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Die Pestalozzistraße im Herzen von Charlottenburg liegt in einer Wohngegend gehobener Bürgerlichkeit. Nach der Wende hatte sich durch den Zuzug vieler Russen der Name »Charlottengrad« eingebürgert, und da die meisten der Neuankömmlinge aus der ehemaligen Sowjetunion jüdischen Glaubens waren, konnten sich auch die Synagogengemeinden an dem so nicht erwarteten Zulauf erfreuen.
Die Freude währte nicht lange. Die kleinen Gemeinden waren mit der Aufnahme der vielen Kontingentflüchtlinge schlicht überfordert. Es knirschte und ächzte im Gebälk. Vor allem als die Neulinge den Altvorderen innerhalb kürzester Zeit zahlenmäßig weit überlegen und noch dazu überaus lernbegierig waren, was das Ausfechten von Grabenkämpfen anbetraf.
Rudolph Scholl hatte mit seiner Voran!-Liste bei den Wahlen der Repräsentantenversammlung gegen alteingesessene Frontkämpfer und neokonservative Neulinge die Quadratur des Kreises versucht: eine gemeinsame Mitte zu finden. Damit war er gescheitert und galt fortan als verbrannt. Wobei dieses »fortan« kaum länger als die vierjährige Legislaturperiode dauern würde, die regelmäßig ganz andere Totgesagte quicklebendig in den Wahlkampf zurückkehren ließ.
Scholl war in der Stadt also recht bekannt. Sein Antiquariat lag in Sichtweite der Synagoge in einer ruhigen Seitenstraße. Zu ruhig vielleicht für ein Geschäft. Die heruntergelassenen Läden in den anderen Erdgeschossen zeugten davon, dass Bäcker, Metzger, Thaimassagen und Modelleisenbahnhandlungen hier keine Chance gehabt hatten. Aber wer Scholl aufsuchte, kam aus anderen Gründen als denen des täglichen Bedarfs.
Man sah dem Schaufenster eine leicht vergeistigte Vernachlässigung an, als ob seit mehreren Dekaden nur Bruchteile der Auslage erneuert worden waren. Eine verstaubte Werkausgabe von Martin Buber, die Chagall-Bibel, kommentiert von Franz Rosenzweig, einige Grafiken im wüsten Strich der sechziger Jahre, in denen ich die Klagemauer und eine Ölberg-Ansicht von Jerusalem zu erkennen glaubte. Dazwischen Tand und Tinnef – gläserne Briefbeschwerer, Leselupen, Nickelbrillen, eine Menora aus blindem Messing und mehrere selbstgeflochten aussehende Binsenkörbchen mit kippot, die getragen aussahen. Aber dann sah ich genauer hin.
Henry Miller, Tropic of Cancer. Erste legale Ausgabe in den USA von 1961. Somerset Maugham, A Writer’s Notebook von 1959. Mascha Kaléko, Verse für Zeitgenossen von 1958. Eine Originalzeichnung von Urban Gad aus dem Jahr 1912 – die Grande Dame, die da mit Federhut und Stola stolz voranschritt, war seine Ehefrau Asta Nielsen.
Die Holztür öffnete sich, begleitet vom melodischen Klingen eines Windspiels. Der Raum war groß und hoch und halbdunkel, Bücherregale reichten bis an die stuckverzierte Decke. Es roch nach Papier, Druckerschwärze, Staub und Kaffee. Auf den ersten Blick war klar: Hier wurde mehr ge- als verkauft. Waghalsig arrangierte Bücherstapel bedeckten noch die letzten Zentimeter der schweren Eichentische. Auf dem Boden lagen Perserteppiche, deren Glanzzeit einige Jahrzehnte zurückliegen musste. In einer Ecke lehnten mehrere Gemälde – zu wenig Licht, um mehr zu erkennen. Die gegenüberliegenden Gründerzeithäuser verschatteten das Erdgeschoss. Eine fünfarmige Messinglampe verbreitete den gemütlichen Schein von alten Glühbirnen.
»Moment bitte.« Die Stimme eines jungen Mädchens. »Ich komme gleich.«
Bildbände von Dalí, Goya, über die Renaissance und das Judentum im Mittelalter. Die Bibliotheken einer Generation, die sich langsam von dieser Welt verabschiedete: Hemingway. Turgenjew. Kafka. Wilder. Saroyan. Buck. Roth. Celan. Zuckmayer. Greene. Beauvoir. Wieland. Storm. Guareschi. Dante. Gorki. Tucholsky. Forrester. Rosegger. Verne. Viele Ausgaben aus den fünfziger und sechziger Jahren, manche älter, mit handschriftlichen Widmungen. Eine berührte mich tief: »Unserer lieben Ruth zur Bat-Mizwa 1929.« Der einst glühend rote Einband mit dem Schattenriss eines Tigers war ebenso verblasst wie die Tinte. Kipling, Das Dschungelbuch.
»Zehn Euro«, sagte die junge Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um. Das Mädchen war Anfang zwanzig, hatte dunkelbraune Augen, trug die langen Haare zu einem tief gebundenen Pferdeschwanz und lächelte in sympathische Grübchen. Sie war kleiner als ich und wesentlich kompakter.
»Ein echtes Schnäppchen. Fehsenfeld neunzehnhundertneunundzwanzig, so gut erhalten findet man das kaum noch.«
»Ich wollte eigentlich zu Herrn Scholl.«
»Der ist nicht da. Freitagnachmittag, tut mir leid.« Sie musste mein fragendes Gesicht bemerkt haben, denn ihr Lächeln bekam etwas Erklärendes. »Schabbat. Herr Scholl geht immer zum Gottesdienst.«
»Und morgen?«
»Da haben wir geschlossen«, antwortete sie und nahm das Dschungelbuch in die Hand. Sie blätterte es durch, blieb an der Widmung hängen, genau wie ich vor wenigen Augenblicken. »Wer sie wohl gewesen sein mag? Und was aus ihr geworden ist?« Ihre fröhliche Stimme war um eine kaum registrierbare Nuance ins Moll gesunken.
»Ich nehme es.«
Überrascht sah sie hoch. »Aber doch nicht deshalb, oder?«
»Nein«, sagte ich. »Natürlich nicht.«
Behände, fast schon elegant, zwängte sie sich an den Bücherstapeln vorbei in den Hintergrund des Raumes, wo ein völlig überladener Schreibtisch stand. Während sie mit einer verklemmten Schublade kämpfte und schließlich einen Quittungsblock hervorzauberte, machte sich ein Konvolut Zithernotenblätter selbständig und segelte zu Boden.
»Dann grüßen Sie Herrn Scholl bitte von mir. Ich muss ihn dringend sprechen.« Ich sammelte die Noten auf. Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir den frühen Tod … Wien, Wien, nur du allein … »Mein Name ist Vernau. Wir haben uns gestern getroffen, Herr Scholl, ich und eine Mandantin, hier auf der Straße. Nur ein paar Meter weiter. Ich hätte noch einige Fragen dazu an ihn. Wer den Krankenwagen gerufen hat und was mit Rachel passiert ist.«
Ich hielt inne. Keine Antwort. Langsam stand ich auf. Die junge Frau starrte mich an. Sie sagte nichts. In der Hand hielt sie den Quittungsblock, als hätte sie ihn längst vergessen.
»Rachel«, wiederholte ich. »Rebeccas Tochter.«
Sie setzte sich. »Rachel?«
Ich legte die Noten auf den Stapel zurück und verschob seine Statik so weit nach hinten, dass er von einer Lessing-Gesamtausgabe gestützt wurde. »Ja.«
»Ich kenne keine Rachel.«
»Sie vielleicht nicht.« Ich rieb mir den Staub von den Händen. »Aber Herr Scholl. Ich muss dringend mit ihr Kontakt aufnehmen.«
Die junge Frau fand einen Kugelschreiber und probierte auf einem Buch mit dem spannenden Titel Familienleben in Deutschland aus, ob er schrieb. »Zehn Euro«, sagte sie.
Ich zog einen Geldschein aus meiner Hosentasche und reichte ihn ihr. Als sie die Quittung ausstellen wollte, winkte ich ab.
»In der Synagoge, sagten Sie? Dann warte ich um die Ecke auf ihn.«
Ihr Lächeln war verschwunden. »Kommen Sie am Montag wieder.«
»Da ist es zu spät.«
Der Schein verschwand in der Schublade, in einem Durcheinander von alten Briefen in Plastikhüllen, Bindfäden, Büroklammern, Radiergummis, zerfledderten Notizblöcken und Bleistiften. Nur kein Geld. Offenbar war ich der einzige Kunde an diesem Tag.
»Sind Sie wirklich der Mann, der bei dieser Schlägerei dabei war?«
»Ja.«
»Auf welcher Seite?«
»Wie meinen Sie das?«
Mühsam schob sie die Schublade zu. »Mein Vater redet mit mir nicht darüber. Wir sind vorsichtig. In diesen Zeiten muss man bei allem und jedem vorsichtig sein.«
»Ich habe Ihren Vater nicht angegriffen. Ich wurde zusammengeschlagen. In meinem eigenen Interesse bin ich sehr an einer Aufklärung der Ereignisse interessiert.«
Die junge Frau dachte nach. Schließlich reichte sie mir die Hand und betrachtete meine Blessuren mit einer Aufmerksamkeit, die sie sich vorher nicht getraut hatte. »Ich bin Nechama. Nechama Scholl. Das zweite seiner vier Kinder.«
»Gehen Sie nicht zum Gottesdienst?«
»Jemand muss im Laden sein, auch am Schabatt. Wer das kritisiert, sollte unter der Woche vielleicht öfter bei uns einkaufen, damit wir uns gottgefällige Ladenöffnungszeiten leisten können.«
»Ich wollte Sie nicht kritisieren.«
Sie zuckte nur mit den Schultern. »Schon gut. Ehrlich gesagt, ich bin keine Synagogengängerin. Ich gehe lieber zum davening. Möchten Sie hier warten?«
»Geht das denn?«, fragte ich überrascht.
»Klar. Ich wollte mir gerade einen Kaffee machen. Für Sie auch einen?«
Wenig später saß ich in einem tiefen Lehnsessel, den Nechama für mich von diversen Bücherstapeln und den Resten zerbrochener Bilderrahmen befreit hatte, und vertiefte mich in Gregor Krauses Schwarzweißfotografien: Insel Bali, Land und Volk, Feste, Tänze u. Tempel, wohlfeile Ausgabe von 1920.
»Mit diesen Fotos hat Krause Vicky Baum inspiriert, außerdem Henry Cartier-Bresson und Friedrich Wilhelm Murnau«, erklärte sie mir, die Kaffeetasse in der Hand, als gehöre diese Information zum Standardrepertoire von Erstklässlern.
»Was kostet so was?«, fragte ich und nahm ihr, so vorsichtig, wie es ging, die Tasse ab.
»Fünfundsechzig Euro. Allerdings nur, weil der Umschlag einen Riss hat. Brauchen Sie mehr Licht?«
Noch bevor ich antworten konnte, schaltete sie eine kleine Schreibtischlampe auf dem Tisch neben mir an. Die Dämmerung hatte sich herabgesenkt, und der Schein beleuchtete auch das vordere der Bilder, das ich bis jetzt kaum bemerkt hatte.
»Und das hier?«, fragte ich, deutete auf das Gemälde und hielt dabei die Lampe fest, die auf Thomas Manns Jakob und seine Brüder für einen Moment ins Wackeln gekommen war. Ein impressionistischer, gewagter Strich, Natur, Bäume, drei Damen, die an einem Holzgeländer stehen und auf etwas Interessantes blicken, das der Maler dem Betrachter vorenthält.
Nechama ging in die Knie und holte das Bild etwas näher ans Licht. »Die drei Grazien von Julo Levin. Ich glaube, das verkauft mein Vater nicht. Mitglied der Rheinischen Sezession und des Jungen Rheinland, hat sich später dem magischen Realismus gewidmet. Neunzehnhundertdreiundreißig bekam er Arbeits- und Ausstellungsverbot. Einundvierzig wurde er von der SS abgeholt. Er musste die Deportationszüge reinigen. Dreiundvierzig kam er nach Auschwitz.« Sie stellte das Bild sanft an der Wand ab. »Das Antiquariat hat mein Großvater einundfünfzig wiedergegründet. Nach seiner Rückkehr. Es ist das einzige jüdische Antiquariat in Berlin. Vor dem Krieg gab es Dutzende. Und bevor Sie jetzt anmerken, dass wir auch eine ganze Menge nichtjüdische Werke haben – es wurde und wird so geführt, wie es neunzehnhunderteinundzwanzig begonnen hat: als eine Schatzkammer des Wissens jedweder Provenienz.«
Ich wünschte mir, dass die Welt mehr solche Menschen und Orte hätte. Antiquariate sollte man unter Denkmalschutz stellen. Was ist schon ein E-Book, auf einem Reader gelesen, gegen ein Buch, das außer seiner eigenen noch so viele andere Geschichten erzählt? Welche Bibliotheken wird einst meine Generation hinterlassen? Wird es überhaupt noch welche bei denjenigen geben, die das geschriebene Wort nur noch zum Austausch von Whats-App-Nachrichten gebrauchen? Was wird bleiben von uns? Welche Werke werden dieses Jahrhundert prägen? Welches Zeugnis ablegen von unserer Suche nach dem, was mehr sein muss als Brot allein? Ist Herrndorf unser Grass? Jaron Lanier unser Heidegger?
»Und Sie werden es in diesem Sinne weiterführen?«
Scholls Tochter lächelte. Zwei Grübchen erschienen in ihren runden Wangen, apfelrot. »Ich denke, ja. Wir müssten dringend einiges ändern, aber mein Vater wehrt sich dagegen. Jedes Jahr gibt er wieder einen gedruckten Katalog heraus. Alle anderen Händler sind längst im Internet. Mal sehen.«
Sie ging zurück an den Schreibtisch, wo sie sich für eine ganze Weile mit einer Lupe und mehreren Büchern beschäftigte. Als sie mich wieder ansprach, war über eine Stunde vergangen.
»Ich schließe jetzt. Mein Vater dürfte inzwischen oben sein und das Schabatt-Essen vorbereiten. Er wohnt im dritten Stock.«
Lange nicht mehr hatte ich in einem bequemen Sessel die Zeit bei einem Buch vergessen. Eine leise und warme Atmosphäre lag in der Luft, in der man durchaus Fragen hätte stellen können. Wo Nechamas Mutter war, wie sie das Antiquariat weiterführen würde, ob Scholl auch privat an alten Werten festhielt und ob das nicht durchaus dem Wetterleuchten der modernen Zeit vorzuziehen wäre. Warum er nicht, wie er es vorgehabt hatte, Rabbiner geworden war und ob dieser Ort stattdessen die Abkehr von diesem Irrenhaus da draußen war, das man Welt nannte. Nicht zuletzt wie es wäre, wenn ich dem ganzen Irrsinn vor der Tür ebenfalls Adieu sagen würde.
Manchmal sah ich mich als jemand, der mit Hut und Spazierstock durch die Straßen flanierte und das Gespräch vor einem Hauseingang oder in einem Caféhaus den E-Mails und Likes im Internet vorzog. Ein analoges Leben, mit echten Begegnungen und echten Gesprächen. Es war nicht so lange her, dass man sich nicht mehr daran erinnern konnte. Zwanzig Jahre. Kaum ein Wimpernschlag der Ewigkeit. Scholl hatte es geschafft. Noch nicht einmal seine Kasse war elektronisch.
»Darf ich wiederkommen?«
Mein Gegenüber grinste. Offenbar hatte ich mich trotz meiner Zehn-Euro-Ausgabe als guter Antiquariatskunde qualifiziert.
»Klar. Dann zeige ich Ihnen auch die Schätzchen.«
»Welche Schätzchen denn?«, fragte ich und klappte vorsichtig den schweren Bildband zu, den ich fast bis zur letzten Seite durchgeblättert hatte.
Sie zog die verklemmte Schublade auf, fluchte dabei auf Hebräisch und holte eine Plastikhülle mit einem Brief hervor, den sie mir reichte. »Hier. Joseph Roths Liebesbrief an Irmgard Keun.«
Überrascht betrachtete ich das zarte, mit schwungvollen Lettern überzogene Dokument. »Die hatten was miteinander?«, fragte ich, als ob es sich um gemeinsame alte Bekannte handeln würde, die man nur aus den Augen verloren hatte. Je länger ich in diesem Laden war, umso näher kamen sie mir alle, die Roths und Manns, die Lessings und Kiplings.
»Mehr als das. In Paris haben angeblich die Wände gewackelt. Achttausendfünfhundert Euro.«
Ich gab ihr den Autograph zurück. »Haben Sie keinen Safe?«
»Bis jemand diese Schublade aufkriegt, wackeln die Wände hier auch. – Interesse?«
»Beim nächsten Mal.«
Sie verstaute den Brief wieder unter dem Sammelsurium.
»Trotzdem danke. Auch für den Kaffee.«
»Keine Ursache. – Ihr Buch!« Sie reichte mir den schmalen Band. »Der Aufgang gleich links.«
Ich verließ das Antiquariat mit dem Gefühl, dass dies nicht der letzte Nachmittag war, den ich hier verbringen würde.
Den Namen Scholl fand ich auf einem polierten Messingschild im Hauseingang keine fünf Meter weiter.