12
»Ich komme.«
»Gut.«
Rachel Cohen atmete erleichtert auf. Sie warf das Handy in ihre Handtasche und verließ an diesem Samstagmorgen ihr Apartment am Basel Square in großer Hast. Die vier Blocks hinunter zur Dizengoff Street lief sie zu Fuß. Das war immer noch schneller, als ein Taxi zu rufen und darauf zu warten, ob es auch käme.
Es war ein erstaunlich frischer und klarer Morgen für diese Jahreszeit. Das Meer, nur ein paar hundert Meter entfernt, schickte die Schreie der Möwen und den Duft nach Sand und Tang herüber.
Normalerweise säße sie jetzt mit ein paar Freunden am Gordon Beach und würde die Stand-Up-Paddler beobachten, die Windsurfer und die Schwimmer, die sich die Wellen teilten, bevor die Touristen den Strand bevölkern würden. Und natürlich die tätowierten jungen Männer mit ihren muskulösen Körpern, die genau wussten, dass man ihnen mit Blicken folgte, wenn sie vorüberjoggten. Oder sie säße mit Haylee in einem der kleinen Coffeeshops im Yemenite Vineyard, dem quirligen Viertel rund um den Carmel Market. Zu ihren Füßen die Einkaufstaschen, aus denen die Beute des frühen Morgens herauslugen würde: Avocados, Trauben, dunkelrote, kleine Tomaten, ein Pfund Hummus von Ahmad, der sein Geheimrezept für Kichererbsenpüree hütete wie einen Schatz. Sesamkringel, Tahini, Baguette, Croissants und Profiteroles. Letztere eine Morgengabe der französischen Immigranten, die dem Norden von Tel Aviv den Beinamen »Klein Paris« beschert hatten. (War es nötig zu erwähnen, aus welchen bösen Gründen in den letzten Jahren so viele Juden aus Frankreich nach Israel gekommen waren? Benjamin Netanjahu lud sie alle ein zu kommen, aus Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien … An den Tischen der Cafés wurde oft darüber diskutiert, wie Israel die Einwanderermassen bewältigen sollte, sollten tatsächlich alle der Einladung folgen).
Rachels Magen knurrte, und sie wünschte sich, sie hätte ihre Wohnung nicht ohne einen Espresso verlassen.
Aber sie musste so schnell wie möglich in die Firma. Die Lufthansa-Maschine war erst nach Mitternacht in Tel Aviv gelandet. El Al flog freitags nicht, und sie war froh gewesen, dass sich vor dem Terminal noch ein paar übermüdete arabische Taxifahrer aufgehalten hatten. Die kurze Fahrt vom Ben-Gurion-Airport zu ihr nach Hause hatte sie, ebenso wie den Flug, in aufgekratzter Müdigkeit verbracht. Nach dem Schock war die Angst gekommen und nach der Angst die Flucht. Die Dinge waren ihr aus der Hand geglitten, und jedes Mal wenn sie im Flieger kurz eingenickt war, deutete Scholl mit zitternder Hand auf sie, öffnete den Mund, und aus diesem Mund quoll Blut …
Dann die Furcht, dass man sie doch noch erwischen würde. Zur Untätigkeit verdammt, die Zeit im Nacken, saß sie eingeklemmt zwischen den engen Sitzen und verbrachte so die längsten vier Stunden ihres Lebens. Beim Landeanflug hatte sie sich über ihren schlafenden Sitznachbarn gebeugt und die schimmernde Küstenlinie betrachtet. Vielleicht sind es meine letzten Minuten in Freiheit, hatte sie gedacht. Fast wären ihr die Tränen in die Augen gestiegen, als sie den alten Hafen von Alt-Jaffa erblickte und die hell erleuchteten Hotels. Tel Aviv, meine große Liebe. Du hast die Flüchtenden schon immer an dein großes Herz gedrückt. Bitte lass mich nicht hängen.
Die Nervosität bei der Einreise, als ihr schien, dass man ihre Papiere diesmal länger als nötig prüfte, dann ein knappes Lächeln. »Brukhim haBaim.« Willkommen, aufatmen.
Ich bin zurück.
Zurück von dieser wahnsinnigen Reise nach Berlin und so vielen Fragen, zurück, um neue zu stellen, die mir Angst machen. Zurück in der Ungewissheit, die nur noch schlimmer geworden ist, zurück von den Toten …
In ihrem Apartment angekommen hatte sie den Koffer unausgepackt in die Ecke gestellt, eine Schlaftablette genommen und sich trotzdem unruhig durch den Rest der Nacht gequält.
An der Dizengoff Street hielt sie Ausschau nach einem Taxi. Schabatt, bis Sonnenuntergang. Die Fahrer der wenigen Wagen waren Araber oder Touristen. Normalerweise liebte sie diese ruhigen Stunden, in denen die Stadt, die niemals schlief, Atem schöpfte. An diesem Morgen jedoch verfluchte sie die Tatsache, nicht schon Anfang der Woche nach Berlin geflogen zu sein. Aber es hatte ja alles schnell gehen müssen, wie immer bei ihr. Nur hatte dieses Mal kein Rick neben ihr gestanden und »Mach mal langsam« gesagt.
Rick! Sein Name war ein Stich ins Herz. Allein seinetwegen hatte sie die Büchse der Pandora geöffnet. Die Ungeheuer, die sie befreit hatte, drohten sie nun zu verschlingen.
Ein uralter Ford hielt neben ihr. »Wohin?«
»Rothschild.«
Der Fahrer, ein junger Palästinenser, drehte die arabische Musik im Radio leiser und öffnete ihr die Tür. Rachel ließ sich auf den Sitz fallen, und der Wagen setzte sich, schwankend wie ein Schiff, in Bewegung.
Die kurze Strecke fuhr sie eigentlich mit ihrem eigenen Auto. Doch das stand immer noch auf dem Parkplatz am Hafen, wo sie sich mit Rick getroffen hatte. Im »Container«, einer Bar, die ihrem Namen alle Ehre machte, aber die besten Drinks am ganzen Mittelmeer servierte. Die Liveband spielte ZZ Top und Madonna, sie hatten getanzt, ausgelassen, wild, bis sie sich in den Armen gelegen und geküsst hatten …
Wieder ein Stich. Sie kannte Rick nun seit einem halben Jahr, er war ein Kollege. Ihre Firma delete.com war eines der erfolgreichen Start-ups, die es aus dem Florentine Quarter an den Rothschild Boulevard geschafft hatten. Zwei Dutzend Mitarbeiter, Israelis, Briten, Deutsche, nach Jahren zwischen Hoffnung und Konkurs endlich zweistellige Gewinne nach Steuern. Die Firma war ihr Baby, das sie großgezogen hatte und auf das sie stolz war. Als Rick zu ihnen gestoßen war, fand sie schnell heraus, dass auch er ein 8200er war – ein Angehöriger der High Tech Development Unit des israelischen Militärs – und dass sie gemeinsam am IDC, dem Interdisciplinary Center, in Herzlia studiert hatten, wenn auch in getrennten Jahrgängen.
Vor Rick hatten ihre Freunde sie gerne damit aufgezogen, dass sie über der Arbeit ihr Liebesleben vernachlässigte. Sie hatte immer darüber gelacht, laut und herzlich. Wenn ihr der Sinn nach Liebe stand, musste sie nur in einen der Clubs gehen, ins »Radio« oder das »Kuli Alma«, und sich einen von den hungrigen jungen Kerlen aussuchen, die dort mit leuchtenden Augen an der Bar standen. »Where do you come from? Tel Aviv?« Für jeden dieser sonnenbrandroten Iren, Franzosen oder US-Amerikaner war es das heißeste, eine waschechte Einheimische aufs Kreuz zu legen. Rachel hatte schnell herausgefunden, dass es einen Zusammenhang gab zwischen der Art, wie ein Mann sich auf der Tanzfläche bewegte, und der, wie er sich im Bett anstellen würde.
Guter Tänzer – du darfst mir einen Drink spendieren.
Schlechter Tänzer – du darfst mir einen Drink spendieren, toda, and bye …
»Mind Space«, sagte sie.
Der Fahrer nickte und schaukelte seine Fregatte über den Boulevard. Fast alle Geschäfte hatten geschlossen.
Rick konnte sogar sehr gut tanzen. Auch im Bett hielt er, was sie sich von ihm versprochen hatte. Es war mehr gewesen als der Hunger nach einer Liebesnacht. Die gemeinsamen Interessen. Wie sie sich die Köpfe heißreden konnten, wenn es um die Weiterentwicklung von delete.com ging. Ihre Ideen, seine Lösungsvorschläge. Rachel hatte begonnen, ihn auch während der Arbeit mit anderen Augen zu sehen. Wenn er im Konferenzraum etwas am Smartboard erklärte, glitt ihre Aufmerksamkeit immer öfter vom Inhaltlichen weg. Sie ertappte sich dabei, wie sie seinen Bewegungen folgte – elegant, zurückhaltend, kräftige, schöne Hände. Wie sie seinen Körperbau beurteilte – breite Schultern, muskulös, mit eins achtzig fast einen Kopf größer als sie. Wie ihre Blicke schließlich sein Gesicht abtasteten – die Stirn fast verschwunden hinter dunklen Locken, dazu der starke Kontrast zu seinen blauen Augen, schmale Nase, sensibler Mund … Er fragte sie etwas, und sie hatte keine Ahnung, worüber er geredet hatte. Da hatte sie sich zum ersten Mal eingestehen müssen, dass Rick sie durcheinanderbrachte.
Oh ja, sie waren ein gutes Team. Bei der Arbeit, beim Tanzen, im Bett. Nach ein paar Wochen ertappte Rachel sich bei dem Gedanken, dass eine Verbindung mit Rick sich nahtlos in ihren Lebensentwurf einfügen würde. Sie brauchte weder Kinder noch Familienleben, um glücklich zu sein. Auch keinen Partner, der sich aus kleinlicher Eifersucht nicht damit zufriedengab, die zweite Geige zu spielen. Der Mann, der es eines Tages an ihrer Seite aushalten sollte, musste souverän und stark genug sein, um ihr zu folgen. In einem Land wie Israel, das in Rachels Augen von Machos regiert wurde, war so jemand schwer zu finden. Bis Rick aufgetaucht war.
Die Erinnerung an ihre letzte gemeinsame Nacht schmerzte deshalb so sehr, weil Rachel zum ersten Mal das Gefühl gehabt hatte, mit diesem Mann mehr als nur das Bett teilen zu wollen. Sie hatten immer öfter von Dingen gesprochen, die in der Zukunft lagen. Einer gemeinsamen Zukunft. Warum also keine Hochzeit?
Aus diesem Grund war sie, ohne lange darüber nachzudenken, an den alten Schrank ihres Vaters gegangen und hatte die Hutschachtel durchstöbert. Darin lagen alte Fotos, die keinen Platz in den Alben gefunden hatten, ein paar Postkarten in Schwarzweiß, einige Urkunden, alte Zeugnisse, das Familienbuch – und ganz unten der Umschlag. Fassungslos war sie mit dem Gedicht und den Ferry Tickets in der Hand vor ihren Vater getreten.
»Was ist das? Was hat das zu bedeuten?«
Uri war so bleich geworden wie das Papier in ihrer Hand. Sie hatte ihn angeschrien, gefleht, gebettelt. Warum hast du mich angelogen all die Jahre? Rechne doch mal zurück. Sag mir, wer dieser Mann war, mit dem meine Mutter durchbrennen wollte.
Er hatte einfach die Augen geschlossen und alles über sich ergehen lassen. Beharrlich hatte er geschwiegen. In diesem Moment war er nicht mehr ihr Vater. Aller Respekt, alle Liebe, die sie je für ihn empfunden hatte, waren verschwunden. Noch nie hatte sie einen Menschen so sehr gehasst.
Der Fahrer bog in den Rothschild Boulevard ein. Rachel sah aus dem Fenster, aber sie nahm die Gebäude nicht wahr. Stattdessen lief sie in Gedanken noch einmal die Treppen zu Ricks Wohnung hoch. Nie in ihrem Leben hatte sie so eine überwältigende Sehnsucht nach einem Menschen verspürt, einem Menschen, der sie verstehen würde. Dem sie sich anvertrauen konnte. Der sie in die Arme nehmen und ihre Tränen trocknen würde.
Die Tür zu seiner Wohnung öffnete sich. Heraus trat eine Frau Anfang dreißig, bleich, in weiter Bluse und langem Rock. Sie trug eine Perücke, die typische Kleidung einer haredit. Überrascht blieb Rachel stehen. Was hatte eine eshet chayil, die »ehrenwerte Frau« eines orthodoxen Juden, bei Rick verloren? Noch dazu allein, im Sündenbabel Tel Aviv, in das diese streng religiösen Eiferer keinen Fuß setzten?
Da erst entdeckte sie Rick, der gerade die Tür schließen wollte, und es war wie ein weiterer Schnitt ins Herz. Er wirkte überrascht, beinahe übertölpelt, während die Frau Rachel abschätzig von oben bis unten betrachtete.
»Wer ist das? Will sie zu dir?«
Langsam, wie in Trance, stieg Rachel zwei weitere Stufen hoch. Rick sah aus, als würde er am liebsten im Erdboden versinken.
»Ja«, antwortete sie ebenso gedehnt wie abwartend. »Rick?«
Er holte tief Luft. »Darf ich vorstellen? Rachel Cohen, meine Chefin. Und das ist Sofia, meine Frau.«
Rachel schloss die Augen. Es war ihr egal, ob der Fahrer sie verstohlen musterte und sich fragte, was mit seiner seltsamen Passagierin nicht stimmte.
Der Schmerz verwandelte sich in kalt glühende Wut. Zweimal verraten, beide Male von den Menschen, die sie am meisten liebte. Ja, sie hatte Rick geliebt. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie sich dieses Eingeständnis in einem glücklicheren Moment hätte geben können.
»Madam?«, fragte der Fahrer.
Sie nickte ihm kurz zu. »Alles okay. Da vorne können Sie mich rauslassen.«
Rachel war gegangen ohne ein Wort, den triumphierenden Blick der anderen im Rücken, dazu Ricks schwaches »Lass uns reden«. Aus, aus, aus. Weg mit diesem Menschen aus ihrem Herzen.
Noch auf dem Weg hinunter auf die Straße hatte sie den Entschluss gefasst, nach Berlin zu fliegen. Unmöglich, Rick am nächsten Tag im Büro in die Augen zu blicken. Irgendetwas musste zwischen sie und dieses doppelte Waterloo. Etwas, das ihr Klarheit über ihre Herkunft bringen würde, einen tiefen Schnitt, neue Erkenntnisse. Die Wut, derart belogen worden zu sein, hatte sie bis nach Berlin getragen. Ab da war alles schiefgegangen …
»Fünfzehn Schekel.«
Der Fahrer hielt. Rachel reichte ihm einen Zwanziger, wartete nicht auf das Rückgeld und stieg aus.
Sie stand vor einem futuristischen Gebäude, schwarz verglast, statt Ecken kühn geschwungene Linien: das Mindspace. Ein Bürohaus am Boulevard Rothschild, in dem sich Start-ups und High-Tech-Entrepreneure angesiedelt hatten. Im Herzen der Weißen Stadt, dem Bauhaus-Viertel, wo sich auf wenigen Kilometern Banken, Theater, Geschäfte und Sterne-Restaurants drängten. In der Mitte der breiten Straße ein Grünstreifen, Treffpunkt von Flaneuren, Touristen und Geschäftsleuten, die an einem der vielen Kioske einen Bagel oder ein Sandwich als schnelle Mittagsmahlzeit zu sich nahmen.
Der Umzug aus dem quirligen Florentine Quarter an den vornehmen Boulevard hatte für Rachel symbolischen Charakter. Die Zeiten von Chaos und Aufbruch waren vorbei. Jetzt kam die Konsolidierung.
Während sie das Foyer betrat und auf den Aufzug wartete, zog sie Parallelen zu ihrem eigenen Leben. Ja, es war an der Zeit. Sie durfte ihre Energie nicht an nutzlose Gefühle verschwenden. Ob Vernau ein guter Tänzer war?
Sie erreichte den sechsten Stock, schlüpfte ungeduldig durch die erst halb geöffneten Lifttüren und hastete den Gang hinunter zu einer der vielen Glastüren.
Delete.com.
Ihr Baby. Ihre Firma. Ihre Rettung.
Der Kaffeeduft überraschte sie. Als Erstes kam ihr Haylee entgegen, Mitte zwanzig, punkig rote Haare, wie immer in ihrem Ramones-T-Shirt (besaß sie eigentlich noch ein anderes?), eine Immigrantin, die es aus den endlosen Maisfeldern von Marshall glücklicherweise an die University of Illinois in Champaign geschafft hatte und nach ihrem Abschluss weiter nach Tel Aviv. Haylee war eine der besten Programmiererinnen, die Rachel kannte. Zweimal die Woche nahm Sie Hebräisch-Unterricht.
»Hi. Schabatt Schalom.«
»Schabatt Schalom«, antwortete Rachel.
Es war normal, dass auch am Wochenende gearbeitet wurde. Ihre Kunden zahlten für den Support, vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Wer in Tokio, Houston oder Paris würde schon verstehen, dass der Schabatt am Freitag bei Sonnenuntergang begann und bis zum Aufgehen der drei Abendsterne am Samstag andauerte? Tel Aviv war keine religiöse Stadt. Wer am Wochenende arbeiten musste, der tat es.
Haylee grinste ihr Koboldlächeln. »Auch einen Kaffee?«
»Gerne.«
Rachels Puls begann zu jagen, als sie am Fenster die vertraute Gestalt von Rick erkannte. Wie immer sah er nur kurz hoch und nickte ihr zu. Das beruhigte sie, und gleichzeitig kroch Wut in ihr hoch. Gut. Keine Szene, keine Erklärungen. Saß einfach da wie immer, der Typ. Hatte ja auch nur mal eben eine kleine Terminkollision zwischen Ehefrau und Geliebter ohne Schaden überstanden. Der kommt noch, dachte Rachel. Mach dich auf was gefasst.
»Wie war Berlin?«
»Berlin? Gut. Danke.«
Rachel durchquerte das Großraumbüro und ging direkt auf Rick zu. Ihr Atem schien auf einmal nicht mehr zu reichen, die Knie wollten ihr auch nicht mehr so recht gehorchen. Teenager-Allüren. Sie blieb vor ihm stehen und verschränkte die Arme.
»Kommst du mal?«
Überrascht blickte er auf. Um ihre Unsicherheit zu verbergen, hatte sie einen besonders kühlen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Aber sie merkte, wie die kühle Selbstsicherheit zu bröckeln begann.
Sie wartete, bis er ihr Büro betreten hatte, und schloss die Tür besonders sorgfältig. Dann stellte sie die Jalousien vor den Fenstern so ein, dass niemand hineinsehen konnte. Im schattigen Halbdunkel bemerkte sie, dass er grinste.
Sogar das stand ihm gut.
»Du musst meinen Rückflug und die Einreise nach Israel löschen.«
Bis ihr Computer hochgefahren war, dauerte es zwei Minuten. Genug Zeit, die Dinge klarzustellen.
»Das mit uns …«, begann sie.
»Schon klar.«
Sie wich seinem Blick aus, in dem sie etwas Forschendes zu erkennen glaubte.
»Längst unter Fehltritt verbucht.« Ihre Stimme klang kühl, als würde sie gerade das Übernahmeangebot eines Weltkonzerns ablehnen und sogar geheime Freude an der Abfuhr verspüren.
»Lass mich doch erklären, wie …«
»Vergiss es. Wirklich. Das ist mein Ernst.«
Rick schlenderte auf ihren Schreibtisch zu und nahm dahinter Platz. Sie musste stehen bleiben oder sich in einen der Besuchersessel setzen – in beiden Fällen würde er die Oberhand im Raum behalten. Sie sollte ihn rauswerfen. Sofort.
Er drehte den Monitor in seine Richtung. Ruhig bleiben, ganz ruhig. Du bist seinen Machoallüren und seinem Grinsen auf den Leim gegangen und hast lange genug geglaubt, euch würde etwas verbinden. Aber das war ein Irrtum.
»Lufthansa?«, fragte er.
Rachel nickte und kam um den Schreibtisch herum. Über seine Schultern hinweg konnte sie sehen, dass er gerade den Gateway zur ebase, dem Intranet der Lufthansa öffnete. Über die Crew Optimizer Suite gelangte er zur NetLineLoad und von dort zu den Ladeplänen – der Sesam-öffne-dich für die Passagierliste. Während er konzentriert tippte, hob sie eine Jalousie und spähte hinunter auf die Straße.
Nichts Neues auf dem Rothschild Boulevard. Der Kiosk gegenüber öffnete gerade.
Jemand klopfte an die Tür.
»Ja?«
Es war Haylee, die den Kaffee brachte und sich einen neugierigen Seitenblick auf Rick nicht verkneifen konnte. Sorry, Süße, du hast uns nicht beim Knutschen überrascht.
»Danke.«
»Du auch einen, Rick?«
Rachel übernahm das Antworten. »Er ist gleich fertig.«
»Ich bin gleich fertig«, wiederholte Rick wesentlich freundlicher.
Haylee nickte und trollte sich ohne weitere Fragen. Dicke Luft bei der Chefin.
»Bist du als Talia eingereist?«
Rachel nickte. Rick beugte sich wieder über die Tastatur.
»Dann werden wir sie auch wieder ausreisen lassen.«
Talia war eine kosmopolitische Mittdreißigerin, die als selbstständige Inhaberin eines Waschsalons ziemlich gut verdiente und sich mal in den Casinos von Las Vegas, mal an der Wall Street und gerne auch in Paris, London oder Berlin herumtrieb. Nach der ehrenhaften Beendigung ihres Wehrdienstes hatte sie sich bei Ramallah als Siedlerin niedergelassen und brauchte deshalb keinen Waffenschein. Alljährlich kaufte sie die zugelassene Ration von fünfzig Patronen und bunkerte sie in einem Schließfach der Bank of Israel. Sie besaß sämtliche Kreditkarten und den begehrten zweiten Reisepass – ausgestellt von einer Kreisstadt in der norwegischen Finnmark, parkte im Jahr durchschnittlich zweimal falsch und bezahlte die Strafzettel ebenso pünktlich wie Miete, Steuern, Versicherungen und ihre Handyrechnung. Talia war eine vorbildliche Bürgerin des Staates Israel – mit einem winzigen Fleck auf ihrer blütenweißen Weste: Es gab sie nicht.
Sie war eine Erfindung von Rachel. Wann immer sie bei delete.com eine fiktive weibliche Person brauchten, die als Placebo für eine echte einspringen musste, durfte Talia herhalten. Ihr männliches Pendant hieß Dor und führte ein ähnlich unspektakuläres Leben wie sie. Es sei denn, er musste mal eben durch die Passkontrollen von Chile oder einen Platz in einem Flugzeug nach Tokio besetzen.
Außer den Mitarbeitern von delete.com war weder Talia noch Dor irgendjemandem bekannt. Die beiden traten allenfalls in Computerlisten in Erscheinung und hatten keine weitere Aufgabe, außer jener als Platzhalter. Die Kunden von delete.com mussten nicht wissen, wie es dem Unternehmen gelang, ihre Daten aus dem Internet verschwinden zu lassen. Denn genau das war Rachels Geschäftsidee. In einer Zeit, in der selbst der Download eines Tierfilms für alle Zeiten irgendwo gespeichert war, kümmerten sich die Mitarbeiter von delete.com um die digitalen footprints ihrer Kunden – um jene Spuren also, die jeder Klick, jedes Aufrufen einer Webseite, jede Internet-Bestellung, jeder Flug, jedes Konzertticket hinterließen. Sie waren, wie Rick es einmal ausgedrückt hatte, die Putzkolonne im Internet, wofür ihre Kunden einen vergleichsweise geringen monatlichen Betrag zahlten. Das war das Stammgeschäft der Firma. Lukrativ waren die Einzelaufträge, die nach sorgfältiger Prüfung durch assoziierte Rechtsanwälte angenommen oder abgelehnt wurden.
Rachel war sich sicher, dass der Erfolg ihres Unternehmens weiterwachsen würde. Die Sammelwut von Google, Facebook und Yahoo stieg ins Unermessliche. Die Menschen wollten ihre Privatsphäre wiederhaben, und delete.com gab sie ihnen zurück. Unter Einhaltung sämtlicher gesetzlicher Fristen und Regeln löschte das Unternehmen alle Spuren, die seine Kunden im Internet hinterließen. In einigen Fällen, die äußerst diskret gehandhabt wurden, eben auch mit der Hilfe von Talia und Dor.
»Fertig.«
Das genaue Procedere überließ Rachel ihren Mitarbeitern. Sie war diejenige, die ihre Firma nach außen hin vertrat und darauf achtete, dass die Grenzen der Legalität niemals überschritten wurden. Bis auf wenige Ausnahmen. Diese hier zum Beispiel.
Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch und schaltete den Computer aus. »Danke.«
»Alles okay mit dir?«
»Was soll schon sein?«
Rick stand auf, zögernd, als ob er ihren Platz nur ungern verlassen würde. Einen Herzschlag lang glaubte Rachel, er würde auf sie zukommen und sie in den Arm nehmen. Was sollte sie tun? Ihm eine Ohrfeige verpassend oder schluchzend an seine breite Brust sinken? Hoffentlich keins von beidem …
Aber er ging nur zur Tür.
»Nichts.«
Als Rachel allein war, ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und schloss die Augen. Step by step, eins nach dem anderen. Erst mal weg mit Rick und all den peinlichen Erinnerungen. Konzentrier dich auf das, was vor dir liegt.
Du warst nie in Berlin. Du warst nie persönlich bei Vernau, diesem Anwalt. Das Hotel? Zu groß, zu unpersönlich. Gewandte, professionell freundliche Mitarbeiter, die einen Gast vergaßen, sobald er ausgecheckt hatte. Du warst nie bei Scholl.
Das war das Schwerste. Dieses Bild würde sie nie löschen können. Wie er auf der Straße gelegen hatte in seinem Blut. Wie Vernau sie angesehen hatte. Sie musste vorsichtig sein mit diesem Mann. Er war einer von der Sorte, die unbequeme Dinge nicht auf sich beruhen lassen konnten. Er würde eine Zeugenaussage machen, und darin käme ihr Name vor. Was konnte sie dagegen unternehmen? Nichts.
Ich war nicht in Berlin. Es gibt keinen einzigen Beweis mehr. Alles existiert nur in Vernaus Kopf. Und in meinem. Scholl, der in den Himmel gesehen hatte, als ob er wüsste, dass er gleich sterben würde …
Rachel vergrub das Gesicht in den Händen. Sie wollte nicht weinen. Rick würde denken, es wäre wegen ihm. Wie albern. Als ob das noch wichtig war.
Wichtig war eine einzige Frage: Wer ist mein Vater?
Diese Frage hatte Scholl getötet. Sie hatte sie dem falschen Mann gestellt.
Rachel zog die Schreibtischschublade auf. Die Desert Eagle lag in einer Kassette, zu der nur sie und Haylee einen Schlüssel hatten. Es war eine schwere, eher unhandliche Waffe, aber sie war zuverlässig und wirkte furchteinflößend. Mochte Talia nur eine Erfindung sein – ihre Pistole war echt.
Rachel ließ sie in ihrer Handtasche verschwinden und schloss die Kassette wieder ab. Ein Blick auf ihre Armbanduhr: zehn vor elf. Es war Zeit für den nächsten Schritt.