24

Maya Gutman lag in ihrem Bett. Zart und zerbrechlich wirkte sie, als ob ein Windhauch sie aus dem geöffneten Fenster forttragen könnte. Ihr Haar war schlohweiß und lichtete sich an manchen Stellen, sodass die rosafarbene Kopfhaut durchschimmerte. Ein kleines, blasses Gesicht, die pergamentartige Haut durchzogen von knittrigen Falten und übersät von Pigmentflecken. Blaue Adern traten auf den Handrücken hervor. Sie schlief, aber für einen Moment glaubte ich, sie wäre gestorben, so reglos lag sie da.

»Geveret Gutman?«, flüsterte Rachel.

Ratlos sah sie mich an. Sollten wir die alte Frau wecken oder unverrichteter Dinge wieder abziehen?

Das Zimmer war hübsch, wenn auch unpersönlich. Ich nahm an, dass Frau Gutman ihre Habe komplett in dem riesigen Wandschrank verstauen konnte. Kein Nachttisch mit Fotos, kein Bademantel an der Tür. Noch nicht einmal Pantoffeln vorm Bett. Vermutlich war sie schon seit einiger Zeit nicht mehr aufgestanden.

Neben dem Fenster befand sich eine Glastür, die auf einen kleinen Balkon führte. An der Wand links ein Tisch mit zwei Stühlen. Ich holte sie und stellte sie vor dem Bett ab. Rachel setzte sich, ich nahm neben ihr Platz.

»Frau Gutman?«

Die Hände der alten Frau zuckten unruhig über die Bettdecke. Rachel beugte sich vor und berührte sie sanft. Maya Gutman blinzelte und öffnete die Augen. Sie waren milchig weiß.

Rachel sah mich erschrocken an.

»Misses Gutman?« Ich versuchte es auf Englisch. »My name is Joachim Vernau. I am here with Rachel Cohen.«

Maya Gutman räusperte sich. Es ging über in einen ordentlichen Husten. In einen wahren Hustenanfall.

Ich rannte hinaus auf den Flur. Am Ende stand ein Rollwagen mit Wasserflaschen und Gläsern. Als ich zurückkam, saß Rachel auf der Bettkante und klopfte der alten Dame sanft auf den Rücken. Ich goss Wasser in ein Glas und reichte es ihr. Langsam, mit jedem Schluck, besserte sich der Husten und hörte schließlich auf.

»Toda.« Mayas Stimme klang hoch und zittrig. »Danke. Vernau, ein ungewöhnlicher Name. Woher kommt er?«

Jetzt war ich an der Reihe, überrascht zu sein.

»Aus Süddeutschland, glaube ich.« Vorsichtig nahm ich ihr das Glas ab und stellte es mit der Flasche auf den Tisch. Dann zog ich meinen Stuhl näher zu ihr heran und setzte mich. »Mein Urgroßvater kam aus der Nähe von Darmstadt.«

Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war irritierend. Diese weißen Augen konnten nichts sehen, und dennoch waren sie auf mich gerichtet, und ich fühlte mich von ihnen beobachtet.

»Darmstadt, das ist in der Nähe von Heidelberg, nicht wahr? Mein Vater hat dort studiert. Er war Ingenieur. Das Schloss, es steht doch noch? Ihr habt es nicht abgerissen?«

»Nein«, sagte ich hastig.

»Gut, gut.« Sie tätschelte Rachels Hand. »Wäre auch schade darum gewesen. Nun sagt mir, was euch zu mir führt. Oder … kennen wir uns? Sind wir uns schon einmal begegnet?«

»Nein«, beruhigte ich sie und redete schnell weiter, bevor Rachel den Mund öffnen und ihre Version der Ereignisse zum Besten geben konnte. »Ich bin Anwalt. Diese junge Frau hier ist zu mir gekommen, weil sie Hilfe in einer Familienangelegenheit braucht.«

Die junge Frau runzelte ärgerlich die Stirn, hielt aber weiter den Mund.

»Frau Gutman, haben Sie vor fast dreißig Jahren auf der Mutter-Kind-Station im Hadassah Medical Center gearbeitet?«

Die Antwort kam zögernd. »Ja?«

»Erinnern Sie sich noch an eine Frau namens Rebecca Cohen? Sie hat bei Ihnen entbunden.«

»Junger Mann, ich bin alt. Wissen Sie eigentlich, wie alt? Vierundneunzig.« Sie legte den Kopf mit einem kleinen Ächzen, als hätte die kurze Konversation sie bereits ermüdet, zurück auf das Kissen. »Ich hatte so viele Mütter auf meiner Station, ich kann mich nicht an jede einzelne erinnern. Dabei ist noch alles in Ordnung hier oben.« Sie tippte sich mit ihrem dünnen Zeigefinger an die Schläfe. »Nur die Augen machen nicht mehr mit. Der Arzt sagt, eine Operation ist zu gefährlich. In meinem Alter, lächerlich. Vierundneunzig. Ist das ein Alter, junger Mann?«

»Nein«, sagte ich mit einem Lächeln. Wenn sie es schon nicht sah – hören konnte sie es.

»Rebecca Cohen, ist das Ihre Mutter, Kleines? Sie heißen doch auch so, nicht wahr?«

Rachel öffnete den Mund, und wieder ging ich ihr dazwischen.

»Sie hat sich umgebracht, auf Ihrer Station. Am Tag der Geburt ihrer Tochter. Es muss eine Tragödie gewesen sein. Ich weiß, als Krankenschwester, noch dazu auf einer Entbindungsstation, wird man regelmäßig mit Tragödien konfrontiert. Mit dem Schicksal. Mit unvorhergesehenen Komplikationen. Doch der Fall Rebecca Cohen liegt anders. Sie bringt ein gesundes Mädchen zur Welt. Alles ist gut. Sie stillt das Kind. Sie wickelt es vielleicht sogar. Sie übergibt es einer Schwester. Alles normal. Aber dann schreibt sie einen Abschiedsbrief und schluckt Schlaftabletten. Auf Ihrer Station.«

Rachel hatte mehrfach versucht, mich zu unterbrechen.

»Joe!«, sagte sie scharf, als ich eine kurze Pause machte. »Wir sind nicht hier, um Frau Gutman Vorwürfe zu machen.«

Natürlich nicht, stupid. Aber wir wollen sie doch an ihre Verantwortung erinnern, oder?

»Der Selbstmord.« Die Stimme der alten Frau klang leise und kraftlos. »Oh du lieber G’tt, ja. Ich erinnere mich, und jetzt bist du hier, Rachel. Bist du genauso hübsch wie sie?«

»Ich … ich weiß es nicht.«

»Ja«, antwortete ich an Rachels Stelle. »Es ist, als ob ich ihre Mutter vor mir sähe, jedes Mal.«

Maya Gutman wandte den Kopf zu mir um. Wieder sah sie mich mit ihren blicklosen Augen an.

»Dann haben Sie sie gekannt?«

»Nicht lange. Nicht gut. Aber gut genug, um sie nicht zu vergessen und ihrer Tochter zu helfen. Frau Gutman, was ist in jener Nacht passiert?«

Ich spürte Rachels Ungeduld. Es fühlte sich an, als ob die Luft zwischen uns elektrisch geladen wäre. Am liebsten hätte sie die alte Frau mit Fragen bestürmt, doch das durfte ich nicht zulassen. Die Erinnerung ist wie ein offener Sack Federn. Man muss sich ihr behutsam nähern, sonst wirbelt alles durcheinander und fliegt auf und davon.

»Sie war … müde.«

Ich beugte mich vor, um die fast geflüsterten Worte besser zu verstehen.

»Es war eine sehr anstrengende Geburt. Du warst ein echter Racker.« Mayas Hände tasteten nach Rachel und streichelten sie. »Aber stramm! Und stark! Und hübsch! Ich habe mich nach deiner Geburt zwei Wochen um dich gekümmert. So lange, bis dein Vater in der Lage war, dich aufzunehmen. Wie war noch mal sein Name?«

»Uri«, flüsterte Rachel. »Uri Cohen.«

»Er hat sehr gelitten unter dem Verlust. Wirklich sehr. Es war, als ob dieser starke Mann daran zerbrochen wäre. Wie geht es ihm heute?«

»Er hat wieder geheiratet. Wir sind kurz danach nach Jerusalem gezogen. Ich habe einen Halbbruder. Joel.«

»Yerushalayim.« Maya lächelte. »Viele finden dort ihren Frieden. Manche auch nicht. Die Zeiten, die Zeiten … Als ich jung war, habe ich dort immer Apfelstrudel gegessen.«

»Im österreichischen Hospiz. Es ist eine Oase des Friedens, nicht wahr?« Rachel streichelte die Hand der alten Frau. »Meine Eltern wohnen im jüdischen Viertel, am Rabinovich Square.«

»Den kenne ich nicht.«

»Er heißt auch erst seit ein paar Jahren so. Es gab ziemlich heftige Diskussionen deshalb. In der Nähe vom Jewish Quarter Café. Um die Ecke von der Klagemauer.«

Die alte Dame nickte ratlos. Sie hatte den Faden verloren. Von draußen drang das Geräusch des Straßenverkehrs durch die geöffneten Fenster. Der Vorhang bauschte sich leicht. Ich wartete, aber Maya Gutman sah schon wieder so aus, als ob sie eingeschlafen wäre.

»Ich muss leider noch einmal auf Rebeccas Suizid zurückkommen. Hat es irgendwelche Vorzeichen gegeben?« Mit einem ärgerlichen Seitenblick auf Rachel versuchte ich, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. »War sie niedergedrückt? Unglücklich? Hatte sie so etwas wie diese post … diese … Wie heißt das noch?«

»Postnatale Depressionen«, ergänzte Rachel eisig.

»So was halt.«

Maya blinzelte. Sie begann wieder Rachels Hand zu streicheln.

»Nein. Deine Mutter war erschöpft, aber glücklich. So schien es zumindest, als sie dich im Arm hielt. Sie war voller Liebe zu dir, bitte glaub mir das. Umso mehr waren wir erschüttert, als wir am nächsten Morgen in ihr Zimmer kamen. Sie hatte darum gebeten, nicht gestört zu werden. Meine Schicht begann um fünf Uhr morgens. Ich dachte, gib ihr noch ein wenig Zeit. Um sechs klopfte ich und trat ein. Da war sie schon mehrere Stunden tot.«

»Ich weiß.« Rachel nickte. »Das haben Sie und Ihre Kolleginnen übereinstimmend zu Protokoll gegeben. Ich habe den Bericht gelesen. Da … darin stand auch etwas von einem Brief.«

Mayas Hand streichelte weiter, doch sie sagte nichts.

»Ein Abschiedsbrief. Die Polizei hat ihn bei ihr gefunden. Sie haben ihn weitergeleitet. An wen?«

Stille.

»Maya? Erinnern Sie sich an den Brief?«

Ein Seufzer entrang sich der mageren Brust. »Der Brief, ja …«

»An wen war er gerichtet? Was haben Sie damit gemacht?«

Die weißen Augen schlossen sich. Eine Träne lief über die zerfurchte Wange und fiel aufs Kissen.

Das war ganz schlechtes Timing. Offenbar hatte Maya beschlossen, das Gespräch zu beenden.

»Frau Gutman?« Vorsichtig berührte ich ihren Arm. Nur Haut und Knochen. »Hören Sie mich? Sollen wir morgen noch mal wiederkommen?«

Ich hörte, wie Rachel nach Luft schnappte. Warum zum Teufel hatte sie es so eilig? So viele Jahre lang war es schließlich auch ohne den großen Unbekannten gegangen. Wer sagte eigentlich, dass es tatsächlich einer von uns war? Vielleicht hatte Rebecca alle hinters Licht geführt, und es war ein Kibbuznik oder ein sturzbesoffener Ire oder eine Zufallsbekanntschaft aus einer Disco in Haifa. Ich wollte, dass Rachel zur Polizei ging und ihre Aussage machte – und endlich mit dieser erbarmungslosen Jagd aufhörte.

»Maya, bitte.« Nun berührte Rachel wieder die alten Hände. »Es ist unsagbar wichtig für mich. Ich glaube, dieser Brief war an meinen richtigen Vater gerichtet.«

»Oh, mein liebes Kind … natürlich, natürlich! Und ich habe ihn auch übergeben.«

»Ja? An wen denn?«

Grenzenloses Erstaunen breitete sich auf dem Gesicht der alten Dame aus. »Na an ihn. An Uri Cohen.«