16

Rachel ließ das Auto hinter dem katholischen Hospiz der Borromäerinnen stehen. Bevor sie ausstieg, blieb sie noch eine Weile hinter dem Lenkrad sitzen und beobachtete die Umgebung. Die Nähe zum Busbahnhof zog viele Gestalten an, die nicht unbedingt verreisen wollten. Es war jener Teil von Jerusalem, der trotz seiner Nähe zur Altstadt seine besten Tage hinter sich hatte. Dicke Stromleitungen klebten an den Fassaden der heruntergekommenen Häuser. Vorne an der HaAyin Het Street hielten sich noch einige Backpacker-Hostels und billige Straßenrestaurants. Die meisten Touristen aber mieden den arabischen Teil der Stadt und zogen es vor, in der Nähe des King David abzusteigen, mit Blick auf den Ölberg und den Felsendom. Wenn die Muezzins aus den Minaretten ihre Gebete über die Dächer der Altstadt sandten, klang das für Pilger und Besucher gleichermaßen exotisch.

Rachel erinnerte es an Homeland.

Sie liebte die Serie. Obwohl die CIA-Agentin Carrie eine Kunstfigur war, erdacht in einem writers’ room irgendwo in Los Angeles, fühlte sie sich ihr nah. Sie strich sich mit den Händen über die Haare, genau wie Carrie. Warf dann einen schnellen Blick in den Rückspiegel, um ihr Make-up zu checken und zu sehen, was sich auf der Straße hinter ihr abspielte, auch diese Geste war ihr aus Homeland vertraut. Die Drehbuchautoren hatten wirklich Ahnung.

Die Luft war geschwängert von Holzfeuern und dem Duft gegrillter Fleischspieße. Einige Läden, vollgestopft mit Mehlsäcken und verstaubten Konserven, hatten noch geöffnet. Neonlicht fiel auf müde Männer hinter alten Registrierkassen. Die Straße war eng und nicht gepflastert. Rachel stolperte durch knöcheltiefe Schlaglöcher. Einer der Alten, die an verrosteten Campingtischen Backgammon spielten, rief ihr etwas hinterher. Sie achtete nicht darauf. In diesem Teil Jerusalems war es besser, einfach nur seiner Wege zu gehen und das zügig, ohne nach links oder rechts zu sehen. Sie nahm den Schal, der locker um ihre Schultern gelegen hatte, und bedeckte sich damit das Haar. Carrie.

Das Damaskustor erhob sich wie ein bleicher Monolith aus der Stadtmauer. Ein paar Taxis warteten an der Sultan Suleiman Street auf späte Gäste, die sich bis zu dieser Stunde nach Sonnenuntergang noch in der Altstadt aufgehalten hatten. Die Fahrer lehnten an den Türen, plauderten miteinander und warfen Rachel interessierte Blicke hinterher. Glücklicherweise nicht mehr.

Die Stimmung in der Stadt hatte sich seit Rachels Aus- und Umzug nach Tel Aviv schleichend geändert. Nonnen wurden mit Steinen beworfen, Pilger beschimpft. Selbst Touristen berichteten von aggressiven Übergriffen im arabischen Viertel. In den letzten Wochen war es vermehrt zu tödlichen Attacken von Palästinensern auf Juden gekommen. Das freundliche Miteinander der Religionen war schon immer ein Trugschluss gewesen. In guten Zeiten eine vibrierend fragile Koexistenz. In schlechten wie diesen ein zerbrechender Waffenstillstand.

Rachel kannte den Weg noch wie im Schlaf. Sobald man über die breiten, terrassenähnlichen Stufen das Damaskustor erreichte, eines von acht Stadttoren, tauchte man in die Dunkelheit der uralten Wehrmauern ein und fand sich auf der anderen Seite in einem Labyrinth wieder. Der Weg links führte direkt in den Basar, den man als Fremder nur mit eiserner Willenskraft ohne Kamelhocker, Schachspiel oder Teppich wieder verließ. Nach rechts ging es Richtung Grabeskirche und weiter hoch zum christlichen Viertel. Wer von den Hauptwegen abkam, landete in einer verfallenden Parallelwelt, die nichts mit der ramschigen Touristenattrappe zu tun hatte: halb verfallene Häuser, dunkle Torbögen, bitterste Armut. Im Winter war das Leben in den ungeheizten, feuchten Löchern des arabischen Viertels die Hölle. Im Sommer war sie wenigstens heiß.

Rachel hätte die Via Dolorosa mit geschlossenen Augen gefunden. Gleich rechts war die Bäckerei, die die besten Baklavas der Stadt anbot. Der Inhaber Nassir hatte ihr als Kind jedes Mal, wenn sie vorübergestromert war, ein paar der klebrigen Süßigkeiten zugeschoben. Noch immer grüßten sie sich freundlich und plauderten ein paar Takte miteinander, wenn Rachel tagsüber vorbeikam und sich einen Pappteller voll süßer Sünde kaufte. Jüdische Kinder kamen nicht mehr. Sie mieden das Viertel.

Nassir’s Pastry Shop war geschlossen, die meisten anderen Geschäfte auch. Die letzten Andenken- und Teppichläden, die T-Shirt-Shops und Shisha Markets wurden gerade mit Holzlatten und Gittern verrammelt. Dreckiges Wasser floss durch die Abflussrinne in der Mitte der Gasse. Ein Mann schüttete seinen Eimer direkt vor Rachels Füßen aus. Sie wusste nicht, ob es Absicht war. Ein Stück weiter trafen sich drei schmale Straßen und bildeten einen der wenigen kleinen Plätze. Linker Hand erhob sich die Felssteinmauer des österreichischen Hospizes, eine pittoreske Attraktion, deren Besuch sich lohnte, wenn man wusste, wo sich die Klingel befand. Rachel hatte dort oft im Garten gesessen, bei Apfelstrudel und leiser Musik von Johann Strauss. Wiener Walzer, die aus den offenen Fenstern perlten und sich mit dem Rascheln der trockenen Palmwedel, dem Singen der Vögel und dem dezenten Geschirrklappern zu einer ganz eigenen Melodie verbündeten. Es hatte etwas von einer untergegangenen Zeit, und Rachel liebte solche kleinen Fluchten. Die Zeder im hinteren Teil des Gartens war noch von Kaiser Franz Josef persönlich gepflanzt worden, der unter seinen vielen Titeln auch den des Königs von Jerusalem geführt hatte. Es hieß, hier gebe es den besten Apfelstrudel außerhalb von Wien. Rachel kannte Wien nicht, aber sie hatte keinen Grund, diesen Ruf anzuzweifeln.

Sie wich einem Mann aus, der eine gewaltige, von Tüchern bedeckte Last auf einer Schubkarre abtransportierte. Alles musste in Jerusalems Altstadt zu Fuß oder mit dreirädrigen Lastmofas erledigt werden. Die Gassen waren zu eng, um Lieferfahrzeuge durchzulassen.

Jetzt kam der dunkelste Teil des Wegs. Rachel tauchte von der Dämmerung ein in die Nacht rund um den alten Tuchmarkt. Viele einzelne niedrige Häuser, die wirkten, als hätte eine riesige Hand sie planlos zusammengeschoben, immer eng und enger. Die schmalen Gänge dazwischen waren überspannt mit Planen oder provisorisch überdacht. Magere Katzen stoben auseinander, Müllsäcke stapelten sich in jeder Ecke.

Weit hinten baumelte eine einzelne Glühbirne, die die Finsternis um Rachel herum noch schwärzer machte. Sie beschleunigte ihre Schritte und war gleichzeitig darauf bedacht, auf dem glitschigen, unebenen Boden nicht auszurutschen. Bei Tag, wenn alle Geschäfte geöffnet hatten und ein paar wenige Sonnenstrahlen ihren Weg durch die eng stehenden Häuserschluchten fanden, mochte dieser Irrgarten ein romantisches Bild abgeben. Männer in malerischer Tracht auf kleinen Hockern vor den Geschäften, den Rosenkranz in der Hand, ein Glas Tee auf der Eingangsstufe. I-love-Jerusalem-T-Shirts, bunte Kleider aus billigen Stoffen, Ramsch und Tinnef. Gewürze in großen Säcken, der Duft von Koriander, Anis und Safran. Touristen auf dem Weg zur Al-Aksa-Moschee und der Klagemauer. Nachts war er gefährlich.

Rachel öffnete ihre Tasche und tastete nach der Waffe. Das kühle Metall beruhigte sie. Man hatte sie kurz vor dem Ende ihrer zweijährigen Militärzeit gefragt, ob sie Karriere machen wolle. Die 8200-er hätten sie gerne behalten. Schon das Angebot war eine Auszeichnung. Aber sie hatte nach einigen Tagen Bedenkzeit abgelehnt und es nie bereut.

Ein Fauchen ließ sie zusammenfahren. Einige ausgehungerte Straßenkatzen balgten sich um eine Mülltüte. Erst am Ende der dunklen, tunnelartigen Gassen atmete Rachel auf und tauchte ein in das sanfte Licht eines fast andalusisch anmutenden, weiten Platzes: der Rabinovich Square. Vor einigen der Coffeeshops und Bars saßen noch Gäste. Leise Musik und Gelächter echoten über die Hauswände. Das jüdische Viertel. Eine andere Welt.

Sie hätte auch durch das Jaffator kommen können. Aber sie wollte weder erkannt noch angesprochen werden. Eigentlich hatte sie vorgehabt, nie wieder hierher zurückzukehren.

Der Mensch plant, G’tt lacht.

Den Schal fast bis über die Augen gezogen huschte Rachel, geschützt durch die Schatten der Arkadengänge, in die HaTamid Street. Der Weg war gepflastert, Hibiskus und Jasmin blühten vor Fenstern und Hauseingängen. Die Häuser wurden hier wesentlich besser in Schuss gehalten. Helle Steine, ockerfarbene Anstriche, bunte Türen und Fenster. Es war nicht unbedingt eine wohlhabende Gegend. Die lagen außerhalb der alten Stadtmauern, umgeben von weitläufigen Gärten und Schutzzäunen. Als Kind hatte sie ihren Vater einmal gefragt, woher die krassen Unterschiede zwischen den einzelnen Vierteln innerhalb dieser Mauern kämen, wo doch alle in derselben Stadt lebten.

»Weil es unsere Stadt ist, Kind«, hatte Uri gesagt. »Dort wo wir sind, sieht es eben anders aus.«

Rachel wusste mittlerweile, dass die Palästinenser das mit der Frage, wem Jerusalem gehörte, anders sahen. Aber jede Erklärung, warum die eine Ecke hell, die andere dunkel, warum die eine verwahrlost, die andere gepflegt war, mündete unweigerlich in politische Diskussionen und damit letzten Endes in Uris tiefe Verachtung gegenüber all jenen, mit denen er seine Stadt, aber nicht seine Religion und Herkunft teilte. In den letzten Jahren schien er immerhin nachdenklicher geworden zu sein. Der Rechtsruck der Politiker und die Radikalisierung der Siedler beunruhigten ihn. Die Antwort der meist jugendlichen Gewalttäter aus den besetzten Gebieten war brutal und stellte die israelische Gesellschaft vor eine durchaus beabsichtigte Zerreißprobe. Rachel wusste nicht, ob Uri heute anders über den ewigen Konflikt mit den Feinden Israels dachte. Es war klar, dass es so nicht weitergehen konnte, aber eine Lösung war nicht in Sicht. Zumindest keine, die Rachel auf Anhieb überzeugt hätte und die beide Seiten wieder an den Verhandlungstisch gebracht hätte. Es sah so aus, als ob diese Tische ausgedient hätten, und zwar überall auf der Welt. Die Politik war zu einem zahnlosen Tiger geworden, der außer Gebrüll nichts gegen die immer radikaler werdende Gewalt ausrichten konnte.

Die Gespräche mit ihrem Vater waren ohnehin selten gewesen und eher ein Meinungsdiktat, statt eine echte Diskussion. Warum verließen denn immer mehr junge Israelis das Land? Warum versuchte denn jeder, der – über welchen Weg auch immer – Verwandte im westlichen Ausland auftreiben konnte, einen zweiten Pass zu bekommen? Auch Rachel hatte damals überlegt, einfach in Berlin zu bleiben. Das Jahr war so schnell vorübergegangen. Eine einzige große Party mit Nächten ohne Sirenen und dem tiefen, guten Schlaf bis in den Mittag. Aber dann hatte dieses verfluchte Wort Heimat sie nicht mehr losgelassen. Familie … »F***«, würde Carrie jetzt sagen.

Sie suchte nach dem Schlüssel. Vorsichtig öffnete sie das schmale dunkelgrüne Eisentor, das in den Innenhof führte. Hohe Mauern schützten ihn vor neugierigen Blicken. Der Olivenbaum spendete Schatten an heißen Tagen, wenn die Sonne senkrecht am Himmel stand. In einem steinernen Trog plätscherte Wasser. Zur Linken gelangte man in das zweistöckige Haus, in das sie nach Uris zweiter Heirat gezogen waren.

Rachel sah auf ihre Armbanduhr. Die kleinen Zeiger leuchteten grün. Halb acht. Es war die Zeit, in der Uri und Daliah ihre Verwandtschaft abklapperten. Jene Leute also, die Rachel immer als einen Fremdkörper angesehen hatten und die sie das auch spüren ließen. Wenn die beiden sich an ihre Gewohnheiten hielten, dann lief ab jetzt die Uhr rückwärts. Eine knappe Stunde, von der keine Sekunde ungenutzt verstreichen durfte.

Die Haustür öffnete sich mit dem leisen, altbekannten Quietschen. Rachels Sohlen knirschten auf der Treppe, die steil und gerade nach oben in den ersten Stock führte. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und aktivierte das Spotlight. Noch von der Straße aus hatte sie gecheckt, dass die Fensterläden geschlossen waren. Oben konnte sie Licht machen, aber nicht hier auf der Treppe.

Vorsichtig drückte sie die Klinke zur Wohnung herunter und wollte, so wie sie es seit vielen Jahren gewohnt war, nach zwei Schritten die Flurlampe einschalten, als sie über ein unerwartetes Hindernis stolperte. Mit einem lauten Krachen knallte ein Maschinengewehr zu Boden, das jemand mitsamt seiner Ausrüstung ohne nachzudenken einfach im Flur abgestellt hatte.

Joel. WTF?

Sie legte den Schalter um und schloss für einen Moment geblendet die Augen. Zeit genug für ihren Halbbruder, wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett zu springen und nur mit einer Unterhose bekleidet die Zimmertür aufzureißen.

»Rachel? Alles okay?«

Sie bückte sich und wollte das Gewehr aufheben, eine TAR-21, aber da war Joel auch schon bei ihr und nahm es ihr ab.

Ich habe so ein Ding schon bedient, da hast du noch in die Windeln gemacht.

»Schalom, Joel. Ich habe nicht mit dir gerechnet.«

»Drei Tage Urlaub.« Er trug das Sturmgewehr und seine Sachen, darunter auch eine schusssichere Weste, in sein Zimmer und warf alles aufs Bett. »Du hättest Dad Bescheid sagen sollen.«

Eben nicht. Und du machst gerade alle meine Pläne zunichte.

»Wie geht es dir?«, fragte sie und ignorierte den Vorwurf einfach.

Joel war bei der Nachal-Brigade, der kämpfenden Pionierjugend, die in der West Bank nahe Hebron eingesetzt war. Fünf Jahre jünger als sie, einen Kopf größer, ein herausragender Sportler und begeisterter Soldat. Mit seinen kurzgeschnittenen Haaren, dem muskulösen Oberkörper und dem hübschen Gesicht, halb Junge, halb Mann, zog er die Blicke der Mädchen auf sich. Er streifte sich ein T-Shirt über und stieg in seine Jeans.

»Kannst ruhig weiterschlafen. Ich bin gleich wieder weg.«

Sie ging ins Wohnzimmer. Das war ja mal gründlich schiefgelaufen. Sie hatte vorgehabt, unten im Wohnzimmerschrank nach Rebeccas Abschiedsbrief zu suchen. Vernau hatte ihn nicht bekommen, Plog hatte es ebenfalls bestritten, und Scholl konnte sie nicht mehr fragen. Es wurde immer wahrscheinlicher, dass dieser Brief gar nicht bis nach Deutschland gelangt war.

Auffindesituation: Rebecca Cohen lag ausgestreckt auf dem Bett (…) Ein Brief in den Händen der Toten wurde der schichtleitenden Schwester übergeben, mit der Bitte um Weitergabe (…)

Vielleicht hatte Daliah ihn in die Finger bekommen und verschwinden lassen? Daliah. Die Frau, die Uri zwei Jahre nach Rebeccas Tod geheiratet hatte. Irgendwann hatte sie alles entsorgt, was an ihre Vorgängerin erinnerte. Es war ein Schock für Rachel gewesen, als sie den Schrank ihrer Mutter öffnete und alle Sachen verschwunden waren. Uri hatte sie darin aufbewahrt, und das kleine Mädchen ohne Mutter war oft in den Schrank gekrochen und hatte sich ein Nest aus Rebeccas Sachen gebaut. Dort im Dunkeln hatte sie sich der fremden Frau nahe gefühlt, dort sah niemand ihre Tränen.

Rebeccas Kleider verschwanden als Erstes. Die Möbel wurden verkauft, als sie nach Jerusalem umzogen, weil dort Daliahs Familie lebte. Wenig später kam dann Joel auf die Welt. Rachel verspürte keine Eifersucht auf ihren Bruder, eher eine große innere Distanz. Wahrscheinlich hielt Joel sie für kalt und herzlos. Aber das war sie nicht. Sie hatte sich bloß nie als ein Teil dieser Familie gefühlt. Sie war das Kind, das schuld am Tod seiner Mutter war. In diesem Glauben hatte man sie aufwachsen lassen.

Und nun war alles anders.

Rachel hatte Vernau in die Augen gesehen und ihm geglaubt. Schade eigentlich. Ein guter Typ. Einer von denen, die mit zunehmendem Alter immer interessanter wurden. Er hätte ihr als Vater gefallen. Ganz anders als Scholl. Er … Der Schwindel kam gemeinsam mit dem Bild des sterbenden Mannes auf dem Trottoir. Sie stützte sich an der Rückenlehne eines Couchsessels ab.

»Ist alles okay?«

Joel war ihr gefolgt. Das tat er, seit er laufen konnte. Anfangs hatte sie ihn weggeschubst, da sie seine kindliche Zuneigung kaum ertragen konnte. Später hatte sie sie über sich ergehen lassen, ohne sie zu erwidern. Eigentlich tat Joel ihr leid. Er konnte nichts dafür, mit so einer Schwester gestraft zu sein.

»Schon okay. Lass mich einfach allein.«

»Willst du was trinken? Einen Kaffee vielleicht? Ein Bier?«

Unwillig wehrte sie ab. »Nein. Ich bin nur gekommen, weil ich noch ein paar Unterlagen brauche.«

»Du willst heiraten.« Er schlenderte grinsend zur Couch und ließ sich fallen.

Wütend riss sie die Tür zum Wohnzimmerschrank auf, ging in die Hocke und begann das untere Fach zu durchwühlen.

»Warum wartest du nicht, bis Dad kommt? Er kann dir bestimmt helfen.«

Er hat mir mein ganzes Leben nicht geholfen. Er hat mich mit seinem Schweigen in der Hölle schmoren lassen.

»Glaub ich nicht«, antwortete sie barsch und warf einen Aktenordner nach dem anderen auf den Tisch. Ihr Verdacht gegen Daliah verdichtete sich umso mehr, je länger sie suchte.

Genau dort, wo Joel gerade alle viere von sich streckte, hatte Uri gesessen und Löcher in die Luft gestarrt. Keine einzige ihrer Fragen hatte er beantwortet. Daliah war irgendwann dazwischengegangen und hatte Rachel mehr oder weniger hinausgeworfen.

»Dein Vater ist ein Ehrenmann«, hatte sie gezischt. »Diese alte Geschichte wird nicht wieder aufgewärmt.«

»Es ist meine Geschichte. Und ich habe ein Recht darauf.«

»Du hast nichts. Gar nichts. Du mamser

Da war es wieder, dieses Wort. Du bist ein Bastard und musst für den Fehler deiner Mutter büßen bis ins zehnte Glied. So sagt es das jüdische Gesetz. Und an das halten wir uns doch alle hier, nicht wahr?

»Geh zurück nach Tel Aviv und komm erst wieder, wenn du dich bei dem Mann, der dir ein Dach über dem Kopf und seinen guten Namen gegeben hat, entschuldigst!«

Rachel war wortlos gegangen.

Rick … ihr Herz zog sich zusammen. Da wird man einmal im Leben schwach und braucht Hilfe, und schon rammt einem das Schicksal die nächste Faust in die Magengrube.

»Was genau suchst du eigentlich?«

Sie unterdrückte einen Seufzer. Joel wusste offenbar nichts von ihrem Fund und dem Zerwürfnis. Die Sache war unter den Teppich gekehrt und totgeschwiegen worden. So wurde das bei den Cohens immer schon gehandhabt. Irgendwie kamen die drei ihr vor wie die chinesischen Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

»Einen Brief. Den Abschiedsbrief meiner Mutter. Ich weiß erst seit kurzem, dass es ihn gegeben hat.«

Joel setzte sich auf. Sein jungenhaftes Lächeln verschwand und machte einem besorgten Ausdruck Platz. »Du solltest wirklich warten, bis die beiden …«

»Ich habe lange genug gewartet.« Sie knallte ein dickes Fotoalbum auf den Tisch – der Einzug der Cohens ins Gelobte Land Anfang der zwanziger Jahre, ungezählte Schwarzweißaufnahmen von Verwandten, die ihr Uri nun auch noch genommen hatte. Sie war keine Cohen. Sie war … ein herrenloser Bastard. Wo steckte bloß der verdammte Brief? Uri hatte ihn ihr nicht gegeben.

Er war an mich gerichtet. Die letzten Worte einer Mutter an ihr Kind. Oder … an meinen Vater, meinen richtigen Vater. Wie konnte Uri mir das nur vorenthalten?

Rachel hatte nie nah am Wasser gebaut. Irgendwann hatte sie gemerkt, dass sie das Weinen verlernt hatte. Doch jetzt spürte sie, dass ihre Augen feucht wurden. Ausgerechnet vor meinem kleinen Bruder, dachte sie. Aber auch das ist er nicht mehr. Niemand ist mehr das, was er mal war. Rebeccas Tod und Uris Lüge haben mich hinauskatapultiert aus dieser Familie. Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre.

Sie kroch fast in den Schrank, nur um Joel ihr Gesicht nicht zu zeigen. Seine nervöse Sorge trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich konzentrieren konnte.

»Hat es was mit eurem Streit zu tun?«

»Was für ein Streit?«, fragte sie zurück. Ihre Stimme klang dumpf.

Sie war bei einem Sammelsurium von Erbstücken angelangt, für die niemand Verwendung hatte: sechs schwarz angelaufene silberne Schneckenzangen in einer mit Goldbrokat überzogenen Kiste. Wofür um Himmels willen brauchten Juden Schneckenzangen? Brüchige Wimpel mit dem Wahrzeichen von Jechida, einer stilisierten aufgehenden Sonne hinter einem Pflug. Sie stockte. Ihr Bat-Mizwa-Kleidchen, eingeschlagen in ein weiches Baumwolltuch. Vorsichtig nahm sie es auseinander.

Das sollte ich mitnehmen. Das gehört wirklich zu mir.

»Dad redet seit ein paar Tagen nicht mehr. Das tut er eigentlich nur, wenn einer von uns beiden ihn enttäuscht hat.«

Rachel faltete das Kleid sorgfältig zusammen. »Vielleicht war es ja umgekehrt.«

Joel brauchte einen Moment, um den Vorwurf zu kapieren. »Du meinst, er hat dich … Das glaube ich nicht. Wie denn?«

»Geht dich nichts an.«

»Dann kann ich dir auch nicht helfen.«

Sie schickte ihm einen kalten Blick. »Ich habe dich nicht darum gebeten. Geh rüber und schlaf weiter.«

Das Kleid stopfte sie in ihre Handtasche. Joel beobachtete sie mit wachsendem Unmut.

»Du kommst einfach hierher, wenn die beiden nicht da sind, und wühlst in ihren Sachen rum?«

»In meinen Sachen, Joel. Ich habe nicht vor, noch einmal herzukommen.«

»Was?«

Er sah sie mit so großem Entsetzen an, dass sie Mitleid mit ihm bekam. Ihr kleiner Bruder war der Nachgeborene, der legitime Sohn einer zweiten Ehe. Was konnte er dafür, dass sein Vater vor langer Zeit einmal einem gefallenen Mädchen die Ehre gerettet hatte? Und dass dieses Mädchen, statt ihm dafür bis ans Ende ihrer Tage dankbar zu sein, die Frechheit besessen hatte, sich auch noch umzubringen?

Sie setzte sich auf den Boden und umschlang die Knie mit den Armen. »Es ist besser so. Ich war hier doch immer bloß ein Fremdkörper. Denkst du, das hätte ich all die Jahre nicht gemerkt? Jetzt ist es an der Zeit, die Wahrheit herauszufinden und einen klaren Schnitt zu machen.«

Warum sah er sie so an? Verstand er sie nicht? Redete sie unverständliches Zeug?

»Ich will herausfinden, wer mein richtiger Vater ist.«

Joel fuhr sich mehrmals mit beiden Händen durch die stoppelkurzen Haare. »Dein richtiger Vater? Du hast einen richtigen Vater!«

»Nein.«

»Nein?«

Der Blick aus seinen fast schwarzen Augen war so ratlos, dass Rachel beinahe gelacht hätte.

»Daliah und Uri haben uns all die Jahre glauben lassen, ich wäre eine Cohen. Das bin ich aber nicht. Meine Mutter war schwanger von einem anderen.«

Er öffnete den Mund – und schloss ihn wieder.

Ja, kleiner Bruder. Genau so habe ich auch dagesessen, als mir die Ferry Tickets vor die Füße gefallen sind und ich in der kleinen Ledermappe das Gedicht von Rückert gefunden habe. Du bist mein Mond, und ich bin deine Erde … Es hat ein wenig gedauert, bis ich alles verstanden hatte. Es gab einen anderen im Leben meiner Mutter. Ich habe es geahnt. Schon immer.

»Von wem?«, stieß er hervor. Er sah aus, als wollte er im nächsten Moment aufspringen, sein MG holen und sich diesen Typen vorknöpfen.

»Das weiß ich nicht. Meine Mutter hat Uri im fünften Monat geheiratet, um mir einen Namen zu geben: Cohen. Niemand sollte mit dem Finger auf mich zeigen und mich einen Bastard nennen.«

»Wenn das einer wagt, dann …«

» Sie hat sich umgebracht, am Tag meiner Geburt«, unterbrach Rachel seine Wut. »Und all die Jahre wurde der Deckel draufgehalten. Pssst, die arme Frau ist bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Aber es war anders, ganz anders. Rebecca wurde sitzengelassen. Von einem Mann, den sie mehr geliebt hat als ihr Leben. Mehr als mich.«

»Wer ist die Sau?«

Rachel zuckte mit den Schultern. »Der Einzige, der es mir sagen könnte, ist Uri. Aber der hält den Mund. Sieht durch mich durch, als wäre ich Luft. Ich habe ihn hundertmal gefragt. Er gibt mir keine Antwort. Als ob er …« Sie brach ab, weil der Gedanke zu ungeheuerlich war, um ihn laut zu Ende zu bringen.

Es gab Grenzen bei dem, was man über einen anderen Menschen denken durfte. Uri ist doch selbst an allem schuld, dachte sie. Mit einem einzigen Wort, einem einzigen Namen könnte er das ganze Rätsel aufklären. Dass er es nicht tut, muss einen Grund haben. Er ist derjenige, der damals vom Unglück meiner Mutter profitiert hat. Schweigt er, weil er es mit herbeigeführt hat? Schämt er sich? Was um Himmels willen darf ich nicht erfahren?

»So ein Schlamassel«, stöhnte Joel gerade. »Sag mir Bescheid, wenn du den Kerl gefunden hast. Eine Kugel ist zu schade für ihn.«

»Das ist meine Sache.«

»Ich bin dein Bruder!«

»Wir sind noch nicht mal miteinander verwandt, Joel. Also lass mich jetzt bitte in aller Ruhe meine Sachen zusammensuchen. Nachher kannst du es dann brühwarm deinen Eltern erzählen, wenn sie nach Hause kommen.«

»Aber …«

»Mach es mir nicht so schwer, okay?«

Sie stand wieder auf und nahm sich die nächste Schrankseite vor. Wo war bloß dieser verdammte Brief? Hatte Uri ihn vernichtet? Oder Daliah? Das würde zu ihr passen.

Rachel hörte, wie Joel hinter ihrem Rücken aufstand und das Zimmer verließ. Dieser große, dumme Junge. Jetzt hatte er etwas, woran er knabbern konnte. Im selben Moment bereute sie den Gedanken. Was konnte er schon dafür? Die Fehler hatten andere gemacht, vor vielen Jahren. Hätte sie alles auf sich beruhen lassen sollen? Nur um des lieben Friedens willen?

Es ist ihr Frieden, nicht meiner, dachte sie trotzig.

Sie wühlte sich gerade durch mehrere Dutzend angegrauter Servietten, als sie die Haustür zuschlagen hörte. Erst glaubte sie, Joel wäre gegangen. Dann wurde die Wohnzimmertür aufgerissen. Sie fuhr herum.

Bleich vor Zorn und schwer atmend kam Uri auf sie zu. Ihm folgte, nicht minder aufgelöst, die dürre Gestalt Daliahs. Rachel kam auf die Beine und wischte sich unsicher die Hände an ihrer Jeans ab. Warum kamen die beiden so früh zurück? Als sie das Kuchenpaket sah, das Daliah eher auf den Tisch warf als ablegte, wusste sie die Antwort: Frankfurter Kranz. Niemand konnte mehr als ein Stück davon hinunterbringen. Uris Schwester Taljah bestand immer darauf, ihren Gästen die Reste mitzugeben, was schätzungsweise zwei Kilo dieser Monstrosität aus Buttercreme und Krokant bedeutete. Die Gespräche mit ihr waren ähnlich schwer verdaulich: Nachbarschaftsklatsch, Krankheiten, ihre eigenen ebenso wie die, vor denen Uri sich hüten sollte, politisches Halbwissen, gepaart mit Verschwörungstheorien. Jede Chance zur Flucht wurde ergriffen, keine Ausrede war zu dünn, um nicht an den Haaren herbeigezogen zu werden. Heute mussten Uri und Daliah besonders gut geschwindelt haben, denn so schnell konnte sich sonst niemand aus den Untiefen von Tajahs Buttercreme befreien.

Uri sah das von Rachel angerichtete Chaos und drehte sich zu seiner Frau um. »Du bleibst draußen.«

»Aber …«

Sein Blick signalisierte ihr, dass es besser war, ihm zu gehorchen.

»Wir reden noch«, keifte sie in Richtung Rachel.

Bestimmt nicht.

»Was tust du hier?« Uri warf seine Kippa auf den Couchtisch und nahm die Schachtel mit den Schneckenzangen hoch. Er hielt sie Rachel anklagend entgegen. »Wolltest du die hier mitnehmen? Dann hättest du nur zu fragen brauchen. Die sind von deiner katholischen Großmutter aus Wiesbaden. Pack sie ruhig ein. Es ist dein Erbe.«

Er warf die Schachtel auf den Tisch. Der Deckel sprang auf, die Zangen landeten klirrend auf den Kacheln. Es war so absurd, dass Rachel beinahe laut aufgelacht hätte. Sie konnte sich gerade noch beherrschen.

»Ich habe keine Großmutter in Wiesbaden. Das ist deine Familie. Nicht meine.«

Sie betrachtete den Mann, der sie großgezogen hatte. Seine hagere Gestalt, die immer ein wenig zu schwanken schien, wenn er sich aufrichtete. Die tiefen Falten um den Mund, das Gesicht eines enttäuschten Gelehrten. Sie war überrascht, dass sein Anblick Trauer in ihr hervorrief. Sie hatte mit Wut gerechnet.

»Ich suche Rebeccas letzten Brief.«

»Du suchst was?« Er ging zum Schrank. Wütend betrachtete er die Verwüstung, die sie angerichtet hatte.

»Rebeccas Abschiedsbrief. Er wird im polizeilichen Untersuchungsbericht erwähnt.«

Langsam schloss er die hölzernen Türen. »Du warst bei der Polizei?«

»Nein. Bei der Staatsanwaltschaft im Beit Hadar Dafna.«

Das Hadar-Dafna-Building war ein vierzehnstöckiges Verwaltungsgebäude mit mehr als tausend Büroräumen an einer dicht befahrenen Straße in Tel Aviv. Gerüchten zufolge, die vor allem durch Romanautoren wie Frederick Forsyth und Tim Powers angefeuert wurden, nutzte der Mossad einige der Etagen.

Ob sie stimmten oder nicht – wer zur Staatsanwaltschaft musste, hatte sowieso andere Sorgen, als sich darum Gedanken zu machen. Rachel war unangemeldet dort aufgetaucht, geradezu kopflos im Vergleich zu ihrer sonst eher analytischen, kühlen Vorgehensweise. Aber wer verhielt sich schon normal, wenn sich ein ewig schwelender Verdacht zu einem seelischen Flächenbrand ausweitete?

Eine nette Offizierin hatte sie ins Archiv begleitet. Rachels Ausweis und ihre Geburtsurkunde reichten, um Einblick in die Akte Rebecca Cohen nehmen zu dürfen. Darin gab es auch einen Anhang mit Fotos. Rachel hatte sie sich nicht angesehen. Es gab so wenige Erinnerungen an ihre Mutter. Genau vier Bilder, die Rachel hütete wie einen Schatz. Die Aufnahmen vom »Auffindeort der Leiche« hätten ein so schreckliches Gegengewicht dazu gesetzt, dass sie darauf verzichtete. Sie erinnerte sich noch daran, dass sie zu zittern begonnen hatte und die Offizierin mit einem Glas Wasser herbeigeeilt war. Rachel war in diesem Moment nichts anderes gewesen als ein einziger unfassbarer Gedanke: Ich bin nicht schuld am Tod meiner Mutter. Aber wer dann?

»Der Brief«, wiederholte Rachel und kam auf ihn zu. Uri hatte die Augen geschlossen. Wieder schien es, als ob er kaum merkbar schwanken würde. »Er ist weg. Wo hast du ihn versteckt?«

Sie hob die Hand. Er stand immer noch da, als ob er im Stehen schlafen würde. Langsam ließ sie sie wieder sinken. Sie brachte es nicht über sich, ihn zu berühren.

»Ich habe mir die ganze Akte durchgelesen. Ich will den Abschiedsbrief meiner Mutter.«

»Es gibt keinen.«

»Lüg mich nicht an!«

»Sie hat nichts hinterlassen. Dir nicht und mir auch nicht.«

Lauernd trat sie einen Schritt näher. »Nicht mal ihm

Er sagte nichts. Lots Weib war ein Mann und sein Name war Uri. Mit einem Blick voller Verachtung wandte sie sich ab und nahm ihre Tasche.

»Nein«, sagte er leise.

»Was? Ich kann dich nicht hören, Vater

»Nein!«

»Du lügst!«

Die Tür wurde aufgerissen. Daliah stürmte in den Raum, gefolgt von Joel. Beide, Mutter und Sohn, hatten rote Flecken im Gesicht. Selbst im Ärger waren sie sich so ähnlich.

»Was ist hier los?«, schrie Daliah. Sogar ihre Ohren waren rot, wahrscheinlich weil sie sie abwechselnd zum Lauschen an die Tür gepresst hatte. »Ich lasse nicht zu, dass du meine Familie terrorisierst!«

Rachel ging an ihr vorbei. Ohne ein Wort des Abschieds, ohne auch nur einen von ihnen anzusehen. Aber Daliah ließ sich nicht so einfach abschütteln.

»Ich will, dass das aufhört. Verstehst du mich? Hörst du mir zu?« Sie war Rachel in den Flur gefolgt, packte sie an der Schulter und zog sie mit unerwarteter Kraft zu sich herum. »Wir haben alles für dich getan. Alles!«

»Ihr habt mich verarscht«, zischte Rachel. »Ihr beide. Ihr habt meine Herkunft vernichtet. Und jetzt, wo ich etwas darüber herausfinden will, bin ich es, die das Haus zum Einsturz bringt?«

Daliah ließ sie los. Im Halbdunkel des Flurs glänzten ihre weit aufgerissenen Augen wie im Fieber. »Du weißt nicht mehr, was du sagst. Du bist verrückt.«

»War es Rebecca?«

Der Flur verdunkelte sich noch mehr. Joel stand im Türrahmen zum Wohnzimmer.

»Sie hat dir Uri weggenommen. Hast du ihr dafür den Mann genommen, den sie geliebt hat?«

»Was?«, flüsterte Daliah. Ihre Lippen bebten vor Wut. Hass züngelte in ihren Augen, es war wie ein kleines Feuer, das in diesem blutleeren Gesicht entzündet wurde.

»Es muss ja nur ein kleiner Trick gewesen sein. Nichts Schlimmes. Eine simple Intrige, um zwei Menschen eins auszuwischen, die das Glück gepachtet hatten. Du hast deins ja bloß im zweiten Anlauf gekriegt. Genau wie Uri. Zwei zweite Geigen. Zweimal zweite Wahl. Passt doch.«

Der Schlag traf Rachels Wange mit solcher Wucht, dass sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand schlug. Joel riss Daliah im letzten Moment zurück, sonst hätte sie gleich die nächste Ohrfeige ausgeteilt. Rachel hielt die Hand an ihr brennendes Gesicht. Sie war mehr verblüfft als verärgert. Einen solchen Gewaltausbruch hatte sie Daliah nicht zugetraut.

»Hör auf!«, brüllte Joel. Mit noch größerem Erstaunen registrierte Rachel, dass er sie meinte und nicht seine Mutter, die nun in ein röchelndes Schluchzen ausbrach. »Es ist genug! Genug! Egal, was passiert ist, du hast nicht das Recht, meine Eltern zu beleidigen.«

Rachel nickte und stieß sich von der Wand ab. »Na, dann entschuldige ich mich doch mal in aller Form bei deinen Eltern

Sie war schon im Hof, als sie die schweren, schnellen Soldatenschritte ihres Bruders hinter sich hörte.

»Warte!«, rief er.

Rachel drehte sich um. »Joel, es ist okay. Tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint.«

Er nahm sie in die Arme. »Egal was ist, du bleibst meine Schwester.«

Sie nickte, so gut ihr das in seinen muskulösen Armen möglich war.

»Du weißt doch, wie sie sind«, sagte er und ließ sie los. »Was ist das überhaupt für ein Brief?«

»Der Abschiedsbrief meiner Mutter, bevor sie sich in der Klinik das Leben genommen hat. Er ist für mich. Oder für … für den Mann, der mein leiblicher Vater ist.«

»Rachel, das ist so lange her. Den gibt es bestimmt nicht mehr.«

»Würdest du so einen Brief vernichten?«

Seine glatte Stirn runzelte sich. »Lass uns doch mal gemeinsam nachdenken. Der Brief. Hat sie ihn zu dir gelegt? Ins Tuch oder so?«

»Nein.« Es fiel ihr schwer, darüber zu sprechen. Ihr Gesicht schmerzte, und sie hatte sich danebenbenommen. Joel war ihr einziger Verbündeter. »Sie hatte ihn bei sich. Wahrscheinlich in den Händen, aber er muss runtergefallen sein, als sie … als sie gestorben ist«, endete sie mühsam.

»Und dann?«

»Die Polizei hat ihn der Schwester gegeben, damit sie ihn in Verwahrung nimmt und weiterleitet.«

»Dann hat ihn wahrscheinlich der Lover, entschuldige bitte, der Geliebte deiner Mutter. Ja genau, er wird ihn haben. Und er wird wahrscheinlich nicht freudestrahlend auf dich zueilen und dich in die Arme schließen.«

Nein. Wahrhaftig nicht.

Noch nicht mal ein Brief, dachte sie. Kein Wort hat sie mir hinterlassen. Ich komme ja kaum hinterher damit, wie viele Menschen mich in meinem Leben verraten haben.

»In welcher Klinik war das?«

»Im Hadassah Medical Center.«

»Hier? In Yerushalayim?«, fragte er erstaunt.

»Nein, in Tel Aviv.«

»Wer hat sie überhaupt gefunden?«

»Eine Schwester.« Überrascht sah sie Joel an. »Eine Krankenschwester. Maya … Maya irgendwas. Oh Joel!«

Sie warf sich ihm an den Hals und drückte ihm einen schallenden Kuss auf die Wange.

»Bin ich also wieder dein Bruder, was?«, fragte er ärgerlich.

»Es tut mir leid. Ich bin total durcheinander. Und stinksauer auf Uri. Und auf Daliah. Ich kann ja verstehen, dass deine Mutter diese erste Ehe am liebsten ausradieren würde. Aber so funktioniert das nicht. Ich bin nun mal da. Und mit mir all die Fragen.«

Er nickte und trat zurück in den Türbogen. »Was wirst du jetzt tun?«

»Weitermachen. Meinen Vater suchen, bis ich ihn finde. Den Mann, der schuld daran ist, dass meine Mutter sich umgebracht hat.«

»Was du da oben gerade gesagt hast …«

»Das war Blödsinn, und es tut mir leid. Es muss damals so viele Verletzungen gegeben haben, dass die beiden bis heute nicht darüber hinweg sind. Obwohl es langsam mal Zeit wäre, oder?«

Ein schwaches Lächeln begleitete sein Nicken. »Und dann?«

Rachel verlagerte den Riemen ihrer Tasche von der einen auf die andere Seite. »Keine Ahnung. Ihm ins Gesicht spucken, wenn ich ihn gefunden habe, diesen Verräter.«

»Sag Bescheid, wenn es so weit ist. Er kriegt von mir eine Kugel zwischen die Augen.«

Sie spürte den Lauf ihrer Pistole durch den dünnen Baumwollstoff.

Nett von dir. Aber das ist mein Job.

»Schalom, Joel.«

»Schalom, Rachel.«

Er hob die geballte Faust, sie stieß leicht mit ihrer an seine. So trennten sie sich in dieser stillen Seitenstraße des jüdischen Viertels von Jerusalem. Dieses Mal ging Rachel durch das Jaffator.