20
Merit hatte in der Küche gesessen und eine zweite Flasche Wein geöffnet. Die war inzwischen auch fast geleert.
Jacob schlief. Eine Weile hatte sie darauf gewartet, ob Vernau noch mal zurückkommen würde. In Filmen geschah so etwas, im richtigen Leben nie. Sie beobachtete ihre Hand, die nach der Flasche griff und das Glas noch einmal füllte. Das letzte. Danach war Schluss.
War es denn wirklich so schlimm, sich zu betrinken? Gab es nicht allen Grund dazu? Schließlich bekam man nicht alle Tage Besuch aus der Vergangenheit. Das warf Fragen auf, mit denen man sich am besten bei einer Flasche Wein beschäftigte. Oder zwei. Oder drei …
Wie er sich umgesehen hatte bei ihr. Der Anwalt aus Berlin, der sogar in Jeans und T-Shirt reicher aussah als jeder andere hier in Jechida, diesem g’ttverlassenen Kaff an der Grenze. Wie bemüht er gewesen war, sich nichts anmerken zu lassen. Das Essen hatte ihm geschmeckt, da war sie sich sicher. Der Wein auch. Aber der Rest … Sie musste nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, was die harten Jahre mit ihr gemacht hatten. Nichts erinnerte mehr an die Marianne von einst, das Mädchen aus Regensburg, diese naive Idealistin. Warum war sie damals noch mal nach Israel gegangen? Hatte sie wirklich geglaubt, die Leute würden sie hier mit offenen Armen empfangen, damit sie ihr schlechtes Gewissen abarbeiten könnte? Diesen Zahn hatten ihr die Kibbuzniks schnell gezogen.
Und erst die volunteers. Sie hatte nie zu dieser Spaß-und-Kreisch-Fraktion gehört. Typen, die mehr schlecht als recht ihre Arbeitsstunden ableisteten und danach bei Bier und Haschisch miteinander abhingen. Die Iren waren am schlimmsten. Nein, die Briten und die Niederländer. Und erst die Frauen. So viel wie in Jechida wurde wohl nirgends in Israel gepoppt. Die Hitze, der Alkohol, die stickigen, dunklen Baracken … Die Iren konnten noch nicht mal gut küssen. Die Briten waren zu betrunken. Sie hatte es mal mit einem Typen aus Amsterdam versucht, wie hatte der noch mal geheißen?
Sie trank einen Schluck Wein und rollte dann das Glas in den Handflächen hin und her. Jon? Jobst? Ach, es war völlig egal. Die richtig guten Typen hatte sie sowieso nie abbekommen. Die, mit denen sie sich alles hätte vorstellen können. Einen gemeinsamen Neuanfang. Ein gemeinsames Leben.
Irgendwann, Jahre nach dieser blöden Sache, hatte sie aufgehört, an Rebecca zu denken. Wahrscheinlich als eine der Letzten in Jechida. Ab da war es ihr besser gegangen. Als Ilan vorsichtig zu fragen anfing, was sie denn davon hielte, zum Judentum zu konvertieren, schien dieses Kapitel ihres Lebens endgültig beendet zu sein. Sie musste sich nicht mehr vergleichen. Sie lebte jetzt ihr eigenes Leben. Sie nahm den neuen Glauben an, heiratete, bekam Kinder, und dann, eines Tages, war es vorbei mit dem Kibbuz. Es war natürlich nicht über Nacht gekommen. Aber doch verhältnismäßig schnell.
Nun saß sie in einer heruntergekommenen Bruchbude, zählte jeden Schekel und wusste längst, dass Ilan in Haifa eine andere hatte.
Sie leerte das Glas.
Regensburg ist auch keine Lösung.
Ihre Eltern waren tot, zu ihren Geschwistern war der Kontakt schon lange eingeschlafen. Freunde in Deutschland hatte sie nicht, wahrscheinlich war sie unfähig, Beziehungen aufzubauen. Sonst säße sie auch nicht jeden Abend allein in der Küche und hätte Angst vor dem Tag, an dem auch noch Jacob gehen würde.
Dann wäre sie ganz allein.
Wenn man es recht bedachte, waren ihre ersten Monate in Jechida gar nicht so schlecht gewesen. Es widerstrebte Merit, von Glück in ihrem Leben zu reden. Es war meistenteils unterdurchschnittlich verlaufen. Aber diese Zeit damals, eigentlich …
Mühsam kam sie auf die Beine und ging hinüber ins Wohnzimmer. Abends klappte sie die Couch aus. Seit Ilan kaum noch nach Hause kam, war es ein gemütlicher Schlafplatz. Auf dem Tisch stand ihr Laptop.
Es bereitete ihr einige Mühe, das Passwort richtig einzutippen. Dann leuchtete der Bildschirm auf, und sie suchte nach der Datei mit dem Titel »Class of 87«. Eine blöde Idee. Kein Schwein hatte ihr geantwortet, als sie vor ein paar Jahren einen nach dem anderen von der Liste angeschrieben hatte. Die Hälfte der Briefe war mit dem Vermerk »Unbekannt verzogen« zurückgekommen. Doch in der ersten Euphorie, die kurz darauf so kläglich erstickt worden war, hatte sie einen Film erstellt. Zusammengeschnitten aus dem Super-Acht-Material, mit dem man damals noch gearbeitet hatte. Die meisten Kibbuzniks hatten ihr dabei geholfen. So waren ansehnliche zehn Minuten zusammengekommen, die sie an ihrem Laptop mit Musik unterlegt hatte.
Es dauerte, bis die Datei geladen war und sich öffnete. Merit stolperte zurück in die Küche und holte sich den letzten Rest Wein. Dann ließ sie sich auf die Couch fallen und betrachtete die ersten Bilder.
Heimkehr der Mähdrescher. Junge Männer und Frauen auf Heuwagen. Dazu die fröhliche Musik. Bashana haba’ah Neishev al hamirpeset.
Da. Da war sie. Lachend und jung, so jung. Ein kräftiges Mädel, so hätte man daheim gesagt. Mit der Nachsicht, mit der man alte Aufnahmen von sich verzeiht, betrachtete sie ihr junges Ebenbild. Ganz hübsch. Fröhlich. Braun gebrannt. Warum hatte sie damals nur so viel Pech gehabt? Sabine zum Beispiel. Neben ihr, die mit der Heugabel. Plump, vierschrötig, breit grinsend. Sabine, deren größte Meisterleistung es gewesen war, jeden Morgen »Im Frühtau zu Berge« zu singen – beim Zähneputzen. Sabine, die einem selbst von fern auf den Senkel ging. Bei den Jungen war sie angekommen. Wahrscheinlich weil sie sich jedem an den Hals geworfen hatte und sogar bei den Bauarbeiten rangeklotzt hatte wie ein Kerl. Nein, das konnte es auch nicht sein. Wo war der Fehler? War Marianne einfach nur schüchtern gewesen? Was hatte sie falsch gemacht?
Sie folgte einem Heuwagen auf seiner Fahrt über die holprige Kibbuz-Straße. Am Steuer der Zugmaschine saß Rebecca. Merits Hand schoss vor. Sie hielt den Film an.
Dieses herzförmige Puppengesicht. Sogar in Schwarzweiß konnte man erkennen, dass sie blaue Augen hatte. Die Haare unter einem Kopftuch, ein Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, eine Arbeiterhose, Gummistiefel. Das Lächeln, mit dem sie kurz in die Kamera grüßte.
Mit brennenden Augen starrte Merit auf das eingefrorene Bild. Alles, alles kam wieder hoch. Wie plump sie sich neben Rebecca gefühlt hatte. Jede andere wurde unsichtbar, sobald dieses Mädchen irgendwo auftauchte. Selbst in so einem Aufzug. Alle rissen sich darum, mit Rebecca zu arbeiten. Die Mädels, weil man mit niemandem so viel Spaß hatte, und die Jungs … warum wohl?
»Warum wohl?«, fragte Merit den letzten Schluck Wein, bevor sie ihn trank.
Sie ließ den Film weiterlaufen. Ein Schwenk über das Gelände. Das Gemeinschaftshaus. Die Baracken der volunteers. Es war schwer gewesen, das Material zusammenzubekommen, denn dieser Teil des Kibbuz war für seine Bewohner weder interessant noch attraktiv. Der verschüttete Pool, die Wäscheleinen vor den niedrigen Holzhütten.
Vernau. Mein Gott, Vernau!
Merit schlug die Hand vor den Mund, um nicht laut loszukichern. Meine Güte, diese Matte! Sie hätte ihm die Aufnahmen zeigen sollen. Ein schlaksiger Junge mit schulterlangen Haaren, der sich gerade, über einen Handspiegel gebeugt, rasierte. Er sah hoch und grinste.
Mike und Scholl. Waren die damals so eng miteinander? Ein spielerischer Ringkampf, bei dem Mike, der ungleich kräftigere der beiden, den schmalen Scholl in die Knie zwang. Und Daniel.
Wieder hielt Merit den Film an.
Daniel … Sie erinnerte sich noch genau an den Moment, als diese Aufnahme entstanden war. Daniel stand bis zu den Knien in Schutt und Erde, eine beladene Schaufel in der Hand. Die Schubkarre neben dem zugemüllten Pool war schon fast voll. Wenig später würde Vernau kommen und mithelfen, aber in diesem Moment war er allein.
Merit hatte die Aufnahme mit ihrer eigenen Filmkamera gemacht, genau wie die vielen Fotos, die irgendwo noch in Pappschachteln lagerten. Daniel, mein G’tt, wie lange hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Dabei war er der Einzige gewesen, den sie damals wirklich vermisst hatte. Noch lange nachdem die anderen längst gegangen und die Baracken neu belegt waren, hatte sie an ihn gedacht. Auch jetzt machte es einfach nur Spaß, ihn anzusehen. So als ob man einen alten Freund auf der andere Straßenseite sieht, der einen nicht bemerkt. Die stille Beobachterin. Vielleicht war das ja ihre Rolle gewesen? Ihre Aufgabe, ihr Platz in dieser unsteten Gruppe, in der sie sich so oft an den Rand gedrängt gefühlt hatte. Die Chronistin. Die Hüterin, die nur einmal aus dem Schatten hervorgetreten war …
Im Gegensatz zu Vernau stehen Daniel die langen Haare. Mittelblond, an den lockigen Spitzen ausgebleicht. Beim Anheben der Schaufel treten seine Muskeln hervor. Schweiß glänzt auf seinem nackten, braun gebrannten Oberkörper. Er trägt eine Jeans, die Hosenbeine hat er über den Knien abgeschnitten. Er wirft eine Schaufel Dreck auf die Schubkarre und sieht hoch. In die Kamera. Er lächelt sie an. Ein Schatten fällt ins Bild, jemand stößt sie an.
Cut.
Merit schloss die Augen, während auf ihrem Laptop die Bilder weiterliefen. Das Buffet im Speisesaal – so viel Quark und Joghurt hatte sie seitdem nie wieder gegessen. Ein Dutzend Leute an der Bushaltestelle. Drei junge Frauen, deren Namen sie vergessen hatte, beim Einfangen von Hühnern, die sich aus dem Verschlag befreit hatten.
Es war ein witziger Film, bei dem bestimmt viele gelacht hätten. Nur Merit wusste, wie die Szene mit Daniel weitergegangen war.
Sie sank zurück und starrte an die niedrige Decke. Fahles Licht fiel von draußen herein, von der Straßenlaterne vorne an der Kreuzung. Es malte das Fenstergitter an die Wand.
»Sorry! I’m so sorry. Are you allright?«
Die Kamera liegt im Dreck. Rebecca hat sie ihr mit der Papprolle aus der Hand geschlagen. Natürlich war es bloß ein Versehen, klar. Mädchen wie Rebecca tun nichts aus Berechnung oder Absicht. Es ist einfach so, dass sie Mädchen wie Marianne das Leben schwer machen. Durch nichts als ihre pure Existenz.
»Daniel!«, ruft sie. Er klettert aus der Grube, aus seinem zärtlichen Lächeln wird ein Strahlen. »Look what I’ve found!«
Marianne hebt ihre Kamera auf, die immer noch surrt. Sie schaltet sie aus und geht so unbefangen wie möglich zu den beiden hinüber.
»Sie hat die Pläne gefunden«, sagt Daniel, als ob es sich bei dem Pergament, das er gerade entrollt, um eine Schatzkarte handeln würde. »Great.«
Rebecca sieht schüchtern zu Boden, doch dann lächelt sie ihn an.
»Great«, wiederholt die Frau, die damals noch Marianne heißt.
Merit schaltete den Laptop aus.
Sie stand auf, fiel zweimal zurück, und schaffte es schließlich unter Aufbietung aller Konzentration, zum Wandschrank zu gehen und die alten Pappschachteln herauszuholen. Gleich die erste fiel ihr aus den Händen, und der Inhalt ergoss sich über den Boden. Ächzend ging sie in die Knie und begann alles wieder einzusammeln. Das Gewächshaus, die riesigen, offenen Kuhställe, die Avocado- und Pomelo-Plantagen … Tränen traten ihr in die Augen, als sie sich so plötzlich mit dem Verlust all dessen konfrontiert sah. Sie hatte gar nicht gewusst, wie sehr sie daran gehangen hatte. Die Baracken. Die Mädchen in den Bikinis und Badeanzügen. Die Pokerrunde bei den Iren, Mike mit seinem unverschämten Grinsen … Mike hatte sie auch nur verarscht, wie alle anderen.
Sie plumpste nach hinten und blieb eine Weile so sitzen. Irgendwann zog sie die nächste Schachtel zu sich heran und leerte sie aus. Die Frauen bei der Feldarbeit. Das Maschinenhaus, in dem Rebecca gerade mit Uri einen Traktor reparierte. Die Kupferspulenhölle, so hatten sie die riesige Wellblechhalle genannt, auf die den ganzen Tag die Sonne knallte und in der es über Mittag schnell an die fünfzig Grad heiß wurde. Vernau saß dort und löste alte Etiketten mit Terpentin ab. Strafversetzt, nachdem er in die Orchideen gepinkelt hatte. Eine von den Geschichten, die abends am Lagerfeuer Lachkrämpfe hervorgerufen hatten. Die Cafeteria und das Buffet, die langen Tische, an denen sie getrennt von den Kibbuzniks saßen. Der Küchendienst war genauso beliebt wie die Hühner. So viele Fotos, die keinen mehr interessierten. Warum? Für wen? Damit sie irgendwann allein und betrunken in ihrer Hütte hockte und den alten Zeiten hinterherheulte?
Ihr Glas war leer. Am liebsten hätte sie es an die Wand geschleudert, aber davon wäre Jacob wach geworden, und wirklich hilfreich waren solche Ausbrüche nicht. Nein, da musste schon etwas anderes her. Sie ließ sich nach hinten fallen und blieb mit ausgebreiteten Armen auf den Fotos liegen, auf ihren Erinnerungen, dem bisschen Glück von gestern …
Mühsam drehte Merit sich auf den Bauch. Sie schob die alten Aufnahmen zusammen wie nach einem verlorenen Kartenspiel, und dann, in einem Anfall von maßloser Rage, zerknüllte und zerriss sie alles, was ihr in die Finger kam. Abrupt hielt sie inne. Es war ein ganz bestimmtes Foto, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Noch eins. Und noch eins. Erst ungläubig, dann in beinahe panischer Hast suchte sie weitere Aufnahmen aus dem Haufen heraus. Zwei hatte sie zerrissen. Sorgfältig legte sie die Teile wieder zusammen und hatte schließlich die ganze Serie vor sich.
Ganz hinten in jenem Teil ihres Gehirns, das noch in der Lage war, lebenswichtige Dinge wie den Gang zur Toilette oder das Öffnen einer weiteren Weinflasche zu koordinieren, tauchte ein Gedanke auf. Er hatte etwas mit Überleben zu tun, mit Ausbruch, Neuanfang. Mit der überwältigenden Erkenntnis, dass es manchmal im Leben doch eine zweite Chance gab.
Sie beschloss, ihn weiterzuverfolgen, wenn sie wieder nüchtern war.