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29 Jahre später

Schmerz. Wuchtig, übermächtig.

Sie beugt sich über mich. Das lange Haar fällt ihr ins Gesicht, dieses schöne schmale Gesicht, ich sehe ihre weit aufgerissenen Augen. Angst. Schock.

Mit der Hand berührt sie meine Schulter. Sie sagt etwas, schreit mich an, aber ich kann sie nicht hören. Das Dröhnen in meinem Kopf wird lauter. Jemand reißt sie weg. Ihre Lippen formen das Wort NEIN.

»Nein!«

Wieder ein Schlag, dann ein Sturz ins Nichts.

Ich fahre hoch, verfange mich in einer Schnur. Etwas sticht in meinen Handrücken wie ein Skorpion. Eine Nadel. Im schwachen Licht gedimmter Neonröhren erkenne ich ein Krankenzimmer. Die Tropfflasche baumelt am Galgen. Ich falle zurück auf das harte Kopfkissen. Was ist passiert? Ich will mich erinnern, aber es gelingt mir nicht.

Ein Gesicht. Ihr Gesicht. Blass, mit hohen Wangenknochen und dunkelblauen Augen. Immer wieder taucht es auf aus der Tiefe meines Betäubungsschlafs wie ein Foto, das langsam in der Dunkelkammer Gestalt annimmt. Vom Schemen zur Schärfe. Einige Sommersprossen auf der geraden Nase, die braunen Haare streng zurückgekämmt. Jung sieht sie aus. Jung und sehr verletzlich. Ihr Mund ist der eines Knaben. Ist sie es? Ist sie es nicht? Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Blasse Lippen, scharf konturiert. Sie verziehen sich zu einem unsicheren Lächeln.

Ihr Name. Ich darf ihn nicht vergessen. Ihr Name ist …

»Rebecca?« Meine Stimme klingt wie zerriebenes Glas.

»Nein«, sagt sie leise. »Ich bin Rachel.«

Rachel.

»Ganz ruhig. Alles wird gut.«

Ihre Worte tropfen kühl in mein Blut. Alles wird gut.

»Was ist passiert?«

Die junge Frau lächelt mich an. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Ich weiß noch nicht, was es ist, aber es beunruhigt mich. Die Grenze zwischen Fiebertraum und Wirklichkeit verwischt. Ständig schiebt sich ein anderes Gesicht vor ihre Züge. Eines, das ich nie vergessen habe, obwohl es so lange her ist.

Sie trägt einen kleinen goldenen Davidstern an einer Kette. Ich will die Hand heben und ihn berühren, ich kenne ihn, er erinnert mich an etwas, doch dann verschwimmt er vor meinen Augen. Alles hebt und senkt sich.

»Nicht jetzt. Ruh dich aus.«

Ihre Worte kommen von weit her, wie aus einem anderen Raum. Ich sehe ihr Gesicht nur noch schemenhaft, als stünde sie auf der anderen Seite eines Fensters, an dem starker Regen hinabrinnt.

»Rachel?« Mühsam setze ich mich auf. »Rebecca?«

Die Übelkeit schießt in mir hoch. Ich reiße mir die Nadel aus der Hand und taumele auf eine Tür zu, hinter der sich glücklicherweise das befindet, was ich gehofft habe: das Badezimmer.

Abwaschbar, steril, unbenutzt – hellgraue Kacheln, eine Dusche, in der ein weißer Plastikstuhl steht, ein Waschbecken, die Toilette. Ich versuche das Unvermeidliche so geräuscharm wie möglich hinter mich zu bringen. Was zum Teufel ist passiert? Im Spiegel sieht mich ein entfernter Verwandter an, der nicht durch, sondern gegen die Wand gelaufen ist. Eine blutige Schramme zieht sich quer über meine Stirn. Das linke Auge ist fast komplett zugeschwollen und schillert in allen Schattierungen zwischen Gelb und Violett. Beim Atmen schmerzt der Brustkorb. Ich trage eine Halskrause. Entweder bin ich vor einen Lkw gelaufen oder … Rachel … Warum nennt sie sich jetzt so?

Ein Schrei. »Lasst ihn los!«

Der Schlag kommt von hinten.

Nacht.

Kaltes klares Wasser. Viel.

Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich das Gefühl hatte, ihr wieder gegenübertreten zu können. Dann öffnete ich die Tür und blinzelte, weil das helle Licht blendete. Sie stand am Fenster, und die Erleichterung darüber, dass ich sie nicht geträumt hatte, hielt so lange an, bis sie sich umdrehte.

»Hi«, sagte Marie-Luise.

Bis auf uns beide war der Raum leer. Immer noch keuchend von der Anstrengung, mich auf den Beinen zu halten, lehnte ich am Türrahmen.

»Wo ist sie?« Ich war abgrundtief enttäuscht.

»Wer?«, fragte die Frau am Fenster und kam auf mich zu.

Sie hielt eine Zeitung in der Hand, die sie mehr auf meinen Nachttisch warf, als sie darauf abzulegen. Eben noch hatte ein Engel an meinem Bett gesessen, und nun stand meine ehemalige Kanzleipartnerin vor mir. Der Unterschied war ungefähr so groß wie der zwischen Filterkaffee und Espresso und fiel eindeutig zu Marie-Luises Nachteil aus. Sie bekam mit, dass ich von echter Freude weit entfernt war.

»Hier ist niemand. Außer uns beiden, meine ich. Es ist auch keiner aus deinem Zimmer rausgekommen.«

»Aber …« Ich glaubte sogar, einen Hauch ihres Parfums zu riechen. Etwas, das an weiße Blumen erinnerte, an Reinheit und Frische. »Du musst sie gesehen haben. Eine Frau, Mitte, Ende zwanzig. Dunkle Haare, schlank …«

»Tut mir leid.« Marie-Luise ließ sich auf den abwaschbaren Stuhl fallen, auf dem eben noch Rachel gesessen hatte. Oder Rebecca, mit der ich sie verwechselt haben musste. Oder schlicht und ergreifend eine Wahnvorstellung. »Was verabreichen Sie dir denn hier? Gibt’s das auch für Frauen?«

Ratlos starrte ich sie an.

»Okay, war ein Witz. Du bist ja wirklich angeschlagen. Siehst aus wie ein glückloser Boxer. Wie geht es dir?«

»Sie war hier.«

»Schon gut.« Marie-Luise, rothaarig, einen Kopf kleiner als ich und gekleidet, als ob ihre nächste gesellschaftliche Verpflichtung eine Anti-Abschiebe-Demo wäre, zumal sie eher nach dem Tabak ihrer letzten heimlich gerauchten Selbstgedrehten roch als nach weißen Blumen, reichte mir die Zeitung. »Lies. Titelseite.«

Vorsichtig, fast misstrauisch nahm ich ihr das Blatt ab und ging zurück zu meinem Bett.

»Anwalt greift ein – Schläger gefasst!« Die Buchstaben tanzten fast vor Aufregung. »Antisemitischer Übergriff vereitelt. Der Charlottenburger Strafverteidiger Joachim V. stellte sich schützend vor einen Berliner Mitbürger, als jugendliche Hooligans ihn zunächst provozierten und dann auf ihn einschlagen wollten. Das Opfer Rudolph Scholl, ein angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde Berlins, war gerade auf dem Weg in die Synagoge in der Pestalozzistraße, als die Täter ihm auflauerten. Zeugen riefen die Polizei. Die Täter wurden gefasst. Im vergangenen Jahr wurden bundesweit mehr als 20.000 politisch motivierte Straftaten registriert. Mit Abstand die meisten Delikte begingen Neonazis sowie sonstige, diffus rechts orientierte Kriminelle …«

»Sie hätten wenigstens deinen Namen ausschreiben können.« Marie-Luise verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich aufmerksam.

Ich las den Artikel noch einmal. Eine Rachel tauchte darin nicht auf.

»Was wolltest du denn von Scholl? Oder hat dich reiner Zufall dort vorbeigeführt? Ihm gehört das jüdische Antiquariat. Ich war schon ein paar Mal dort. Man findet immer was. Derzeit werden die ganzen Bibliotheken der Gründergeneration aufgelöst. Erst neulich habe ich die Erstausgabe von Anna Seghers Das siebte Kreuz bei ihm gekauft. Für meine Mutter. Hat ja alles nur noch symbolischen Wert, obwohl ich finde, dass gerade Anna Seghers in den Schulen …« Sie verstummte, weil ich ungeduldig die Hand gehoben hatte, um ihren Redeschwall zu unterbrechen. »Was ist?«

»Sie war dabei. Bei Scholl.«

»Wer?«

»Rachel.« Ich suchte nach einem Wort, das zu ihr passte, und war erleichtert, als es mir einfiel. »Eine Mandantin. Ich war mit ihr zusammen dort.«

Marie-Luise wich meinem Blick aus, und das war kein gutes Zeichen. Wir kannten uns schon so lange. Ich konnte in ihr lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch, meinetwegen auch eines von Anna Seghers oder Dieter Noll oder Erik Neutsch oder womit ich mich damals sonst noch so herumgequält hatte, um ihr zu imponieren. Übriggeblieben aus dieser Zeit war das, was ich am ehesten mit »vertraut« und »vertrauend« umschreiben würde. Ihren Büchergeschmack einmal ausgenommen.

»Um was ging’s denn?«, fragte sie mit dem Interesse einer gelangweilten Schulkrankenschwester, die die zehnte aufgeplatzte Lippe an einem Tag behandeln muss.

Ich legte die Zeitung auf die Decke und lehnte mich zurück. Langsam kamen die Schmerzen wieder und mit ihnen offenbar auch meine Erinnerung. »Eine …« Ich brach ab. Warum war Rachel noch mal bei mir gewesen? Es war um etwas Wichtiges gegangen. Etwas Existenzielles. Etwas, das auch mich betraf. Wie ein bewegungsloser, dunkler Schatten stand es in einer Ecke meines Gedächtnisses und wollte einfach nicht hervorkommen. »Eine Familiensache, glaube ich. Sie wollte … zu Scholl. Ich habe sie begleitet, weil ich ihn von früher kenne.«

»Was weißt du sonst noch?«

Ich dachte nach und antwortete dann wahrheitsgemäß: »Nichts.«

Die Verblüffung ließ Marie-Luise einige Sekunden schweigen. Ihr Blick suchte in meinem Gesicht nach einem Anzeichen, ob ich sie auf den Arm nehmen wollte. Dann begriff sie, dass ich in meinem Zustand noch nicht einmal mehr dazu in der Lage war.

»Aber du musst dich doch an irgendetwas erinnern. An den Überfall. Wer angefangen hat. Wie das alles passiert ist.«

Ich schloss die Augen und wünschte mir, allein zu sein.

»Irgendwas?«

Nichts.

Marie-Luise stand auf. »Vaasenburg hat mich angerufen.«

Sie wartete, ob die Erwähnung des Kriminalhauptkommissars, mit dem wir schon öfter zu tun gehabt hatten, bei mir eine Reaktion hervorrief.

»Der polizeiliche Staatsschutz ermittelt, wie es so schön heißt. Wie immer, wenn es um antisemitische Übergriffe geht. Die beiden Schläger sitzen noch in U-Haft. Aber … da scheint es Unstimmigkeiten zu geben.«

Sie wartete ab, ob mich ihr leichtes Zögern zu einer Nachfrage provozieren würde. Es war mir egal. Ich wollte nur meine Ruhe. Ihre leisen Turnschuhschritte entfernten sich in Richtung Tür.

»Welcher Tag ist heute?«, fragte ich hastig.

»Freitag.«

Dann lag ich also seit gestern im Krankenhaus. Es fühlte sich an, als wären Jahre vergangen, seit an einem kühlen Frühlingsmorgen diese junge Frau in mein Büro gekommen war, die ihrer Mutter so ähnlich sah, dass ich an eine Halluzination glaubte.

»Rebecca?«

Sie steht lächelnd auf und reicht mir die Hand. »Rachel, Rachel Cohen. Aber es kommt vor, dass Leute mich mit meiner Mutter verwechseln.«

»Ruh dich erst mal aus.« Marie-Luise betrachtete mich mit ungewohnter Besorgnis. »Ich komme heute Nachmittag noch mal vorbei. Dann wissen wir mehr, und du siehst hoffentlich alles etwas klarer.«

»Was für Unstimmigkeiten?«

»Die Aussagen von den beiden Hooligans widersprechen sich. Aber was will man schon von Leuten erwarten, die nicht geradeaus denken können.«

Bevor sie die Tür öffnete, sagte ich noch schnell: »Danke.«

Ich war froh, dass sie ihren Besuch nicht ausdehnte. Ich wollte allein sein und in meiner Erinnerung finden, was ich verloren hatte. Doch sosehr ich auch nachforschte, mehr als Rachels Namen und ein paar zusammenhanglose Bilder tauchten nicht auf: Sie sitzt in meinem Büro und schlägt die Beine übereinander, und ich Idiot sehe natürlich nur die Beine … Oder: Ich hole sie ab, und sie läuft auf meinen Wagen zu, ihre offenen Haare tanzen um die Schultern. Sie lächelt wieder, und das kann sie, breit und herzlich, fast wie ihre Mutter vor so langer Zeit … Oder: Sie beugt sich über mich, während ich k. o. auf der Straße liege, doch irgendein Idiot zerrt sie weg von mir. Ich will sie beschützen, bloß vor wem? Es geht mir nicht gut, und das liegt nicht nur an den Schlägen, die ich einstecken musste. Ich bin wie erstarrt, gefangen in einer tiefen Trauer, nur um was?

Als die Schwester hereinkam, um die Flasche mit der Elektrolytlösung zu wechseln, schlug ich die Decke zurück und setzte mich auf. Zu schnell. Für einige Sekunden schien der Boden zu schwanken.

»Könnten Sie mir bitte die Hand verbinden? Ich möchte gehen.«

Die Frau, eine resolute Dame mit roten Wangen und kräftigem Griff, sah mich an, als hätte ich von ihr verlangt, die oberen Knöpfe ihres Kittels zu öffnen. »Sie haben eine Gehirnerschütterung und Prellungen, dazu eine angebrochene Rippe. Ich an Ihrer Stelle …«

»Ich muss raus hier. Wo sind meine Sachen?«

»Wir haben gleich Visite. Der Arzt wird entscheiden …«

»Nein. Verzeihen Sie bitte. Das werde ich selbst tun.« Ich stand auf, ein grober Fehler. Alles drehte sich. Ich klammerte mich ans Bettgestell. »Und machen Sie mir das Ding an meinem Hals ab.«

Mit sichtlichem Unwillen ging die Schwester zu einem Einbauschrank und öffnete ihn. »Hier.«

Alles da. Schuhe, Hemd, T-Shirt, Anzug …

»Der Mantel?«

Es war Mitte April, der Himmel draußen war von regenschweren Wolken verhangen. Ab und zu lugte die Sonne hindurch. Eine Birke, noch winterkahl, schwankte im Wind.

»Den hat Ihre Mutter gestern Abend mitgenommen. Sie wollte ihn reinigen lassen.«

»Meine Mutter war hier?«

Die Schwester schloss den Schrank wieder. »Ja, mit Ihrer Tante. Eine reizende Dame, die ebenfalls sehr besorgt um Sie war.«

Frau Huth war weder meine Tante noch reizend und schon gar nicht besorgt um mich.

Ich nahm die Sachen und taumelte ins Bad. Dunkle Flecken, Schmutz und Blut, als ob man mich einmal quer über den Asphalt geschleift hätte. Das T-Shirt ging. Ich zog vor Schmerzen scharf die Luft ein, als ich es über den Kopf zerrte.

Die Formalitäten waren schnell erledigt. Ich bekam die Entlassungspapiere und warf sie vor der Klinik in den nächstbesten Mülleimer. Auf dem Parkplatz wollte ich kehrtmachen, weil ich nicht wusste, wo ich meinen Wagen gelassen hatte – die Schlüssel hatte ich bei mir. Jemand war so freundlich gewesen, sie mit meinen anderen persönlichen Dingen in die Nachttischschublade im Krankenzimmer zu legen. Wahrscheinlich stand das Auto noch in der Nähe von Scholls Wohnung, wo es mich so böse erwischt hatte. Ich ging ein paar Meter zurück, hatte vergessen, was ich eigentlich wollte, und stand einige Augenblicke ratlos vor dem Papierkorb. Die Sonne traute sich wieder für einen Moment hinter den Wolken hervor. Es war seltsam, die Klinik vor mir zu sehen und nicht zu wissen, wie ich hineingeraten war. Im Papierkorb lag ein Umschlag, auf dem mein Name stand. Meine Entlassungspapiere. Ich holte sie wieder heraus und nahm den Bus.