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Der Rothschild Boulevard zählt zu den besten Adressen von Tel Aviv. Eine breite, schattige Straße, die zum Flanieren einlädt. Bauhaus und Klassizismus wechseln sich ab mit Bausünden der siebziger Jahre, dazwischen breitet sich mehr und mehr die moderne Hochhausarchitektur aus.

Das Mind Space Building hat keine Ecken. Es ist die Umsetzung eines kühnen Entwurfs aus Glas und Beton, ein futuristischer Monolith mitten im quirligen Leben der Straße. Damen mit Hut und Hund überqueren hoheitsvoll die Fahrbahn, Skater in hautengen Jumpsuits schlängeln sich durch die Massen, ohne jemanden zu berühren oder zu gefährden. Die Frauen tragen Haute Couture, die Männer Maßanzüge. Viel junges Volk, teure Autos Stoßstange an Stoßstange, in der Mitte der Straße eine breiter Grünstreifen mit Parkbänken und Kiosken, der Duft von frisch geröstetem Kaffee, Croissants und Benzin.

Vor genau so einem Kiosk stand ich, einen Lachs-Bagel in der einen, einen Cappuccino to go in der anderen Hand, und beobachtete, wer das Mind Space betrat.

Es hatte acht Stockwerke, in jedem residierten mehrere Firmen. So viel hatte ich herausbekommen, als ich mir vor einer halben Stunde das Foyer angesehen hatte. Keine Security, kein Portier. Vier Fahrstühle, die leise und effizient arbeiteten, allerdings nur wenn man eine Chipkarte dafür besaß oder sich über die Gegensprechanlage bei jemandem angemeldet hatte. Kein Treppenhaus. Zumindest nicht im Foyer.

Der Bagel war gegessen, der Cappuccinobecher fast leer. Zehn Uhr. Langsam versiegte der Strom der Pendler. Um halb elf machte ich mir erstmals Gedanken über die Existenz einer Tiefgarage, durch die Rachel ungesehen ins Haus gekommen sein konnte. Um elf wusste ich, dass an mir kein Privatdetektiv verloren gegangen war, und betrat das Foyer.

Ich klingelte bei delete.com und bekam ohne weitere Nachfrage den Lift geschickt. Er brachte mich hinauf in den vierten Stock zu einer lichtdurchfluteten Büroetage. Die Glastür mit der Firmenaufschrift war weder bewacht noch verschlossen. An den Schreibtischen saßen konzentriert arbeitende Menschen, in meinen Augen gerade alt genug, um sich in einer Fußballkneipe ein Bier bestellen zu dürfen. Ich durchquerte das halbe Großraumbüro, ehe überhaupt jemand auf mich aufmerksam wurde.

Das Mädchen hatte knallrote kurze Haare, war an sämtlichen sichtbaren (wahrscheinlich auch an den nicht sichtbaren) Körperstellen halsabwärts mit martialischen Tattoos gezeichnet, klirrte beim Gehen, als ob sie einen Werkzeugkasten bei sich hätte, und schenkte mir ein bezauberndes Lächeln mit Metall in der Oberlippe.

»Hi. I’m Haylee. How are you?«, begrüßte sie mich auf Englisch.

Sie streckte die Hand aus. Ums Gelenk hatte sie sich schätzungsweise drei Meter Eisenkette gewunden. Ich erwiderte die nette Geste und stellte mich ebenfalls auf Englisch vor.

»Ich muss mit Rachel Cohen sprechen«, sagte ich dann. »Ist sie da?«

»Es tut mir sehr leid, aber sie ist auf einem Termin außer Haus.«

»Wann kommt sie zurück?«

Haylee lächelte, als würde sie dafür bezahlt. Dieses Mal mit einer Nuance ins Bedauern. »Das darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Natürlich. Wo kann ich sie erreichen?«

»Das darf ich Ihnen auch nicht sagen.«

Ein junger Mann zwei Schreibtische weiter wurde auf uns aufmerksam. Als Haylee es merkte, beugte er sich wieder über seine Tastatur.

Ich reichte ihr eine meiner Visitenkarten. »Es ist wichtig. Nicht nur für mich, auch für sie. Ich wohne im Grand Zion.«

»Ein schönes Hotel.« Sie las meine Heimatadresse und strahlte mich an. »Sie kommen ja aus Berlin. Da möchte ich unbedingt auch mal hin.«

»Kein Problem. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie da sind. Dann trinken wir was zusammen.«

Zum ersten Mal wirkte Haylees Lächeln echt. »Danke. Ich werde es Rachel ausrichten, wenn sie sich meldet. Aber das kann dauern.«

Sie begleitete mich zurück zum Fahrstuhl und rief ihn mit ihrer Chipkarte. Mir musste dringend etwas einfallen. Jäger schicken ihre Hunde ins Unterholz. Angler hängen einen Köder an den Haken. Ich sagte: »Es geht um einen Brief. Sagen Sie ihr bitte, dass ich weiß, wo er ist.«

Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Haylee drückte auf Ground Floor und trat zurück, um mich in die Kabine zu lassen.

»Falls Sie ein datenschutzrelevantes Problem haben …«

»Nein«, unterbrach ich sie. »Ich habe mich vermutlich nicht klar genug ausgedrückt. Rachel Cohen hat ein Problem, und ich bin die Lösung.« Ich ließ sie gar nicht erst wieder mit ihrem Entschuldigungslächeln anfangen. »Ist das klar? Haben Sie das verstanden?«

Bei Haylee war Schluss mit der guten Laune. »Einen schönen Tag noch.«

»Schalom.«

Die Türen schlossen sich, die Kabine sackte nach unten. Ich drückte, solange Haylees Chipkartenbefehl noch galt, auf die Taste mit dem P. P wie Parking.

Ich musste keine Viertelstunde warten, da flog der Vogel aus dem Nest. In der Zwischenzeit gelang es mir, nicht nur mein Hemd, sondern auch alles andere, was ich am Leib trug, durchzuschwitzen. Die Tiefgarage hatte keine Lüftung. Die aufgestaute Hitze hielt sich darin und hatte keine Chance, durch das Rollgitter zur Straße hin zu entweichen. Ich fühlte mich, als ob sich ein unsichtbarer Eisenring um meinen Brustkorb legte, der immer enger wurde.

Es gab drei Parkebenen. Ich hatte mich in der Nähe des Fahrstuhls im ersten Untergeschoss positioniert. Chefs beanspruchen ihre Parkplätze grundsätzlich so nah wie möglich an der nächsten Klimaanlage. Jedes Mal, wenn der Lift sich in Bewegung setzte, rechnete ich mit Rachel. Einmal öffnete sich tatsächlich die Tür, und ich konnte gerade noch rechtzeitig im Schatten der Notfalltreppe verschwinden. Zwei Männer in Arbeitsoveralls kamen heraus und hielten auf einen Lieferwagen zu, der ziemlich breit in der Ausfahrt geparkt war. Sie unterhielten sich in einem Tonfall, den ich auch draufhabe, wenn ich das dritte Knöllchen in Folge vor Marquardts Büro kassiere.

Dann war es endlich so weit.

Ungeduldig stürmte Rachel aus der Kabine, noch bevor sich die Türen des Aufzugs richtig geöffnet hatten. Ich trat aus dem Schatten und verstellte ihr den Weg. Sie fuhr zusammen und gab einen erschrockenen Laut von sich.

»Sie?«

»Wir müssen reden.«

Die Türen hinter ihr glitten zu, den Weg zur Treppe schnitt ich ihr ab. Sie trug die klassische Geschäftsgarderobe: Kostüm und halbhohe Pumps. Nicht dazu passen wollte die Messenger Bag mit Überschlag. Noch bevor ihre Hand darin verschwunden war, hatte ich sie gepackt.

»Was soll das?«

»Wo steht Ihr Wagen?«

Ich zerrte sie in die Garage. Sie wollte sich losreißen, aber ich hatte nicht vor, den Vogel noch einmal davonfliegen zu lassen.

»He! Sie tun mir weh!«

»Schlüssel? Na los. Her damit.«

Für einen Moment lockerte ich meinen Griff – ihre Chance. Sie duckte sich weg und rannte los, kam jedoch nicht weit. Nach zwei Metern hatte ich sie wieder. Dieses Mal nahm ich sie in den Schwitzkasten. Sie keuchte, strampelte und versuchte, mit ihren Absätzen mein Schienbein zu treffen. Zweimal hatte sie Glück. Mir ging dabei eher die Luft aus als ihr.

»Schluss jetzt!«, rief ich. Schienbeine waren unfair. »Rachel! Hören Sie zu. Wir müssen reden.«

Ihre Gegenwehr ließ nach, aber das musste nichts heißen. Wer zwei Jahre beim israelischen Militär durchgehalten hatte, kam auch mit älteren Männern in Tiefgaragen klar.

»Wo ist der Brief?«, fauchte sie mich an.

Ich ließ sie los, wobei ich auf jede ihrer Bewegungen achtete. Sie ließ die Hand auf ihrer Tasche. Wahrscheinlich hatte sie eine Waffe dabei – ehemalige Militärangehörige machten fast alle von der Möglichkeit Gebrauch, ohne Probleme eine Lizenz zu bekommen.

»Sie haben ihn nicht. Was soll das?«

»Rachel, bitte machen Sie keinen Aufstand. Wir gehen jetzt zum nächsten Polizeirevier. Dort werden Sie eine Aussage machen. Es ist mir egal, wie Sie Ihr Erscheinen am Tatort vor Scholls Wohnung erklären. Hauptsache Sie sagen die Wahrheit.«

Sie sah sich hektisch um, aber die Arbeiter waren mit ihrem Lieferwagen längst weg. Mit hilfsbereiten Angestellten, die vormittags ihr Büro verließen, war hier unten nicht zu rechnen. Die Überwachungskamera hatte den Treppenausgang im Visier, eine zweite hielt auf das Rolltor. Wir standen im toten Winkel.

»Ich will den Brief!«, wiederholte sie trotzig.

»Es gibt keinen. Wenigstens nicht bei mir.«

»Dann ist die Unterhaltung hiermit für mich erledigt.«

»Nein. Kommen Sie mit.«

Ich fasste sie unter den Arm – zu rücksichtsvoll. Ich hätte es wissen müssen. Die rasche Bewegung nahm ich nur aus dem Augenwinkel wahr. Der Schlag landete direkt an meiner Schläfe, präzise und kalkuliert. Als Nächstes fand ich mich auf dem dreckigen Boden in einer halb versickerten Öllache wieder. Gegen Rachels Nahkampfausbildung waren die beiden Hooligans vor Scholls Wohnung blutige Anfänger.

Sie rannte zu ihrem Auto. Ich kam viel zu langsam auf die Beine. Alles drehte sich, Schwindel und Schmerz tanzten eine makabre Polka zwischen Kopf und Magen.

Irgendwo wurde ein Motor angelassen, Reifen schlitterten auf glattem Beton. Hinter mir lag die Ausfahrt. Ich drehte mich um und lief sie hinauf in Richtung Rollgitter, das sich gerade quietschend in Bewegung setzte. Rachel gab Gas. Der Motor heulte auf. Ich blieb am Ende der Ausfahrt mit ausgebreiteten Armen stehen.

Sie preschte die Steigung hoch. Blendende Scheinwerfer. Hupen. Gleich hatte sie mich. Jetzt.

Sie stoppte, die Stoßstange direkt an meinen Knien.

»Du verdammtes Arschloch!«, schrie sie. »Verschwinde!«

Ich stützte mich auf der Motorhaube ab.

»Hau ab! Du bist genauso ein Wichser wie die anderen! Verpiss dich!«

»Rachel«, keuchte ich. Irgendetwas stimmte mit meiner angebrochenen Rippe nicht. Ich bekam keine Luft mehr.

Der Motor heulte auf. Ich wurde ein paar Schritte nach oben gedrängt, konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.

Sie beugte sich aus dem Fenster. »Was ist? Willst du, dass ich dich über den Haufen fahre? Ja? Willst du das?«

Ich hatte keine Ahnung. Ich merkte nur, wie meine Knie nachgaben und ich, ohne etwas dagegen tun zu können, direkt vor ihrer Kühlerhaube auf den Asphalt aufschlug. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Die Luft wurde knapp. Wahrscheinlich hatte sie mir mit ihrem K.-o.-Schlag den Todesstoß versetzt. Beim Mossad machten sie es so. Hörte man jedenfalls immer mal wieder. Ein Schlag, ein Tritt, und zwei Tage später kotzte man erst Blut und danach seine Seele aus.

Bei mir ging es offenbar schneller.

Weit entfernt hörte ich eine Autotür zuschlagen. Jemand kam näher. Es war ein Déjà-vu. Rachel beugte sich über mich. Mit ihrer kühlen Hand strich sie mir die Haare aus der Stirn und hob ein Augenlid an. Ich blinzelte.

»Steh auf«, sagte sie.

Ich wollte etwas Wichtiges röcheln. Letzte Worte. Man sollte sich auf solche Momente vorbereiten, denn aus dem Stegreif fällt einem meist nichts Sinnvolles ein.

»Ich sterbe.«

»Sicher. Aber nicht heute«, antwortete sie herzlos.