecca. Israel. Er sollte etwas mit ihrer Mutter gehabt haben. Erst ganz langsam war ihm gedämmert, worauf das alles eigentlich hinauslief. Glücklicherweise hatte Scholl ihn vorgewarnt. Die einzige sinnvolle Tat, die dieser Idiot in seinem ganzen Leben vollbracht hatte. Viel genutzt hatte es diesem Feigling nicht. Es war doch alles ewig lange her. Wie konnte sich Scholl von diesem Mädchen so unter Druck setzen lassen? Jetzt war er tot. Und er, Mike, lag im Krankenhaus und hatte mit viel Glück überlebt. Wumm! Der Moment des Aufpralls poppte vor seinen Augen auf, und ihm wurde schwindelig.

Er gibt Gas. Sieht auf die Uhr. Die Tachonadel steigt auf fünfzig, auf fünfundfünfzig, sechzig. Das rot-weiß gestreifte Hinweisschild taucht in der Ferne auf. Achtung, gefährliche Kurve.

Er tritt auf die Bremse.

Nichts.

Er tritt erneut auf die Bremse – kein Widerstand. Der Wagen schießt die Straße hinunter. Sein Herz pocht, irgendetwas schnürt ihm die Kehle zu.

Verdammte Scheiße. Du bist zu schnell … Zu schnell …

Damit hat er nicht gerechnet. Das Schild rast auf ihn zu. Die Scheinwerfer erfassen die Bäume dahinter. Noch mal volle Kraft auf das Bremspedal – keine Reaktion.

Seine Finger umklammern das Lenkrad. In letzter Sekunde versucht er, den Wagen herumzureißen. Das Heck bricht aus. Im Scheinwerferkegel stürzen das Schild und Äste auf ihn zu, er presst Augen und Mund zusammen, stemmt sich verzweifelt gegen das Lenkrad, hört ein ohrenbetäubendes Knirschen, dann einen Schlag und dann … Nichts mehr.

»Mike?«

Der Schock. Kaum zu glauben, was schlappe sechzig Stundenkilometer im Körper anrichten konnten. Mike spürte Sandras Hand auf seiner Stirn und blinzelte.

»Du Armer. Was du alles durchmachen musst …«

»Hat sich die Polizei schon gemeldet? Haben sie diese Frau gefasst?«

Mit einem Seufzen legte sie die Fernbedienung auf seinem Nachttisch ab. »Nein. Aber sie fahnden nach ihr. Möchtest du mir jetzt vielleicht sagen, um was es ging? Schließlich habe ich für dich eine Falschaussage gemacht.«

»Nein, hast du nicht. Sie war da. Aber ohne dich kann ich es nicht beweisen. Die glauben mir doch kein Wort.«

»Weißt du, wie blöd das ist, jemanden zu beschreiben, den man nie gesehen hat? Liz Taylor! Ein Glück, dass sie bei der Polizei noch nicht mal ein Phantombild hinkriegen, sonst hätten sie mich am Ende noch verhaftet.«

»Keiner verhaftet dich, Schatz.«

Sandra war einfach nicht belastbar. Mittlerweile kam ihm seine Idee gar nicht mehr so genial vor. Er hätte sie nicht in die Sache hineinziehen dürfen. Sie war ungeeignet, flexibel zu reagieren.

»Wenn ich mich bedroht fühle, kräht kein Hahn danach. Wenn aber eine Unbekannte in mein Heiligtum, meine Familie, einbricht, ist das etwas anderes.«

Mike konnte ihren Blick nicht deuten. Es war, als ob sie gerade innerlich zwei Schritte von ihm abrückte. Er fasste ihre Hand und wollte sie näher an sich heranziehen, doch sie machte sich los.

»Ich will nicht, dass du unsere Familie benutzt.«

»Ich?«, fragte er verblüfft.

»Wir sind nicht dein Schutzschild. Egal vor was. Sag mir endlich, was diese Frau von dir wollte!«

»Sie ist Jüdin. Sie hat etwas gegen mich. Reicht das?«

Sandra nickte, als ob er mit diesem Satz ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt hätte.

»Ich habe immer gesagt, dass ihr zu weit geht. Das Existenzrecht Israels ist ein heikles Thema. Die Leute wollen Arbeitsplätze, weniger Ausländer und Flüchtlinge und ein Recht darauf, dass Ehe und Familie geschützte Güter sind. Da kommt ihr mit euren außenpolitischen Themen und stecht in ein Wespennest.«

Das war Jontzers Idee gewesen. Tatsächlich hatte die Aufnahme dieses Punktes ins Parteiprogramm für beträchtlichen Wirbel gesorgt. Seither waren sie in der Lügenpresse so präsent wie nie zuvor.

Manchmal war es Plog beinahe unheimlich, wie explosionsartig sich ihr Erfolg und die damit einhergehende, wütende Ablehnung vermehrt hatten. Und wie leidenschaftlich Sandra zu Hause die Themen diskutierte. Hoffentlich dachte sie nicht darüber nach, ebenfalls in die Politik zu gehen. Am Küchentisch zu debattieren war etwas ganz anderes, als draußen im Land das Gesicht dafür hinzuhalten. Wenn er die Bilder von den Aufmärschen und Demonstrationen sah, von den Brandanschlägen und Übergriffen auf Flüchtlingseinrichtungen, wenn er sah, wie Hass und Verachtung gesellschaftsfähig wurden und Jontzer alles tat, um die aufgeheizte Stimmung im Land für sich zu nutzen, beschlich ihn eine ungute Ahnung. In manchen Nächten träumte er davon, Goethes Zauberlehrling zu sein. Sie hatten Wasser auf die Mühlen eines Mobs gegossen, und nun drehte sich das Rad und ließ sich nicht mehr stoppen. Dabei wollten sie doch nur das, was die neue Apo, die »besorgten Bürger« auch wollten: ein Deutschland in Frieden und Wohlstand, ohne Sozialschmarotzer und Wirtschaftsflüchtlinge.

»Jetzt siehst du, was du davon hast. Du öffnest den Terroristen sogar noch Tür und Tor.«

»Sandra …«

»Hoffentlich erwischen sie die Schlampe. Von mir aus gerne irgendwo in Syrien.«

Manchmal hatte Plog das Gefühl, dass Frauen wesentlich radikaler dachten als Männer. »Das BKA ist doch schon dran.«

»Die sitzt doch längst wieder in Israel und plant das nächste Attentat.«

Hoffentlich, dachte Plog. Hoffentlich verschwindet sie, am besten auf Nimmerwiedersehen.

»Hol mir mal einen Schluck Tee.«

»Oh. Ja, natürlich.« Sandra stand auf und ging zur Tür. »Brauchst du noch irgendetwas? Eine Zeitung? Rasierklingen?«

»Nur Tee.«

Plog wartete, bis sie gegangen war, dann setzte er sich mühsam auf. Sein Körper schmerzte, als ob er sich bei dem Aufprall sämtliche Knochen gebrochen hätte. In der Nachttischschublade lag sein Handy. Es funktionierte, und der Akku war noch nicht leer.

Er rief Frau Werther-Schubarski an, seine Sekretärin, die es gewohnt war, für ihn zu jeder Tageszeit ans Telefon zu gehen. Nach ihren überschwänglichen Genesungswünschen gab sie ihm endlich die eingegangenen Telefonanrufe durch. Alles Parteikollegen. Alles Stiefellecker. Die Liste würde morgen so lang sein wie das Mitgliederverzeichnis der Partei. Es war niemand dabei, den er nicht kannte. Bis auf den letzten Namen.

»Hoffmann«, wiederholte Frau Werther-Schubarski auf seine Bitte hin. »Marie-Luise Hoffmann. Eine Anwältin. Sie sagt, es gehe um eine Privatsache. Möchten Sie die Nummer haben?«

»Nein, danke. Das hat Zeit.«

Er verabschiedete sich, nachdem sie ihm wortreich das Mitempfinden der gesamten Landespartei versichert hatte, und warf das Handy zurück in die Schublade.

Eine Privatsache. Noch dazu eine Anwältin. Plog hegte bei seinem Lebenswandel keinerlei Befürchtungen. Vielleicht hatte Berndt endlich mal im Kindergarten zurückgehauen, wenn die anderen Blagen ihn vermöbeln wollten. Oder Susa war in der Schule der Kragen geplatzt, und sie hatte ihrer Lehrerin klargemacht, dass sie als Tochter eines BfD-Politikers nicht ständig mit süffisanten Fragen à la »… wie bei euch zu Hause die deutschen Kolonien in Westafrika bewertet werden« belästigt werden wollte. Es gab nichts, das er sich vorzuwerfen hatte.

Bis auf diese eine Sache damals. Herrgott, er war nicht so wie Scholl! Auch nicht wie Vernau – zwei, die nichts zu verlieren hatten, weil es in ihrem Leben nichts zu verlieren gab. Hoffentlich fassten sie diese Rachel bald.

Die Tür ging auf, Sandra kam zurück. Sie balancierte ein Tablett, voll beladen mit Keksen und Schokoriegeln. Alles, nur keinen Tee.

»Die Cafeteria hatte schon zu. Ich werde mich gleich morgen beschweren. Wir zahlen doch nicht für eine teure Zusatzversicherung, damit du im Ernstfall verdurstest.« Sie stellte das Tablett auf dem Tisch vorm Fenster ab und zog die Gardinen zu. Dabei plapperte sie munter weiter.

»Ich habe gleich den Schwestern Bescheid gesagt. Alles Filipinos, ich hoffe, die können deutsch und haben mich verstanden …«

Er schloss die Augen.