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Es empörte Plog, dass das Abendessen schon um kurz nach fünf gebracht worden war. Welcher normale Mensch in der Mitte seines Lebens hatte um diese Zeit Hunger? Als die Schwester eine Stunde später kam, um das Tablett abzuholen, wies er sie harsch zurecht. Keine Minute später klopfte es schon wieder. Aus Protest schaltete er den Fernseher ein und stellte die Lautstärke auf maximal.

Er hörte sie erst, als sie vor ihm stand und »Herr Plog?« rief.

Eine Frau, Ende dreißig, mit roten Haaren und einem abgewetzten Bundeswehrparka. Ihre gesamte Erscheinung entsprach so sehr seinem Feindbild, dass er vor Überraschung die Fernbedienung fallen ließ. Die Frau hob sie auf und schaltete den Ton ab, bevor sie sie ihm wieder zurückreichte.

»Hoffmann. Marie-Luise Hoffmann. Ich bin eine Kollegin von Herrn Vernau.«

Plog tastete nach dem Knopf, mit dem er im Notfall die Schwester rufen konnte. »Vernau?«

»Ich soll Ihnen viele Grüße von ihm ausrichten. Er ist gerade in Tel Aviv.«

»In Tel Aviv? Ja? Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?«

Er rückte ein Stück hoch, um dieser Frau nicht halb flach gegenüberzuliegen. Sie holte sich ohne weitere Umstände oder Nachfragen einen Stuhl und setzte sich.

»Selbstverständlich. Es geht um Ihre Zeugenaussage Ende siebenundachtzig im Vermisstenfall Daniel Schöbendorf.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Die Frau, die sich Hoffmann nannte, beugte sich vor und nahm ihn ins Visier. »Wirklich nicht? Hatten Sie nicht erst vor kurzem Besuch von Kriminalhauptkommissar Vaasenburg?«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«

Die Besucherin holte eine Visitenkarte heraus und legte sie auf seinem Nachttisch ab. »Rachel Cohen. Der Name wird Ihnen doch mit Sicherheit etwas sagen. Frau Cohen rollt derzeit den Vermisstenfall Daniel Schöbendorf wieder auf. Herr Vernau und ich unterstützen sie dabei. Deshalb bin ich hier.«

»Frau …«

»Hoffmann.«

»Frau Hoffmann. Sie spazieren hier einfach unangemeldet herein und stellen mir Fragen. Sie wollen Anwältin sein?«

Sie nickte, immer noch freundlich.

»Was ist das dann hier? Hausfriedensbruch?«

»Ein Krankenbesuch, Herr Plog. Lassen Sie uns doch nicht drumherum reden. Wir müssen den Hergang von Daniel Schöbendorfs Flucht aus dem Kibbuz Jechida so genau wie möglich rekonstruieren. Das ist damals nicht geschehen, weil die Ermittlungen sich auf Griechenland konzentriert haben. Von dort kam sein angeblich letztes Lebenszeichen. Wir glauben aber, dass es mindestens genauso wichtig ist, die Umstände seines Abgangs in Israel zu klären. Deshalb möchte ich von Ihnen wissen, ob Sie sich vielleicht noch an etwas erinnern können.«

»Und Joe, ausgerechnet Joe, schickt Sie?«

»Er wäre gerne persönlich gekommen. Aber das letzte Wiedersehen mit einem Freund aus alten Kibbuztagen hat wenig erfreulich geendet.«

»Joe …«

»So nennen Sie ihn, nicht wahr?« Sie lächelte. »Klingt cooler als Joachim. Er ist ein Trickser, schon immer gewesen. War er damals auch in Rebecca verliebt?«

Plog drückte den Knopf. »Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen. Mein Büro wird Ihnen gerne die Passagen aus dem BGB heraussuchen, die sich mit Privatsphäre beschäftigen.«

»Nicht nötig. Nur eine letzte Frage: Was haben Sie damals der Polizei gesagt? Ich kann natürlich auch zur Staatsanwaltschaft gehen und im Archiv draußen am Westhafen suchen.« Sie sah auf ihre Armbanduhr, irgendein billiges Teil aus Plastik. »Bis acht Uhr ist noch geöffnet. Wenn ich mich beeile, habe ich die Information schon heute Abend auf meinem Schreibtisch.«

»Das, könnte ich mir vorstellen, dürfte schwierig werden. Dazu brauchen Sie doch bestimmt Vollmachten und Genehmigungen. Seien Sie versichert, von mir bekommen Sie die nicht.«

»Ach, Herr Plog.« Sie stand auf. »Glauben Sie mir, ich weiß über meine Rechte mehr, als Sie vermutlich jemals über Ihre wissen werden. Sie haben behauptet, Daniel hätte den Kibbuz in Jechida damals bei Nacht und Nebel mit einer anderen Frau verlassen. Wie sind Sie darauf gekommen?«

»Das geht Sie einen feuchten Dreck an.«

»Schon wieder falsch, Herr Plog. Wie wollen Sie eigentlich Innensenator werden, wenn Sie sämtliche Fragen nach Recht und Gesetz an Ihre Sekretärin delegieren? Mord verjährt nicht. Es mehren sich die Hinweise, dass Daniel Schöbendorf Jechida nie verlassen hat.«

Sein Herz begann zu jagen. Was faselte diese Frau da? Wann kam endlich die verdammte Schwester? »Alles, was ich weiß, ist, dass er nach Griechenland abhauen wollte.«

»Hat er Ihnen das gesagt?«

»Ja, verdammt noch mal! Das heißt …« Er hustete, drückte noch einmal den Knopf. Sah sie denn nicht, dass es ihm dreckig ging? »Scholl hat es mir gesagt.«

Sie beugte sich so weit herab, dass er beinahe ihre Haarspitzen im Gesicht hatte. »Scholl? Rudolph Scholl?«

»Ja!« Er rückte etwas zur Seite, um die Distanz wiederherzustellen. »Er hat es mir gesagt. Irgendwann, als herauskam, dass Rebecca sich die Augen ausheulte. Wenig später haben wir schon unsere Sachen gepackt und sind zurück nach Deutschland. Die Aussage damals in Berlin haben wir zusammen gemacht. Was wollen Sie eigentlich? Das ist fast dreißig Jahre her.«

Plog klingelte erneut. Er würde sich beschweren. Und wie er sich beschweren würde.

»Ich werde das überprüfen.«

»Bitte, tun Sie das«, erwiderte er gereizt. »Und jetzt gehen Sie.« Sie war schon fast an der Tür, als ihm einfiel, dass er sie so nicht gehen lassen konnte. »Moment! Warten Sie! Welche neuen Hinweise gibt es?«

Die Klinke in der Hand, blieb sie stehen und drehte sich aufreizend langsam zu ihm um. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf.«

»Aber in das Zimmer eines Schwerstkranken eindringen und ihm Fragen stellen, das dürfen Sie?«

»Ja. Zumindest solange Sie sie mir beantworten.«

Plog schlug die Decke zurück und hangelte mit seinen Füßen nach den Pantoffeln, die ihm Sandra gebracht hatte. Dann griff er nach dem Morgenmantel, den er nach seinem Besuch in der Cafeteria am Nachmittag achtlos ans Fußende des Bettes geworfen hatte.

Ein kurzes Klopfen, und ein Pfleger trat ein. »Was gibt’s?«, fragte er knapp.

Plog winkte ab. »Schon gut. Danke.«

Der junge Mann, keine zwanzig, wie Plog schätzte, warf der Anwältin einen entnervten Blick zu. »Ich räum mal kurz ab. Hatten Sie denn wieder keinen Appetit?«

»Das Zeug kann man nicht essen«, knurrte Plog und schlüpfte in den Frotteemantel. Schmelzkäse, Margarine, Graubrot. Dazu, der Gipfel der Zumutung, Pfefferminztee. Ein Glück, dass die Cafeteria noch geöffnet war. »Ist das der Lieferant von der JVA

»Einen schönen Abend noch.« Der Pfleger schien Kritik gewohnt zu sein, er ging gar nicht erst darauf ein.

Plog schloss die Tür hinter ihm und verknotete den Gürtel des Morgenmantels. »Frau … Hoffmann? Ja?«

Sie nickte, sichtlich und übertrieben in Eile, denn sie warf einen mehr als deutlichen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Sie müssen das verstehen. Nach so langer Zeit steht plötzlich diese junge Frau vor mir und ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Das war ein Schock. Und dann diese Vorwürfe, völlig ungerechtfertigt und aus der Luft geholt. Glauben Sie mir. Rebecca war ein wunderschönes Mädchen. Aber sie und ich waren damals nicht zusammen.«

Sein Gegenüber nickte zustimmend. »Wenn ich Ihnen etwas glaube, dann das.«

Er ignorierte den Seitenhieb und unterstrich seine Zerstreutheit, indem er wie geistesabwesend den nicht vorhandenen Bart an seinem Kinn streichelte. Dabei fiel ihm auf, dass er sich seit zwei Tagen nicht rasiert hatte. »Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, aber ich bin nur am Rande Zeuge dieser Tragödie geworden.«

»Und kein sehr zuverlässiger, wenn ich das mal so sagen darf.«

»Die Aussage damals, wie schon gesagt, Rudi und ich haben sie gemeinsam gemacht. Bitte verstehen Sie das nicht falsch.« Plog spürte seine Nervosität und hoffte, dass diese Hoffmann aus so grobem Holz geschnitzt war, dass sie es nicht bemerkte. Er seufzte, und es klang aufrichtig. Kein Wunder. »Welche neuen Hinweise gibt es? Muss ich befürchten, dass Frau Cohen wieder auftaucht und noch mal versucht, mich umzubringen?«

»Hat sie das denn?« Ihre hellbraunen Augen musterten ihn abschätzig.

»Ja. Da Sie offenbar mit dem Herrn Kriminalkommissar sehr gut bekannt sind, wird er Ihnen den Attentatsversuch auf mich bestätigen. Das war Tötungsabsicht. Vom Tisch wischen geht da nicht mehr. Egal was Sie von mir halten. Also, welche Hinweise gibt es?«

Sie ließ die Klinke noch einmal los.

»Dokumente, die belegen, dass es Daniel mit Rebecca ernst war.«

»Ja«, sagte Plog nachdenklich. »Das mag so gewesen sein, jedenfalls zeitweise. Wir haben ja alle nach einer Erklärung gesucht, nachdem Daniel plötzlich weg war. Rudis Version von einer Panikattacke war die einzig plausible.«

»Gut möglich. Daniels Mutter ist mittlerweile anderer Meinung. Sie hat der Griechenland-Version nie getraut. Ich denke, wir müssen alle Zeugen von damals noch einmal befragen. Gab es noch jemanden in Ihrem illustren Kreis? Eine Frau vielleicht?«

»Eine Frau?«, wiederholte er.

»Ja. Hat es noch eine Frau gegeben? Jemand, der Teil Ihrer Gruppe war, ohne richtig dazuzugehören? Gab es Gerüchte? Irgendwelche Hinweise?«

»Nein …«

»Herr Plog, es wäre gut, wenn Sie uns helfen würden. Meine Nummer haben Sie. Bitte melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Ich rate es Ihnen dringend.«

Damit verließ sie den Raum. Plog stand da und rührte sich nicht. Er rechnete damit, dass jeden Moment die Tür auffliegen und sie wieder hereinmarschieren könnte. Erst als er ihre Schritte auf dem Flur nicht mehr hörte, schleppte er sich zu seinem Bett zurück.

Herr im Himmel. Kam diese ganze Scheiße von damals wieder hoch. Es gab niemanden, mit dem er darüber reden konnte. Jontzer, sein Parteichef? Der würde ihn für verrückt erklären und danach von ihm abrücken. Sandra? Die würde ihn erst recht nicht verstehen. Israel, das war eine andere Zeit, ein anderes Leben. Keiner, der nicht dort gewesen war, würde das verstehen. Die Arbeit. Die Hitze. Die Nächte. Kaum verborgene Rivalitäten. Eine Zeit, die er aus seinem Leben radiert hatte, genau wie Vernau, Rudi und Daniel. Er hatte nicht daran erinnert werden wollen, welcher Mensch er damals gewesen war. Leidenschaftlich, unbedacht, impulsiv und egoistisch. Er hatte geglaubt, er könnte sich um hundertachtzig Grad drehen und einfach vergessen. Lange Zeit war das gutgegangen.

Bis Rachel vor ihm gestanden hatte.

Ich will das nicht!, hätte er am liebsten geschrien. Lasst mich in Ruhe! Mike ist tot! Tot! Es gibt ihn nicht mehr! Ich bin Michael Plog, Platz zwei der Landesliste des BfD. Familienvater. Ehemann. Ich habe nichts mehr mit dem Jungen von damals zu tun, der einfach nur leben und seinen Spaß haben wollte. Zu jung, zu dumm, um zu wissen, auf wen er sich eingelassen hatte.

Eine Anwältin aus … Plog nahm die Karte vom Nachttisch und kniff die Augen zusammen, um die kleine Schrift besser lesen zu können … Prenzlauer Berg. Natürlich. Eine Latte-macchiato-Sozialistin, die ihm etwas anhängen wollte. Dabei hatte sie nichts gegen ihn in der Hand. Gar nichts.

Druck auf diese Frau konnten sie nicht ausüben, schon gar nicht im Wahlkampf. Vielleicht danach. Aber nur, wenn sich etwas fand, mit dem sie arbeiten konnten. Frauen wie diese Hoffmann waren Menschen, die jeden Versuch, sie zum Schweigen zu bringen, öffentlich machen würden. Nein, eine neue Märtyrerin konnte niemand gebrauchen.

Das Handy riss ihn aus seinen wüsten Gedanken. »Sandra«, stand auf dem Display. Es war ungewöhnlich, dass sie so spät noch durchklingelte. Und dass sie sich nicht damit aufhielt, nach seinem Befinden oder dem Abendessen in der Klinik zu fragen, sondern gleich mit der Tür ins Haus fiel.

»Sie hat angerufen. Sie hat ihren Namen nicht genannt, aber sie hat angerufen. Hier, bei uns zu Hause.« Sandras Stimme klang hysterisch.

»Wer?«, fragte Plog.

»Wer wohl! Kannst du dir das denn nicht denken? Sie! Die Frau, die dich umbringen wollte!«

Ein Glück, dass er nicht an einen Überwachungsmonitor angeschlossen war. Sein Puls schnellte auf hundertachtzig. Nur engste Vertraute kannten seine private Telefonnummer und die Adresse. Er stand nicht im Telefonbuch, und auf seine Visitenkarten ließ er seit ewigen Zeiten nur die Büroanschriften drucken. Wie zum Teufel war sie da rangekommen? Er atmete tief durch, als er seinen Fehler erkannte. Das Haus seiner Eltern, die Telefonnummer seiner Eltern … Die Angaben mussten immer noch irgendwo im Kibbuz herumfliegen. Wahrscheinlich war er der Einzige, der in all den Jahren nicht umgezogen war.

»Und … was hat sie gesagt?«

»Ich weiß es nicht. Ich verstehe es nicht. Sie wollte dich sprechen. Ich habe gefragt, in welcher Angelegenheit. Da wurde sie ganz seltsam und sagte, dass sie das nur mit dir selbst bereden will.«

»Moment mal, Sandra. Ganz ruhig. Ich hatte eben Besuch von einer Anwältin. Vielleicht war die das?«

Schwer vorstellbar, denn trotz ihrer gegenseitigen Abneigung hatte diese Frau auf ihn nicht den Eindruck gemacht, als würde sie mit anonymen Anrufen arbeiten. Außerdem hatte sie gerade erst mit ihm gesprochen und wusste, wo er sich aufhielt.

»Nein. Ganz sicher nicht. Mike, sie hat schon mal versucht, dich umzubringen. Keiner weiß, wo sie steckt. Vielleicht ist sie immer noch in Berlin.«

Plog stand auf und schaffte es diesmal nicht, in seine Pantoffeln zu schlüpfen. »Das ist doch Blödsinn.«

»Wir brauchen eine Fangschaltung. Und endlich eine Geheimnummer. Wir müssen die Polizei informieren. Du musst raus aus diesem Krankenhaus, die ganze Welt weiß, wo du gerade bist, und du hast keinen Personenschutz. Nichts.«

Sandra schluchzte auf. Die ganze Sache schien sie mehr mitzunehmen, als er gedacht hatte. Vielleicht hätte er doch nicht so tief in die böse Kiste greifen sollen.

»Schatz, das sind irgendwelche linken Hetzer, die …«

»Nein!« Sie schrie so laut, dass er den Hörer ein paar Zentimeter weit weg hielt. »Sie hat gesagt, dass sie eine Bombe hochgehen lässt. Hörst du? Eine Bombe! Das war eine Warnung, eine ganz klare Terrordrohung.«

»Sandra. Sandra! Ganz ruhig. Lass uns überlegen, was wir tun können.«

»Wir? Es tut mir leid, Mike.«

»Was tut dir leid? Du musst dich doch nicht entschuldigen.«

Er konnte hören, dass sie tief durchatmete. Sie versuchte, Ruhe in sich hineinzupressen, aber ihre Stimme war kurz vorm Kippen.

»Ich gehe zu meiner Mutter. Zumindest so lange, wie diese Frau frei herumläuft. Es ist wegen der Kinder. Ich kann es ihnen nicht zumuten, in so einer Gefahr zu leben.«

»In meinem Büro gehen jeden Tag solche Drohungen ein. Das darfst du nicht ernst nehmen.«

»Nicht ernst nehmen? Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat? Mach, was du willst. Ich gehe.«

»Sandra!« Er lief zum Schrank und zog seine Reisetasche aus dem oberen Fach. »Warte. Ich komme nach Hause. Wir reden miteinander, was zu tun ist.«

»Es geht um deine Kinder. Du siehst ja, was aus ihnen wird, wenn man sich nicht um sie kümmert.«

Damit spielte sie auf Lukas an, absolut unlogisch und außerdem eine Verdrehung der Tatsachen. Sie war damals die treibende Kraft gewesen, sich den Jungen vom Hals zu halten. Sie hatte jeden Kontakt unterbunden, sie hatte den untersten Satz der Düsseldorfer Tabelle durchgesetzt. Es gefiel ihr immer noch nicht, dass er den Jungen wenigstens ab und zu mal unter seine Fittiche nahm. Und jetzt warf sie ihm vor, er hätte sich nicht ausreichend um Lukas gekümmert.

»Ja«, beruhigte er sie. »Das verstehe ich ja. Sie werden diese Frau finden. Es ist nur eine Frage der Zeit. So lange müssen wir ruhig Blut bewahren.«

»Das tue ich, Mike. Das tue ich. Ich werde mir jetzt ein Taxi rufen und mit den Kindern zu meiner Mutter fahren.«

»Sandra!«

Sie legte auf.

Mit einem Fluch begann er, seine Habseligkeiten in die Tasche zu stopfen. Er war schon fast im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als ihm auffiel, dass er noch im Schlafanzug war. Wütend riss er sich Jacke und Hose vom Leib und zog sich an.

Er verabschiedete sich nicht, dafür blieb keine Zeit. Die Nachtschwester sah irritiert hoch, als er an ihr vorbei zu den Aufzügen eilte. Aber bis sie ihr Kabuff verlassen und ihn erkannt hatte, war der Lift schon da. Ihr »Herr Plog! Wo wollen Sie denn hin?« war das Letzte, was er von ihr hörte.

Er nahm ein Taxi, aber er kam zu spät. Das Haus empfing ihn mit der Leere, die er befürchtet hatte. Er ging in sein Arbeitszimmer und ließ sich in den Chefsessel fallen. Alles schien sich aufzulösen. So wenig brauchte es also, um aus einer Familie und einer Karriere ein Ruinenfeld zu machen. Doch damit war jetzt Schluss. Er würde an die Öffentlichkeit gehen und die Jagd auf Rachel Cohen zu einer Sache der Allgemeinheit machen. Die Polizei hatte versagt. Damit blieb ihm nur noch die Flucht nach vorne.

Das Klingeln des Telefons, eigentlich ein melodisch dudelnder Dreiklang, zerriss die nächtliche Stille. Plog schreckte hoch. Auf dem Display leuchtete »Rufnummer unterdrückt« auf. Er hob die Hand und bemerkte zum ersten Mal, dass sie zitterte. Seltsam. Er verspürte keine Angst, nur eine ohnmächtige Wut gegen diese Frau. Nachdem er den Knopf zur Gesprächsaufzeichnung gedrückt hatte, hob er ab.

»Frau Cohen?«, sagte er. »Ich bin allein. Wir können über alles reden.«