41
Der erste Bus, der schließlich kam, nachdem ich eine halbe Stunde lang dem Verdursten entgegengedörrt hatte, war klimatisiert und fuhr nach Haifa. Wir brauchten eineinhalb Stunden, bis wir die Ausläufer des Karmelgebirges und die ersten grünen Vorstädte erreichten. Vom Meer sah ich nichts. Am Busbahnhof HaMifratz kaufte ich mir eine Flasche Wasser, ein Sandwich und ein billiges Smartphone plus SIM-Karte. Damit setzte ich mich raus in die Sonne, weil mich die Fahrt auf die Temperatur einer Amphibie heruntergekühlt hatte, und suchte die Nummer von Rachels Firma heraus. Es meldete sich die atemlos fröhliche Stimme von Haylee. Ich erkundigte mich, wo Rachel sei, und hatte sie zu meiner Überraschung keine zehn Sekunden später am Apparat.
»Wo bist du?«, war ihre erste Frage.
Gerade keuchte ein anfahrender Bus vor mir geschätzte fünfzig Tonnen Feinstaub aus.
»In Haifa«, hustete ich.
»Die Nachrichten laufen rauf und runter. In Jechida ist ein Mord passiert. Was machst du in Haifa? Ich dachte, du wärst längst auf dem Weg nach Berlin …«
Hektisch stand ich auf und ging zurück in das Gebäude. Moderne Boutiquen, Smoothie-Bars, Telefonanbieter. Ein großer Fernsehmonitor im Schaufenster eines Elektrogeschäfts: i24news.tv. Kein Ton, doch die Bilder sprachen für sich. Das Absperrband, die Ruine des Gemeinschaftshauses, der Versuch, mit dem Teleobjektiv näher an Merits Haus heranzuzoomen. Dann Schwartzmann. Er bewegte stumm die Lippen.
»Bist du noch dran?«, fragte Rachel.
»Ich war dort und habe sie gefunden. Es ist Merit. Unsere Zeugin. Sie war die andere Frau.«
»Oh Himmel. Das tut mir leid. Was ist passiert?«
Es klang ehrlich besorgt. Aber ich traute ihr nicht mehr.
»Ich erzähle es dir, wenn wir uns sehen.«
»Ja, natürlich«, sagte sie hastig.
Wir verabredeten uns um sechs in einem Lokal an der Ben Gurion, Ecke Dizengoff Street.
Am späten Nachmittag kam ich in Tel Aviv an. Unterwegs hatte ich versucht zu schlafen, doch Merit weckte mich immer wieder. Ihr Gesicht, der hingeworfene Körper im trockenen Gras, das Summen der Fliegen, der Geruch nach Blut und Urin. Ich müsste mit dem Sandstrahler durch mein Gedächtnis gehen, um das herauszukriegen. Vielleicht würde es besser werden, eines Tages, wenn ich wusste, wer ihr das angetan hatte.
Rachel war bereits da. Es war ein netter, kleiner Laden, den sie ausgesucht hatte. Ich mag die Dizengoff. Sie ist nicht so teuer wie der Boulevard Rothschild, weniger Ketten, dafür etliche Geschäfte, in denen der Inhaber noch selbst hinterm Tresen steht. Sie stand auf, nahm mich flüchtig zur Begrüßung in den Arm und musterte mich besorgt.
»Du siehst furchtbar aus.«
»So rieche ich auch.«
Ich sehnte mich nach meinem dunklen, kalten Hotelzimmer und dem Moment, in dem ich mir die Decke über den Kopf ziehen konnte.
Wir gaben bei einer etwas unbeholfenen Kellnerin unsere Bestellung auf.
»Two glasses of water?«, fragte sie erstaunt.
Wir hatten beide keinen Hunger. Rachel erbarmte sich schließlich und bestellte einen Büffelmozzarella mit Tomate.
»Himmel, Joe. In was bist du da bloß reingeraten?«
In was ich hineingeraten war?
Ich erzählte ihr nicht alles. Bloß das, was Merit in Jechida zugestoßen war und wie ich sie gefunden hatte.
Rachel hörte stumm zu und nippte ab und zu an ihrem Wasser. Ihr Entsetzen schien echt zu sein. Aber vor mir saß eine Frau, die nicht nur tricksen konnte. Sie hatte darüber hinaus eine Verbindung zu den beiden Mordopfern und zu Plog. Und zu Uri, der in seinem düsteren Schweigen für mich immer weniger greifbar wurde.
Sie wischte einen Tropfen vom Glas, bevor er die Tischplatte erreichen konnte. »Ich sehe sie noch vor mir. Jemand, mit dem es das Leben nicht gut gemeint hat. Der um jeden Zipfel Glück kämpfen muss. Was genau hatte sie mit Daniels Verschwinden zu tun?«
Ich erklärte es ihr, so gut es ging. »Vielleicht war sie damals Teil eines Plans, mit dem Daniels Untertauchen gedeckt werden sollte. Wahrscheinlich hat sie sich, jung und naiv, wie sie war, gar nicht mal viel dabei gedacht. Sie wollte bloß deiner Mutter eins auswischen. Es hat eben nie jemand nachgefragt, ob sich die angebliche Flucht der beiden auch tatsächlich so abgespielt hat. Auf einmal bist du nach so langer Zeit aufgetaucht, und Merit wurde klar, dass sie unversehens im Zentrum einer Mordermittlung stehen könnte. Nur wenn sie bei ihrer Aussage bliebe, würde das ganze Kartenhaus nicht zusammenfallen.«
»Was für ein Kartenhaus?«, fragte Rachel.
»Das wüsste ich auch gerne.«
Sie lehnte sich zurück. Über uns wölbte sich eine Markise in den italienischen Nationalfarben Rot, Grün und Weiß. Menschen eilten vorbei, sie trugen volle Einkaufstaschen und bunt bedruckte Tüten, in denen sie ihre Schätze nach Hause schleppten. Die junge Kellnerin kam und brachte zweimal Besteck und den Mozzarella. Er stand in unserer Mitte, keiner rührte ihn an.
»Uri kann heute nicht bei Merit gewesen sein«, sagte sie schließlich, nahm ein Basilikumblatt und legte es auf den Tellerrand. »Ich habe mich noch persönlich von ihm verabschiedet, bevor ich nach Tel Aviv gefahren bin.«
»Hat er ein Auto?«
»Nein. Man braucht keins, wenn man in der Altstadt von Jerusalem lebt.«
»Und … Daliah? Hat sie eins?«
Rachels »Ja« klang wie eine Frage. Eine misstrauische, abwartende Frage, was als Nächstes kommen würde.
»Wo war sie heute?«
»Daliah? Was hat sie denn mit all dem zu tun?«
Es gab so viele Motive. Die meisten Leute glauben, es müsse einen direkten Zusammenhang zwischen Täter und Opfer geben. Aber das stimmt nicht. Es gibt auch Menschen, die nicht für sich, sondern für andere töten. Man hat sie gar nicht auf dem Radar. Die Verbindung zu ihrem Opfer ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Wenn sie geschnappt werden, dann meistens deshalb, weil sie einen Fehler begangen haben. Oder es ist der reine Zufall.
»Sie und Uri waren seit Kindesbeinen einander versprochen. Dann lässt er sie für deine Mutter sitzen. Der Weg zu ihm war für sie erst nach dem Tod der Widersacherin frei.«
Rachel verschränkte die Arme, als ob sie frieren würde. Sie trug ein hübsches Sommerkleid, was mir erst jetzt auffiel. Das, was junge Frauen so ab dreißig Grad im Schatten tragen: Blümchen, tiefer Ausschnitt, Spaghettiträger.
»Dann wäre ihr Hassobjekt doch eher meine Mutter gewesen und nicht Daniel, oder?«, fragte sie.
»Wo ist eigentlich dein Davidstern?«
Ihre Hand fuhr zum Hals, aber da war nichts.
»Ich muss ihn verloren haben.«
»Wo?«
»Keine Ahnung. Warum fragst du?«
Der Verdacht hatte sich bisher unauffällig in einer Ecke herumgedrückt. Jetzt kam er heraus und setzte sich zu uns an den Tisch. Es war wie damals in der Pestalozzistraße, und genau so, mit weit aufgerissenen Augen, starrte Rachel mich nun an. Ich wich ihrem Blick aus.
»Sag es mir«, flüsterte sie. »Wo ist er?«
»Sie haben ihn in Merits Haus gefunden.«
»Meinen … meinen Davidstern? Wie soll er denn da hingekommen sein? Ich war doch nur einmal da! Letzte Woche, bevor ich nach Berlin … in Berlin. Ich muss ihn da schon verloren haben.«
»Bist du sicher? Wie kommt er dann in Merits Haus?«
Sie schüttelte genauso wütend wie verzweifelt den Kopf. »Ich weiß es nicht. Kennst du das denn nicht? Du hast etwas erst vor ein paar Tagen noch gesehen und bist dir sicher, es wird irgendwo wieder auftauchen. So ist es mir mit dem Stern gegangen. Ich habe ihn vermisst. Aber er hätte auch im Büro oder bei Rick sein können.«
»Wer ist Rick?«
»Unwichtig«, sagte sie so schnell, dass es durchaus wichtig sein konnte. Allerdings nicht jetzt.
»Ich habe ihn in Berlin noch an dir gesehen«, sagte ich. »Demnach kannst du ihn gar nicht in Deutschland verloren haben. Sag mir, wie er zu Merit gekommen ist.«
»Du denkst doch nicht allen Ernstes, ich fahre raus nach Jechida und kille diese Frau? Warum sollte ich?«
»Vielleicht willst auch du jemanden schützen?«
»Wen denn?«
Ich brauchte einen Verbündeten. Ich musste mit jemandem reden, meine Gedanken ordnen, die Dinge auf den Tisch legen und wie ein Puzzle hin und her schieben, bis es passte. Zurückweisungen. Verschmähte Liebe. Die ganze Geschichte erinnerte mich an das, was von Wollknäueln übrig bleibt, wenn sie Katzen in die Krallen fallen. Ich musste ordnen, sortieren. Blau für Daniel und Rebecca. Grün für Uri und Daliah. Rot für Scholl, Plog und mich. Seit meinem Gespräch mit Frau Kirsch war ein weiteres wirres Knäuel dazugekommen: Daliah und Rebecca.
»Also noch mal. Wo ist Uri?«
Rachel antwortete nicht. Mit zusammengepressten Lippen saß sie da und hatte offenbar beschlossen, kein Wort mehr mit mir zu reden.
»Und Daliah?«
Keine Antwort.
»Ich müsste noch einmal einen Blick in den Untersuchungsbericht werfen. Den von Rebeccas Suizid. Es ist nur ein Detail, aber es könnte wichtig sein.«
Sie wandte sich von mir ab, als ob sie nun langsam genug von meiner Person hätte. Die junge Kellnerin kam zu uns an den Tisch und fragte, ob etwas mit dem Mozzarella nicht stimme. Ich wiegelte sie freundlich ab und legte einen Fünfzig-Schekel-Schein auf den Tisch.
»Fax ihn mir bitte ins Hotel.«
»Du stellst meine ganze Familie unter Generalverdacht.«
»Nein. Ich bin nur dem, was euch erwartet, vielleicht einen halben Tag voraus.«
»Und das wäre?«
»Such Uri. Und lass mich mit Daliah reden.«
»Sonst?«
Ich stand auf. »Ihr wisst, wo ihr mich findet. Ich will Uris Alibi. Bis auf die Sekunde genau. Wenn er keines hat, dann gnade ihm Gott. Und dir auch, wenn du mich belogen hast.«
Ihre Augen wurden schmal. Sie hatte die Angewohnheit, die Nasenflügel ganz leicht zu blähen, wenn sie wütend wurde. Und das war sie.
»Frag Daliah, was sie an Rebeccas Todestag in der Klinik zu suchen hatte.«
»Was …?«
»Frag sie einfach.«
Damit stand ich auf und suchte mir einen Weg an den Tischen vorbei zur Straße. Ich hörte noch, wie Rachel ihren Stuhl hastig zurückschob, aber sie folgte mir nicht. Vielleicht ging sie auch in eine andere Richtung. Ich wünschte, dass es mir egal wäre, wohin sie jetzt verschwand und bei wem sie Hilfe suchte. Ich wünschte, ich würde mir nicht vorkommen wie Vernau, der Depp, der sich ohne Not in die Beziehungskisten eines halben Kibbuz hatte hineinziehen lassen. Ich wünschte mir, dass ich nicht so enttäuscht wäre und endlich mal mit dem Hadern aufhören könnte. Dass ich heute nicht nach Jechida gefahren wäre. Dass jemand anders diese grausige Entdeckung gemacht hätte, die mich noch ewig verfolgen würde. Aber die einfachste Lösung war wohl, ganz mit dem Wünschen aufzuhören.
Es ist nicht weit von der Dizengoff zum Strand. Keine zehn Minuten. Doch Tel Aviv verändert völlig sein Gesicht. Die enge Bebauung der Stadt wird abgelöst von modernen Hochhäusern und breiten, dicht befahrenen Straßen. Die Menschen, die mir um diese Uhrzeit entgegenkamen, trugen Strandmatten und Badetaschen, waren braun gebrannt und hatten einen Tag am Meer hinter sich. Auf der Promenade war Rushhour. Surfer, Radfahrer, Jogger, Großfamilien, Hunde, alle waren unterwegs. Die Restaurants bereiteten sich auf den Abendansturm vor, die Cafés und Bars am Strand schlossen gerade. Im Meer tobten sich Surfer und Stand-up-Paddler aus. Die Sonne stand tief, und die Silhouetten der Menschen hoben sich wie tanzende Scherenschnitte vom Horizont ab. Ich ging hinunter an den breiten Strand und setzte mich auf einen verlassenen Liegestuhl.
Marie-Luise meldete sich sofort.
»Es ist Merit«, sagte ich. »Das heißt, ich sollte besser sagen, sie war es. Marianne Wegener war Merit Mansur. Aber wir können sie nicht mehr fragen, ob sie Plogs Aussage bestätigt. Sie wurde heute umgebracht.«
In Marie-Luises Schweigen hinein fasste ich die Ereignisse des Tages so gut es ging zusammen. Stellenweise klang es, als ob ich ein Polizeiprotokoll wiedergeben würde. Ich hörte mich reden und konnte nicht fassen, dass ich tatsächlich Sätze wie »Ich fand sie auf der Seite liegend mit einer letalen Kopfverletzung, vermutlich Schädelfraktur« von mir gab. Es war meine Art, die Sache nicht an mich heranzulassen. Die Trauer würde kommen, aber es wäre eine andere als die um Rebecca.
»Um Gottes willen. Komm nach Hause, Vernau. Sofort.«
»Morgen. Ich muss hier noch einigen Kram erledigen. Sie haben mein Handy und meinen Wagen. Außerdem will ich noch mal mit Uri reden.«
Und mit Daliah. Ich wollte wissen, ob sie es gewesen war, die einer jungen Mutter auf der Entbindungsstation verschreibungspflichtige Schlaftabletten in die Hand gedrückt hatte. Es war der letzte Gefallen, den ich Rachel tun würde.
»Tu das nicht. Halte dich ab jetzt da raus, ja? Rede mit niemandem mehr. Nimm einfach den nächsten Flieger und komm zurück nach Berlin.«
»Was ist los?«, fragte ich alarmiert.
»Margit Schöbendorf wurde festgenommen. Es ist absurd, aber die Beweismittellage ist so, dass sie wahrscheinlich dem Haftrichter vorgeführt wird.«
Es dauerte einen Moment, bis meine grauen Zellen eine Verbindung hergestellt hatten und ich wusste, von wem sie sprach.
»Die Mutter von Daniel? Ist das dein Ernst? Wie alt ist sie denn jetzt?«
»Über siebzig, nehme ich an. Sie hat, nachdem Rachel bei ihr war, ein Labor aufgesucht. Es gibt ja eine ganze Menge davon, aber dieses eine bietet gegen einen horrenden Aufpreis das Ergebnis von Vaterschaftstests schon in zwei bis drei Stunden an. Es gibt nur ein einziges Labor in ganz Berlin, das so etwas macht. Rate mal, wo.«
»Woher soll ich das wissen?«
»In der Schlüterstraße. Frau Schöbendorf hat dort gewartet. Das Ergebnis hat sie vergangenen Freitag kurz vor sechs Uhr abends erhalten.«
Die Schlüterstraße war keine fünf Minuten von Scholls Antiquariat entfernt. Ich wusste, was das hieß, und mir sträubten sich die Nackenhaare.
»Margit Schöbendorf hätte also ohne Probleme nach dem Schabbatt-Gottesdienst bei Scholl auftauchen können. Sie hat gerade den Beweis in der Hand, dass Rachel ihre Enkelin ist. Sie weiß, dass man sie nach Strich und Faden belogen hat. Sie will Scholl zur Rede stellen. Seine Adresse ist ihr bekannt, sie hat nach Daniels Verschwinden mehrfach versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Dabei könnte es passiert sein.«
»Das ist doch lächerlich. Hat sie etwa auch die Bremsen an Plogs Wagen manipuliert?«
Eine Frau über siebzig, unterwegs als Rächerin ihres Sohnes, das wäre ja vielleicht noch glaubhaft. Scholls Sturz vom Balkon musste kein Mord, er konnte auch das tödliche Ergebnis eines Streits sein. Bei Plog sah die Sache schon anders aus. Das war perfide und durchdacht gewesen, vor allem aber: Es setzte Kenntnisse voraus, deren sich nicht viele ältere Damen rühmen konnten.
»Ihr Mann hatte eine Autowerkstatt.«
»Eine Autowerkstatt? Seit wann?«, fragte ich. Das konnte alles nur noch ein schlechter Witz sein.
»Seit den sechziger Jahren. Sie hat früher oft mitgeholfen, das haben einige Nachbarn nach der Festnahme bestätigt. Ich weiß, dass sich das alles ziemlich heftig anhört, aber so ist es.«
»Und … die Verbindung zu Merit? Was ist damit? Hat sie etwa auch noch einen Killer in Israel beauftragt?«
»Sie war selbst da.«
»Was?«
»Nach dem Tod ihres Mannes war sie in Israel. Ich habe sie nur kurz sprechen können und muss auch gleich wieder rein. Sie hat Uri in Tel Aviv besucht und wollte von ihm Näheres über die letzten Wochen im Leben ihres Sohnes erfahren.«
»Uri.«
Ich wusste nicht, was mir mehr die Beine wegzog: dass plötzlich jemand im Fokus der Ermittlungen stand, den ich so gar nicht auf dem Schirm gehabt hatte, oder dass es ausgerechnet Daniels Mutter war.
»Margit Schöbendorf und Uri haben sich gekannt. Nur … wo sind die gemeinsamen Interessen?«
»Vielleicht jagen sie alle, die Schuld an Rebeccas Tod haben. Deshalb bitte ich dich ja auch zurückzukommen. Sie werden die Schuldigen finden, das werden sie. Ganz bestimmt. Du warst damals auch dabei, vergiss das nicht.«
»Hast du etwa Angst um mich?«
»Nein. Ich scheue lediglich den Papierkram. Du Idiot! Natürlich habe ich Angst. Jetzt erst recht, nachdem du mir erzählt hast, wie Merit ums Leben gekommen ist.«
»Ich glaube das alles nicht.«
»Deine Sache. Zweifle soviel du willst, aber tu es bitte hier. Wann kommst du?«
»Ich denke, dass morgen der Wagen freigegeben wird. Ich nehme die nächste Maschine, irgendwann am Nachmittag. Dann bin ich abends in Berlin. Ist das okay?«
»Kannst du nicht gleich abhauen? So eine Beschlagnahme ist doch ein Notfall, die Autovermieter wissen bestimmt, was man in solchen Fällen macht.«
»Bis morgen.«
Margit Schöbendorf. Wer weiß, vielleicht hatte sie sich mit Rachel verabredet, und beide wollten gemeinsam zu Scholl. Sie sieht mich ins Haus gehen, nutzt die Gunst der Stunde und schleicht mir durch die offene Tür nach. Wartet in Scholls Wohnung. Es hatte einen Moment gegeben, in dem ich geglaubt hatte, außer uns wäre noch jemand Drittes anwesend. Genau. Irgendwo war eine Tür zugeschlagen. Sie wartet, bis ich gegangen bin. Dann stellt sie Scholl zur Rede. Die beiden gehen auf den Balkon. Warum auch immer, vielleicht hat sie seine Geranien bewundert – hatte er überhaupt Geranien? Egal. Sie wird gefragt haben, warum er damals gelogen hat. Daniel, ihr Sohn, hätte doch niemals die Liebe seines Lebens alleingelassen. Daniel ist gar nicht nach Griechenland. Er ist in Israel geblieben. Gib es zu. Sag die Wahrheit. Was habt ihr meinem Sohn angetan?
Und Scholl? Was hatte er wohl darauf gesagt? War es so schlimm, dass sie die Beherrschung verloren und ihn über die Brüstung gestoßen hatte? Wenn ich Marie-Luises hastige Sätze richtig verstanden hatte, war sie bei der Vernehmung von Margit Schöbendorf als Rechtsbeistand anwesend. Im Moment konnte ich nicht viel mehr tun als warten. Ich überlegte, ob ich Rachel anrufen und ihr von dieser Entwicklung erzählen sollte. Nach dem dritten Klingeln legte ich jedoch auf.
Die Sonne stand tief am Horizont. Ein frischer Wind vom Meer machte die Hitze erträglich. Ich streckte mich auf der Liege aus und gab mich der Illusion hin, Urlaub zu haben. Den Abend in einer der vielen Bars am Strand oder im Florentine einläuten. Spät essen, irgendwo rund um den Carmel Market. Nachts in Old Yafa eine Coverband entdecken, die Rolling Stones oder AC/DC oder ZZ Top im Programm hatte. Mit einer Frau im Arm barfuß durch den warmen Sand laufen. Vergessen, einfach nur vergessen, um mich wieder an die kostbaren Dinge erinnern zu können. Ich schloss die Augen und sah tatsächlich Rebecca vor mir, als hätten wir uns erst gestern voneinander verabschiedet.
Wir stehen am Pool. Der Dreck ist weg, die Fliesen sind zum Teil heruntergeschlagen. Ich werde es nicht mehr miterleben, wenn zum ersten Mal wieder Wasser eingelassen wird. Meine Sachen sind gepackt. Ich nehme den Bus nach Haifa, von dort aus werde ich nach Jerusalem weiterfahren. Sie hat Gummistiefel an und einen Arbeitsoverall, die Haare hat sie unter einem Kopftuch zusammengebunden. Ich sehe sie und will diesen Ort nie mehr verlassen.
Sie nimmt mich in den Arm, ich will sie küssen, doch sie dreht schnell den Kopf weg und lacht unsicher.
»Es tut mir leid«, flüstert sie. »Joe, du bist echt ein wunderbarer Mann. Und du wirst eines Tages sehr, sehr glücklich sein.«
»Versprochen?«, frage ich und hoffe, dass mir die Stimme nicht wegkippt.
Ich will nicht anfangen zu heulen. Nicht vor ihr und schon gar nicht vor den anderen, die unten im Pool stehen und den alten Mörtel aus den Fugen kratzen. Ich sehe ihre Lippen, ihre Augen, eine dunkelbraune Haarsträhne, die das Kopftuch nicht erfasst hat, und mit der der Wind spielt. Ich kann ihren Duft riechen, Kernseife und Rosen, und ich merke, wie sie die Umarmung löst und mich allein lässt. Ich stehe einfach nur da und spüre, wie dieser Moment sich in meine Erinnerung ätzt, als wäre sie eine Milchglasscheibe.
Vielleicht habe ich Rebecca deshalb bis heute nicht vergessen. Weil ich immer noch darauf warte, dass ihr Versprechen endlich wahr wird.