28

Mike Plog bekam die Krücken, auf die er bestanden hatte. Es hatte Mühe gekostet, sie durchzusetzen. Noch schwieriger war es, damit umzugehen. Als die Kripo am Vormittag eintraf, fand die Krankenschwester ihn schweißüberströmt auf dem Flur, wo er keuchend auf einem der Stühle an der Wand Platz genommen hatte.

»Kriminalhauptkommissar Vaasenburg«, stellte sich der eine vor. Er war groß, schlank, mit stoppelkurzen Haaren. Die breiten Schultern und der Griff, mit dem er Plog unterfasste und hochzog, verrieten, dass er viel Sport trieb.

»Mein Kollegin Roberta Herzinger.«

Die Frau war deutlich sanfter. Gemeinsam geleiteten sie Plog in sein Zimmer zurück.

»Schön haben Sie es hier.«

Herzinger trat ans Fenster und sah hinunter in den parkähnlichen Krankenhausgarten. In der Zwischenzeit kroch Plog stöhnend ins Bett.

»Einzelzimmer, Hotelkomfort. Sie sind privat versichert, nehme ich an.«

»Ja«, keuchte Plog und zog die dünne Decke über sich. »Ich schlafe ungern mit fremden Menschen in einem Raum.«

»Das kann ich verstehen.«

Sie kam zurück. Beide, Vaaasenburg und die Kommissarin, die ihn nicht mochte – solche Schwingungen spürte Plog –, zogen sich die Polsterstühle heran und nahmen vor seinem Bett Platz. Der Kommissar legte eine Visitenkarte auf den Nachttisch.

»Herr Plog«, begann er, »unsere Kriminaltechniker haben bestätigt, dass die Bremsen Ihres Wagens manipuliert wurden. Das war nicht der erste Übergriff auf Sie, den Sie zur Anzeige gebracht haben.«

Er nickte. »Wir leben in einem Land, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung nur noch unter Personenschutz ausgeübt werden kann. So geht das nicht weiter.«

»Kommt auf die Meinung an«, gab Herzinger zum Besten.

Ihr Kollege oder Vorgesetzter sah sie nur kurz an, und sie hielt den Mund.

»Sind wir schon wieder so weit?« Plog konnte es nicht lassen. »Das klingt doch sehr nach Zensur. Wie sagte schon Voltaire? ›Ich verachte Ihre Meinung. Aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.‹«

Herzinger hob die Augenbrauen und murmelte »Voltaire«, jedoch nicht laut genug, um darauf einzugehen.

Mike Plog kannte diese Typen. Meinungsterroristen. Gedankendiktatoren. Alles, was ihnen nicht gefiel, war rechts und deshalb zum Abschuss freigegeben. Manchmal hatte er nicht übel Lust, ihnen unter die Nase zu reiben, wo dieses Land ohne Leute wie ihn enden würde.

Vaasenburg schlug ein Notizbuch auf. Goldig. Dass die Polizei noch mit Papier und Bleistift arbeitete. Wahrscheinlich teilte sich die ganze Wache einen einzigen flackernden Macintosh.

»Wir haben bereits mit Ihrer Frau gesprochen«, sagte der Kommissar. »Ihre Sicherheitsvorkehrungen sind vorbildlich. Allerdings wurde die Kamera für die Garage ausgerechnet am Freitagnachmittag ausgeschaltet.«

»Das war ich.«

Vaasenburg sah von seinem leeren Blatt hoch. Er hatte graue Augen, nicht besonders empathiefähig, dachte Plog.

»Warum?«

»Ich habe Damenbesuch erwartet. Ich wollte nicht, dass irgendjemand von der Security davon erfährt. Es hätte einen falschen Eindruck erweckt.«

»Welchen Eindruck erwecken Sie denn so normalerweise?«, fragte die Herzinger.

Mittlerweile war sich Plog sicher, dass diese Frau eine tiefe Abneigung gegen ihn hegte. Das freute ihn. Es machte ihn wach und spornte ihn zu Höchstleistungen an.

»Falls es Ihnen entgangen sein sollte, demnächst finden die Wahlen zum Abgeordnetenhaus statt.« Plog sprach freundlich, fast schon fürsorglich, als würde er die Unwissenheit dieser Frau zu seinem ganz persönlichen Anliegen machen. »Ein Foto, dem politischen Gegner in die Hände gespielt, und schon sehen alle ihre Vorurteile bestätigt.«

»Die da wären?«

»Wasser predigen, Wein trinken. Falls Sie verstehen, was ich meine. Ich trete für den Schutz von Ehe und Familie ein. Der Besuch einer jungen Frau an einem Freitagnachmittag in meinem Privathaus, noch dazu in Abwesenheit meiner Gattin, wäre Wasser auf die Mühlen derer, die mich liebend gerne bei einem Fehltritt erwischen würden.«

Herzinger warf ihrem Chef einen bewundernden Blick zu. »So um die Ecke zu denken, dafür braucht es Talent.«

»Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Das tun Sie doch auch. Beruflich, meine ich.« Sein Lächeln signalisierte Verständnis und Mitgefühl. Sein Verstand agierte berechnend.

Sie war kaltgestellt. Für den Rest des Gesprächs würde er sich nur noch um den Kommissar kümmern müssen. Der hatte etwas auf seinen Block gekritzelt, das Plog aus seinem Blickwinkel heraus nicht erkennen konnte.

»Erzählen Sie uns, wie es zu dem Treffen gekommen ist«, sagte er.

Plog griff nach der Fernbedienung und ließ das Kopfteil seines Bettes so weit hochfahren, bis er beinahe aufrecht saß.

»Sie hat am Donnerstag in meinem Büro angerufen und sich als Rachel Cohen vorgestellt, die Tochter einer jungen Frau, die ich vor langer Zeit in einem Kibbuz in Israel kennengelernt habe.«

»Sie waren in Israel?«

Herzingers Frage irritierte Plog. Warum unterbrach sie ihn dauernd?

»Ja, vor vielen Jahren. Zur Aufbauhilfe für dieses junge Land. Meine damalige Euphorie ist natürlich mittlerweile einer gewissen Ernüchterung gewichen. Wenn Sie sich das Pulverfass im Nahen Osten ansehen, dann sind die Siedlungspolitik und das Verhalten der Israelis gegenüber den Palästinensern unverantwortlich. Darf ich das sagen? Als Deutscher?«

»Bitte sehr«, sagte die Beamtin kühl. »Sie stehen ja gerade unter Polizeischutz. Nutzen Sie die Gunst der Stunde.«

»Roberta.« Vaasenburg kannte die Ausfälle seiner Kollegin offenbar.

Plog überlegte, ob er sich über sie beschweren sollte.

»Fahren Sie fort.«

»Die Tochter einer alten Bekannten also. Sie sei nur kurz in Berlin und wolle mich gerne sprechen. Ihre Mutter sei früh verstorben, vielleicht hätte ich ja noch einige Erinnerungen an sie.«

Er machte eine strategische Pause. Statt wie erhofft nachzufragen, warteten die beiden einfach ab. Auch gut.

»Wir haben uns für den frühen Freitagnachmittag verabredet. Ich konnte mir die Zeit freinehmen, weil gegen unsere Demonstration in Cottbus ein Eilantrag beim Oberverwaltungsgericht eingereicht worden war. Die Besucherin ist in unser Haus nach Reinickendorf gekommen. Meine Frau war nicht da, sie hat die Kinder von der Kita und vom Hort abgeholt.«

»Wie erstaunlich.« Wieder die Herzinger. »Treten Sie nicht vehement dafür ein, dass Kinder in den ersten Lebensjahren zur Mutter gehören?«

Jetzt fing sie an, ihm wirklich auf den Geist zu gehen.

»Nur weil unsere Familienpolitik vielleicht diametral zu Ihren eigenen Auffassungen steht …«

»Herr Plog. Frau Herzinger. Nichts gegen politische Diskussionen.« Vaasenburg mischte sich ein.

Das hätte er vielleicht mal früher tun sollen. Was hatten solche Frauen überhaupt im Staatsdienst zu suchen? Kein Wunder, dass das Land den Bach hinunterging.

»Vertagen wir sie auf später. Rachel Cohen ist also wann zu Ihnen gekommen?«

»Um halb vier. Es war ein sehr kurzes Gespräch. Wir fanden schnell heraus, dass ich ihr nicht helfen konnte. Sie suchte nach einem Schuldigen, dem sie die Verantwortung für den Tod ihrer Mutter in die Schuhe schieben konnte.«

Vaasenburg schrieb mit. Gut.

»Damals, vor fast dreißig Jahren, hat ihre Mutter sich wohl umgebracht. Kurz nach Rachels Geburt. Ich war schockiert, das zu hören, denn auch wenn ich sie damals nicht besonders gut kannte, war Rebecca Cohen mir als ein fröhlicher und aufgeschlossener Mensch in Erinnerung.«

»Aufgeschlossen?«, fragte die Herzinger mit einem Stirnrunzeln.

»Ja. Sie war uns Freiwilligen gegenüber sehr … Nun ja, sie mochte uns. Anders als die Kibbuzniks, die wenig Kontakt zu uns suchten. Rebecca war sehr aufgeschlossen.«

Die Herzinger wechselte einen kurzen Blick mit dem Kommissar.

»Können Sie das genauer definieren?«

»Nein«, sagte Plog. »Und selbst wenn ich es könnte. Rebecca Cohen ist tot. Das verbietet der Respekt.«

Dieser Frau lag schon wieder eine Antwort auf der Zunge, die sie aber in letzter Sekunde hinunterschluckte.

»Ihre Tochter Rachel war über meine Diskretion sehr aufgebracht. Ich konnte sie verstehen. Sie hatte erst vor kurzem die genaueren tragischen Umstände vom Tod ihrer Mutter erfahren und hoffte nun, von mir Aufschluss über die Gründe zu bekommen. Nur die kannte ich leider nicht. Es gab damals Gerüchte, Getuschel. Aber darum habe ich mich nicht gekümmert. Meine Zeit als Freiwilliger war ohnehin fast vorüber.«

»Um was ging es bei diesen Gerüchten?«, fragte Vaasenburg.

»Sie soll etwas mit einem Deutschen gehabt haben. Damals waren nur vier deutsche junge Männer in dem Kibbuz, daher lag es für meinen Besuch nahe, mich um Informationen zu bitten. Ich habe sie ihr nicht gegeben, denn für mich steht die Ehre einer Frau immer noch über der Neugier eines Kindes.«

Die Herzinger stieß einen verblüfften Laut aus. Wäre die Sache nicht so ernst, hätte sich Plog das Lächeln nicht verkniffen. Er wusste genau, auf welche Reizworte solche Leute ansprangen. Er beschloss, seine Ausführungen bei Gelegenheit noch mit einer Prise Vaterland und gesundem Volksempfinden zu würzen. Wahrscheinlich würde sie dann schreiend hinausrennen.

Der Kommissar schrieb wieder mit. »Was ist dann passiert?«

»Sie hat ein paar Drohungen ausgestoßen und ist gegangen.«

»Welche Art von Drohungen?«

»›Ich werde dich schon noch zum Reden bringen, sieh dich vor, du bist genauso schuld wie die anderen …‹«

»Genauso?« Die Herzinger war schnell, das musste man ihr lassen. »Schuld an was?«

Plog seufzte. Begriffen diese Leute denn nicht, dass man über gewisse Dinge am besten schwieg? Wem war damit geholfen, wenn die ganze üble Geschichte noch einmal ans Licht gezerrt wurde?

»Rebecca war schwanger.«

»Von einem von … Ihnen?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Von mir nicht. Leider.« Plog grinste, weil er wusste, dass das die Herzinger erst recht auf die Palme bringen würde. »Anfangs fühlte ich mich geschmeichelt, aber dann wurde die junge Frau ziemlich ausfallend. Wir … Sie hat im Plural gesprochen, nehmen Sie das zu Protokoll?« Er deutete auf den Notizblock. »Wir seien schuld an allem, hätten uns der Verantwortung nicht gestellt et cetera pp. Ihre Mutter habe sich wegen uns umgebracht. Das ist es, was diese junge Frau umtreibt. Sie will wissen, wer ihr leiblicher Vater ist. Da sie ihn nicht findet, nimmt sie einen nach dem anderen von uns aufs Korn. Früher hat man das Sippenhaft genannt, oder?«

»Nicht ganz«, erwiderte die Herzinger eisig.

»Wer hat eigentlich Zugang zu Ihrem Wagen?«, fragte der Kommissar.

»Ich, meine Frau, der Gärtner, der einmal die Woche kommt, und die Security-Firma.«

»Wann wurde der Unfallwagen zuletzt benutzt?«

»Am Nachmittag, von meiner Frau. Um die Kinder abzuholen. Da war noch alles in Ordnung.«

»Ihre Frau ist wann nach Hause gekommen?«

»Als ich Frau Cohen zur Tür gebracht und mich verabschiedet habe.«

»Ihre Gattin und Frau Cohen sind sich also begegnet?«

Plog schloss die Augen. »Ja«, antwortete er dann.

Das Verhör strengte ihn an. Vor allem wenn er daran dachte, wie schwer es ihm gefallen war, Sandra diesen entscheidenden Part einzubläuen. Dieses Gespräch hatten sie im Flüsterton geführt, in der Klinik zwischen Notaufnahme und Röntgen. Sandras Argument, sie wisse doch gar nicht, wie die Fremde aussehe, konnte er in letzter Sekunde entkräften. Kurz bevor sie ihn zur Untersuchung schoben, hatte er Liz Taylor erwähnt. Denk an die junge Liz Taylor … Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er sie tatsächlich noch mal vor sich gesehen: Rebecca. Die Israelin mit den dunklen Haaren und den Veilchenaugen. Die eine Tochter bekommen hatte, die ihr schockierend ähnlich war.

»Herr Plog?«

Er öffnete die Augen. Der Kommissar nickte ihm aufmunternd zu. Den hatte er schon mal auf seiner Seite. Auf diesen weiblichen Pitbull kam es nicht an.

»Ich habe sie noch kurz einander vorgestellt. Das hat meine Frau Ihnen doch schon gesagt, oder?«

Vaasenburg nickte flüchtig, ließ aber nicht im Mindesten erkennen, ob Sandra ihre Sache gut gemacht hatte.

»Wie ist Frau Cohen in die Garage gelangt?«

»Das Tor stand offen. Das ist häufig so.«

Um beide Ansprechpartner gleichermaßen zu berücksichtigen, wandte er sich an die Herzinger. Die Frau hatte den Blick seiner Feinde: Ich kriege dich. Ich vernichte dich. Ich stelle dich an den Pranger. Nein, dachte er. Du nicht. Du bist ein zu kleines Licht.

»Die Kinder lassen ihre Taschen oft im Auto, manchmal sind auch die Einkäufe noch im Kofferraum. Erst einmal wird in die Bude gestürmt, nach mir die Sintflut. Wir sind eine ganz normale Familie. Wenn Vati zu Hause ist, haben die anderen Zeit.«

Der Stift lag auf dem Papier. Keine Notizen. Nahmen sie ihn etwa nicht ernst?

Der Kommissar lehnte sich zurück und strich mit der freien Hand kurz über das ausziehbare Tablett des Nachttisches, bevor er den Block dort ablegte. »Wann haben Sie Ihren Sohn angerufen?«

Plog blieb buchstäblich die Luft weg. »Meinen … Sohn?«

Sein Gegenüber blätterte mit Links in seinen bisherigen Notizen, allerdings so, dass Plog von seinem Bett aus nichts erkennen konnte.

»Lukas Möller, Alter: einundzwanzig. Mutter: Angelika Möller. Gerichtliche Vaterschaftsfeststellung neunzehnhundertsiebenundneunzig, Unterhaltstitel ebenfalls gerichtlich eingeklagt, eine weitere Klage von Frau Möller zurückgezogen, da Sie sich damals offensichtlich außergerichtlich geeinigt haben. Lukas, der ewig verleugnete Sohn. Haben Sie ihm die Gelegenheitsjobs als Saalordner verschafft? Als eine Art Wiedergutmachung, weil Ihre zweite Familie ebenfalls nichts von Ihrem Sohn wissen wollte?«

Plog war klar, dass ab sofort jedes Wort aus seinem Mund gegen ihn verwendet werden würde. Er fühlte sich übertölpelt, an den Pranger gestellt.

»Ich bin Opfer eines Attentats«, sagte er langsam, damit es endlich auch der letzte Esel kapierte. »Statt die Täterin zu fassen, graben Sie diese uralte Geschichte aus? Ist das unser Rechtsstaat? Wenn ja, dann ist das Gespräch hiermit für mich beendet.«

»Haben Sie nach Rachel Cohens erster Kontaktaufnahme Lukas und seinen Kumpel Marvin gebeten, vor Scholls Laden zu warten und sie abzupassen?«

»Ich verlange einen Anwalt.«

»Was genau sollten die beiden tun? Dem Mädchen einen Denkzettel verpassen? Sie einschüchtern?«

Plog schwieg.

»Kann es sein, dass Sie Ihren Sohn, der Ihnen ja schon zuvor bei der einen oder anderen unangenehmen Sache zur Seite gestanden hat …«

Der Kommissar drehte sich zu seiner Kollegin um. Jetzt schlug deren große Stunde. Sie musste alles auswendig gelernt haben, denn sie ratterte die Sätze herunter, als sei sie eine Gerichtsstenotypistin, die eine Zusammenfassung repetierte.

»Lukas Möller, elf Festnahmen, drei Verurteilungen. Landfriedensbruch, Körperverletzung, Strafvereitelung, alles im Umfeld sogenannter Informationsveranstaltungen in der Gründungszeit Ihrer Partei, dem Bündnis für Deutschland. Seine Beteiligung beim Überfall auf Rudolph Scholl ist durch seine Zeugenaussage zweifelsfrei bewiesen.«

»Er hat Scholl beschützt!«, schrie Plog. »Und wenn Sie es partout wissen wollen: Ja! Ich habe ihn angerufen und gebeten, vor Scholls Laden Wache zu schieben, falls diese Verrückte dort auftaucht.«

»Nach Ihrem ersten Telefonat?«

Plog schlug mit der flachen Hand auf sein Bett. Es war eine matte Geste im Vergleich zu dem, was er in Wirklichkeit gerne getan hätte.

»Ich dachte, ich bin ein Bürger dieses Landes, der einen gewissen Schutz genießt, wenn es um Leib und Leben geht. Jemand hat meinen Wagen manipuliert. Ich sollte auf der Stadtautobahn ungebremst in einen Pfeiler rasen. Aber statt dass Sie sich darum kümmern, stellen Sie mich hier an den Pranger. Und das alles nur, weil ich einen Freund warnen und beschützen wollte.«

»Dieser Freund ist jetzt tot.«

»Sehen Sie? Sehen Sie es denn nicht?«

»Mir fehlen noch einige Zusammenhänge«, sagte der Kommissar. »Eine junge Frau behauptet, dass Sie gemeinsam mit drei Freunden schuld am Suizid Ihrer Mutter sind. Sie können ihr nicht helfen, warnen aber Ihren Kumpel Rudolph Scholl. Richtig?«

»Richtig.«

»Als Sie das Haus verlassen, fahren Sie gegen einen Baum, weil jemand die Bremsen Ihres Wagens manipuliert hat.«

Plog verstand nicht. Sollte er den Satz »Rachel Cohen ist schuld« als Mosaik legen, damit sie es endlich kapierten? »Ist das nicht offensichtlich?«

»Ist es wirklich einzig und allein um die ungeklärte Vaterschaft gegangen?«, fragte der Kommissar.

Plog starrte ihn an. »Um was denn sonst? Das liegt doch auf der Hand?«

»Nicht, wenn man Ihren Parteivorsitzenden gegen das Existenzrecht Israels wettern hört«, warf die Herzinger ein.

Plog stöhnte. »Ich wusste es. Das bringt nur böses Blut.«

»Warum distanzieren Sie sich dann nicht davon?«

»Weil ich für ein Land kämpfe, in dem auch abweichende Meinungen toleriert werden, und zwar egal ob sie Ihnen gefallen oder nicht. Gegen mich wurde ein Mordanschlag verübt. Und Sie denken, das hat etwas mit meiner Politik zu tun? Ja? Weil Leute wie ich per se an den Galgen gehören, oder was? Weil Andersdenkende in diesem Land ungeschützt dem linken Pöbel ausgesetzt sind? So einfach ist das nicht. Sie werden sich schon die Mühe einer ordentlichen Ermittlung machen müssen. Was sagt diese Person denn? Sie haben sie doch hoffentlich gefasst?«

»Sie ist flüchtig«, erwiderte Vaasenburg.

Plog spürte, wie seine Handflächen nass wurden und sein Herz zu rasen begann. »Wie bitte? Habe ich Sie richtig verstanden?«

»Wir vermuten, dass sie sich bereits wieder in Israel aufhält. Die dortigen Behörden sind informiert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Kollegen sie haben.«

»Moment. Einen Moment bitte.« Plog sah von einem zum anderen und spürte, dass die beiden ihm etwas verheimlichten. »Sie vermuten? Was soll das heißen? Ist diese Frau etwa zu Fuß gegangen? Ist sie übers Mittelmeer geschwommen? Nein? Sie ist … untergetaucht? Einfach so?«

»Dazu liegen uns derzeit keine Erkenntnisse vor«, sagte Vaasenburg knapp.

»Was, wenn sie noch in Deutschland ist? Vergessen Sie die politischen Hintergründe. Hier geht es um einen privaten Rachefeldzug.«

»Das sieht das BKA anders«, warf die Herzinger ein. »Der Staatsschutz ermittelt in Ihrer Sache genauso wie bei jedem abgefackelten Mercedes.«

Jetzt war es genug. Plog musste seine Entrüstung nicht länger spielen. Hier saß der Feind an seinem Bett, und dieser Kriminalhauptkommissar dachte nicht daran einzugreifen.

»Mein Leben ist ja wohl keine Sache! Für Rachel Cohen ist meine parteipolitische Gesinnung nebensächlich.«

»Sie ist Israelin.« Vaasenburg blieb ruhig. »Deshalb steht dieses Motiv zunächst einmal im Raum.«

»Was ist mit den anderen?«, fragte Plog hastig. Natürlich hatte er die Zeitungen gelesen. Trotzdem wollte er es aus Herzingers Mund hören: dass im Fall Scholl das Existenzrecht Israels ja wohl nicht die geringste Rolle gespielt hatte.

»Wir vermuten Zusammenhänge im Fall von Herrn Scholl«, sagte die Herzinger nicht gerade fröhlich.

»Zusammenhänge?«, höhnte Plog. »Zwei von vier Deutschen bekommen Besuch von Rachel Cohen. Einer ist tot, der andere liegt lebensgefährlich verletzt im Krankenhaus. Was ist mit Vernau? Lebt der wenigstens noch?«

Der Kommissar schwieg und sah ihn freundlich an. Plog blieb auf der Hut. Was spielten die beiden hier? Bad cop, good cop? Für wie blöde hielten sie ihn eigentlich?

»Im ärztlichen Untersuchungsbericht ist lediglich von Prellungen die Rede«, sagte Vaasenburg. »Lebensgefährlich war Ihr Unfall nicht.«

Plog deutete auf die Halskrause, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Diskutieren war sinnlos. Die beiden malten sich die Welt, wie sie ihnen gefiel.

»Die Zeitungen haben ein wenig übertrieben«, sagte er matt.

Die Herzinger lächelte ihn ebenso falsch wie herzlos an. »Ja, immer diese Schmierfinken von der Lügenpresse. Allerdings beziehen sich alle Agenturmeldungen auf die Verlautbarungen Ihres Pressesprechers. Der scheint wohl auch zu Übertreibungen zu neigen. Oder macht sich das einfach zu gut, sechs Wochen vor Beginn des Wahlkampfs?«

»Wie bitte?«

»Ich meine ja nur.« Die Herzinger sah ihren Chef um Entschuldigung bittend an. »So ein Attentat ist nun mal die beste PR, die man sich vorstellen kann.«

»Gehen Sie«, krächzte Plog. Ihm blieb die Spucke weg. »Das hier ist doch keine polizeiliche Befragung. Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren.«

»Tun Sie das.« Vaasenburg stand auf. »Wir sind auch schon fertig.«

»Was machen Sie jetzt? Bekomme ich Polizeischutz? Wird nach dieser Frau gefahndet? Was ist eigentlich mit meinem guten alten Freund Rudolph Scholl geschehen? Das ist doch kein Zufall! War diese Frau dort? Hat Rachel Cohen etwas mit seinem Tod zu tun?«

Vaasenburg steckte sein Notizbuch weg. »Das sind laufende Ermittlungen, zu denen ich Ihnen nichts sagen kann.«

»Aber ich bin ein Teil davon. Ich verlange Akteneinsicht. Sie werden von meinem Anwalt hören.«

»Auf Wiedersehen.«

Die Herzinger stand nun ebenfalls auf und öffnete die Tür.

»Und von meiner Pressestelle!«, brüllte Plog ihnen hinterher. »Ich werde dieses Gespräch nicht vergessen, hören Sie? Ich werde alle davon informieren, wie die Berliner Polizei ermittelt.«

Die Herzinger nickte ihm freundlich zu. Plog hatte das Gefühl, Gift und Galle spucken zu müssen.

»Wie sie ermittelt, wenn das Opfer nicht in ihr linkes Weltbild passt.«

Die Tür schlug zu.

Schwer atmend warf Plog sich auf das Kissen. Er versuchte, den Verlauf des Gesprächs noch einmal zu rekapitulieren und hatte das Gefühl, sich ganz gut geschlagen zu haben. Diese Herzinger! Früher, als er noch in der FDP gewesen war, hätte ein Anruf beim Innensenator genügt. Aber mit seinem Austritt und der Gründung der BfD hatte sich viel geändert. Die Mitglieder der neuen Partei wurden geächtet wie die Linke oder früher die Grünen. Es würde ein langer, beschwerlicher Weg werden, bis sie sich nicht nur den Respekt der Straße, sondern auch den der Regierungsparteien erkämpft haben würden. Der erste Schritt war der Einzug ins Abgeordnetenhaus von Berlin.

Mit einem Stöhnen griff er zur der Tageszeitung, die auf seinem Nachttisch lag. Gestern hatte er es auf die Titelseite geschafft. Heute war er nur noch im Berlin-Teil vertreten. »Plog auf dem Weg der Besserung. Tatverdächtige weiterhin flüchtig.«

Er sah auf die Uhr und fragte sich, wann Sandra endlich mit dem Kuchen kam.