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Marianne. Marianne Wegener …
Marie-Luise Hoffmann holte die Blätter aus einer abgewetzten Hängeregistraturmappe und breitete sie auf dem Tisch aus. Ihr Magen knurrte. Gleich Mittag. Kein Fax von Rachel, keine Nachricht, keine E-Mail. Ans Telefon ging sie auch nicht mehr. Nicht zum ersten Mal fragte Marie-Luise sich, warum sie sich überhaupt all die Mühe machte für jemanden, mit dem sie nicht das Geringste verband.
Für Margit, redete sie sich ein. Für eine Mutter, die ihren Sohn verloren hatte und so lange allein gelassen worden war, dass sie niemanden mehr an sich heranließ. Vielleicht auch für Rachel, obwohl sich ihre Sympathie zu der jungen Frau in Israel in Grenzen hielt. Das Mädchen hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.
Ganz bestimmt nicht für Vernau.
Den halben Vormittag hatte sie damit verbracht, Rachel für ihre Untätigkeit zu verfluchen und anschließend Vaasenburg davon zu überzeugen, trotzdem Akteneinsicht zu bekommen. Ein Mausklick bei INPOL, eine E-Mail mit Anhang, und der Fall wäre erledigt gewesen. Stattdessen musste er sich mit Staatsanwalt Rütters austauschen, und irgendwann im Laufe des Nachmittags würde die Absage wegen Irrelevanz und Rücksicht auf ein laufendes Ermittlungsverfahren bei ihr eintrudeln.
»Danke, Birte.«
Die junge Jurastudentin hatte am Eingang einfach nur ihren Studienausweis vorgezeigt. Recherche über eine Semesterarbeit mit dem Titel Strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren in der Zivilprozessordnung, dazu ein nettes Lächeln beim Pförtner und unten, in den endlosen neonblau beleuchteten Gängen, zwei drei Fragen an die Mitarbeiter der Aktenführung.
»Und was machste jetzt damit?«
Die beiden Frauen saßen in der Cafeteria, einem hellen Raum mit großer Glasfront, die den Blick über die Spree freigab, die Frachtschiffe, die Kräne, den braunen Rost der Container und einen bleigrauen Himmel. Marie-Luise mochte den Westhafen. Er erinnerte sie an Helmut Käutners Unter den Brücken, einen Film, der 1944 in Berlin und Brandenburg gedreht worden war und den sie, als sie noch fast ein Kind gewesen war, irgendwann einmal im Westfernsehen gezeigt hatten. Sie hatte sich schwärmerisch und Hals über Kopf in Carl Raddatz verliebt, den Verlierer dieser melancholischen Schwarzweißgeschichte. Seitdem waren Häfen für sie das Sinnbild von unerfüllter Sehnsucht. Auf dem Flohmarkt am 17. Juni hatte sie vor Jahren ein Autogramm von Raddatz aus den vierziger Jahren erstanden und hütete es wie einen Schatz.
»Ich weiß es noch nicht.«
Marie-Luise beugte sich wieder über die Papiere. Zeugenaussage in der Vermisstensache Daniel Schöbendorf vom 21. November 1987. Erschienen im Präsidium waren Michael Plog, damals einundzwanzig Jahre alt, und Rudolph Scholl, neunzehn.
»Ausgesagt hat nur einer: Plog. Scholl muss stumm wie ein Fisch danebengesessen haben. Zumindest hat er mit unterschrieben.«
Sie hob die zusammengehefteten Blätter an und wies auf die letzte Seite. Birte schüttete Zucker aus einem Spender in ihren Latte.
»Ein uralter Vermisstenfall. Und erst jetzt tauchen Ungereimtheiten auf?«
»Ja. Seine Tochter hat den Stein ins Rollen gebracht. Daniels Tochter. Sie will ihren Vater finden. Am Anfang standen vier junge Männer zur Auswahl.«
»Vier?« Birtes dunkle Augen, meist schlafzimmermäßig verhangen, was jedoch mehr auf ihre Nächte im Berghain zurückzuführen war, diese müden Augen weiteten sich erstaunt. »Holla die Waldfee.«
»Es ging lediglich um die theoretische Möglichkeit einer Vaterschaft. Zusammen war ihre Mutter damals offenbar nur mit einem: Daniel. Von ihm wurde sie schwanger. Er hat aber«, sie blätterte in der Akte, »in der Nacht vom siebten auf den achten Oktober den Kibbuz Jechida verlassen, um, und jetzt kommt’s, mit einer gewissen Marianne Wegener nach Griechenland durchzubrennen. Marianne Wegener. Wer ist diese Frau? Warum hat bisher niemand sie erwähnt? Vernau nicht, Plog nicht. Scholl können wir ja nicht mehr fragen.«
»Warum wohl?« Birte hatte aus der Zeitung von Scholls tragischer Geschichte erfahren und Marie-Luise die ganze Fahrt über mit Fragen gelöchert. »Wie glaubwürdig ist diese alte Aussage?«
»Sie bekräftigt die Indizien, dass Daniel tatsächlich in Griechenland gewesen sein könnte. Hier.« Sie zeigte der Studentin einige graue Kopien. »Der Mietvertrag für das Boot. Zwei auf Korfu ausgestellte Reiseschecks.«
»Zeig her.« Birte zog die Kopien zu sich herüber. »Das könnte ich auch.« Sie nahm einen Kugelschreiber und schrieb Daniel Schöbendorf auf eine Papierserviette. Schreibschrift, nach rechts geneigt, runde Buchstaben, nichts Außergewöhnliches. Sie schob die Schriftprobe zu Marie-Luise.
»Sieht fast genauso aus. Das könnte jeder gefakt haben. Hat man die Sachen einem Schriftsachverständigen vorgelegt?«
Marie-Luise blätterte sich durch die Seiten. »Ja, warte. Einem Doktor Ernst Speichert, Psychologe und forensischer Schriftgutachter. Aber das war vor fast dreißig Jahren. Ich weiß nicht, wie weit die urkundentechnischen Verfahren damals waren.«
»Was ist mit den Zeugenaussagen aus Griechenland?«
»Moment, da gibt es Übersetzungen.« Marie-Luise überflog die Papiere. »Das hier ist die Aussage von Yannis Nikolaidis. Kann sich nicht mehr erinnern, nur an sein Boot. Es trug den schönen Namen Leda. Ein junger Mann hat es gemietet, Rucksacktourist. Kein Wort von einer Begleitung … merkwürdig.« Sie blätterte die Unterlagen weiter durch. »Kein Hotel. Vielleicht hat er im Schlafsack am Strand übernachtet. Damals war das ja alles noch möglich.«
»Heute auch, wenn man die Stellen kennt.«
Birtes Blick wurde noch wacher. Davon träumte jeder Jurastudent: dass all die trockene Paragraphenfresserei eines Tages in einem Fall von cineastischem Ausmaß ihren Sinn finden würde. Natürlich nur falls man sich auf Strafrecht und nicht auf Güter- oder Genossenschaftsrecht spezialisiert hatte.
»Diese Aussage«, Marie-Luise deutete auf das Protokoll, »unterstützt jedenfalls die Vermutung, dass Daniel tatsächlich bis nach Korfu gekommen und dort verschollen ist. Seine Mutter hat ihn Jahre später für tot erklären lassen.«
»Wie traurig. Sie hat nie wieder etwas von ihm gehört?«
»Nie wieder. Und das ist wirklich irritierend. Seine letzte Nachricht an sie stammt nämlich aus Israel. Es war die Ankündigung seiner baldigen Heimkehr mit einer großen Überraschung. Daniels Mutter geht bis heute davon aus, dass er vorhatte, mit Rebecca nach Deutschland zu kommen. Erst wollten sie heiraten, wahrscheinlich auf Zypern, und dann weiterreisen. Seine Tochter Rachel glaubt das auch.«
Birtes Gesicht war ein einziges großes Fragezeichen. Sie deutete auf das Polizeiprotokoll. »Du hast doch eben noch gesagt, dass alle Indizien für Griechenland sprechen.«
»Ja. Aber wenn wir sie einfach mal in Zweifel ziehen, wenn wir einfach mal annehmen, dass Plog und Scholl gelogen haben, was haben wir dann? Eine unbekannte Person könnte unter Daniels Namen auf Korfu aufgetaucht sein. Derjenige löst zwei Schecks ein, mietet ein Boot, versenkt es irgendwo und haut wieder ab.«
»Wer?«
»Es muss jemand sein, dem sehr daran gelegen war, dass Daniel nicht in Israel verschwunden ist. Für wen hätten die beiden gelogen?«
Birte zog die Stirn kraus. »Für sich selbst natürlich. Vielleicht hat einer von ihnen Daniel um die Ecke gebracht. Oder sie wissen, wer es getan hat, und wurden zu der Aussage gezwungen oder dafür bezahlt. Es gibt auch noch eine dritte Möglichkeit. Ist sie dir schon mal in den Sinn gekommen?«
»Du meinst, dass Daniel lebt?«
»Wäre doch möglich. Erst neulich hat etwas über eine Frau in der Zeitung gestanden, die vierzehn Jahre lang verschwunden und längst für tot erklärt worden war. Zufällig gerät sie in eine Routinekontrolle, fliegt auf, gesteht alles. Nur zu ihrer Familie wollte sie auch jetzt keinen Kontakt.«
»Ich habe davon gehört. Aber ich glaube nicht, dass Daniel untergetaucht ist.«
»Warum nicht? Vielleicht war er schizophren oder verwirrt oder einfach nur ein absoluter Mistkerl?« Birte rührte ihren Latte um. »Meine Cousine hatte mal was mit einem Typen, der für sie die ganz große Liebe war. Er hat ihr sogar einen Heiratsantrag gemacht, richtig klassisch mit Ring und Kniefall und so. Zwei Tage später gehen sie in die Panorama Bar, und da wird er von einem Miststück angetanzt, dass die Luft brennt. Sie ist an dem Abend allein nach Hause gefahren, er hat sich nie wieder gemeldet. Oder diese Fälle, dass Männer über Jahre hinweg zwei Familien haben, und keine weiß von der anderen … Was steht da noch mal?«
Marie-Luise studierte die wenigen Seiten. »Ich zitiere: überraschten wir Daniel dabei, wie er mitten in der Nacht und in großer Hast seinen Rucksack packte. Auf unsere Frage, wohin er gehen wolle, sagte er: ›Die ganze Sache wächst mir über den Kopf. Ich muss hier weg.‹ Er erklärte uns, dass er schon längere Zeit mit Marianne Wegener zusammen sei, einer der volunteers im Kibbuz, und dass Rebecca sich fälschlicherweise eingebildet habe, er sei der Vater ihres Kindes. Außerdem geht es um Geld. Daniel soll Spielschulden gehabt haben.« Sie legte die Blätter ab.
Birte sagte: »Hm.« Mehr nicht.
Ein kleiner Schubverband kroch am Fenster vorbei.
»Ist es denn sicher, dass diese Rachel … also, dass sie tatsächlich Daniels Tochter ist?«
»Ja«, sagte Marie-Luise. »Frau Schöbendorf hat einen Test gemacht, als Rachel bei ihr war.«
»Geht das denn so schnell?«
»Gegen Aufpreis ja. Was so lange dauert, ist meistens die Post. Der Test selbst ist in ein, zwei Stunden erledigt.« Etwas klickte in ihrem Hinterkopf. Zwei Informationen waren gerade eine Verbindung eingegangen. Nur welche?
»Scheißkerle.« Die Studentin holte ein Päckchen Tabak heraus und sah sich suchend um. »Rauchste noch?«
»Ab und zu.«
Sie packten ihre Sachen zusammen, nahmen die Getränke mit und gingen vor die Tür, wo ein selten geleerter Standaschenbecher wartete.
Birte drehte, reichte Marie-Luise die fertige Zigarette und gab ihr Feuer.
»Wo genau ist jetzt euer Problem?«
»Unser Problem«, Marie-Luise nahm einen Zug – wie sie das Rauchen vermisste, »ist Rachel. Ihre Mutter hat sich wegen Daniel umgebracht. Kurz nach der Geburt. Dieser angebliche oder tatsächliche Verrat von ihm hat sie zerbrochen. Ihre Tochter will die Wahrheit wissen. Sie glaubt, Daniel sei in Israel etwas passiert. Ganz von der Hand weisen kann ich das nicht, denn seine Flucht wirkt überstürzt und ist durch nichts als ein Gedächtnisprotokoll und eine Kritzelei auf einem Leihschein belegt.«
»Und?«
»Wir haben die Sorge, dass sie vielleicht die Nerven verloren hat.«
»Wir, dass sind Herr Vernau und du?«
»Herr Vernau«, wiederholte Marie-Luise amüsiert. »Mach mal dein Praktikum bei ihm, dann vergeht dir der Respekt.«
»Ich dachte, ihr beide …«
»Nein. Wir haben uns getrennt. Beruflich, es war ja eigentlich immer rein beruflich.«
Birte war anzusehen, dass die Frage nach dem Privaten sie deutlich mehr interessierte. Aber darauf erhielt sie keine Antwort.
»Warum machst du das alles? Doch nicht wegen dieser Rachel, oder?«
Marie-Luise trat die Zigarette aus. »Ich muss los.«
Birte nickte. »Rein beruflich, ja …«
Sie grinste, aber Marie-Luise hatte keine Zeit, sie über ihren Irrtum aufzuklären.
»Danke dir. Wir sehen uns.«
Keine zehn Schritte weiter hatte sie schon ihr Handy in der Hand. Vernau meldete sich nicht. Eine Verbindung ins Grand Zion war ihr zu teuer, ein Fax würde reichen. Und ein Gespräch mit Vaasenburg, der endlich begreifen musste, dass der Schlüssel zu Rudolph Scholls Tod in der Vergangenheit lag.
Warum machst du das alles?
Für Margit. Für Rachel.
Ein Anwalt darf seine Mandanten nicht mögen. Und ehemalige Kanzleipartner erst recht nicht.
Marie-Luise sah, wie Birte in ihren Fiat stieg und davonbrauste. Was war es, das sie vorhin so beunruhigt hatte? Der Vaterschaftstest und die Frage, wie lange so etwas dauerte. Margit Schöbendorf wird Rachel das Ergebnis doch gesagt haben, dachte sie und schloss ihren Wagen auf. Die Kopien verfrachtete sie auf den Beifahrersitz. Die Lust nach einer zweiten Zigarette stieg ins Unermessliche. Im Handschuhfach lag eine, in Zellophan eingewickelt, zusammen mit einem Streichholzbriefchen. Sie setzte sich auf den Fahrersitz, ließ die Tür offen, rauchte und spielte die verschiedenen Möglichkeiten durch.
Hatten die beiden sich am Flughafen getroffen? Eher unwahrscheinlich. Raus nach Schönefeld hätte Margit es auf keinen Fall mehr geschafft. Wahrscheinlich hatten sie telefoniert. Warum zum Teufel ging ihr dieser Test nicht mehr aus dem Kopf? Vielleicht stimmte er ja gar nicht, und Margit hatte gelogen, um Rachel nicht zu verlieren. Dann war Daniel nicht der Vater, sondern … Wer?
Vier Männer kamen in Frage. Der Gedanke, dass Vernau auf seine späten Tage rein theoretisch doch noch im Spiel sein könnte, amüsierte sie. Es gab niemanden, der für die Vaterrolle weniger geeignet war als er.
Vaasenburg müsste das Labor ausfindig machen und das Ergebnis überprüfen. Sie griff zu ihrem Handy und wählte die Nummer des Hauptkommissars, hatte aber nur den Anrufbeantworter am Apparat.
»Kalli? Ich muss mit dir reden. Dringend. Es geht um einen Vaterschaftstest.« Fast hätte sie gelacht, so absurd klang dieser Satz. »Melde dich. Ich glaube, ich bin da auf was gestoßen, das im Fall Rudolph Scholl sehr wichtig sein könnte.«