30

Die Sonne stand tief am Himmel, als ich die Dachterrasse betrat. Der Ausblick über Jerusalem war überwältigend. Die goldene Kuppel des Felsendoms erhob sich aus einem Meer von weißen und grauen Würfeln, auf denen Satellitenschüsseln und Klimaanlagen der einzige Hinweis darauf waren, dass wir uns im einundzwanzigsten Jahrhundert befanden.

Die sukka war eine Art Bretterverschlag mit kleinen Fenstern. Statt eines Daches trug sie belaubte Äste, deren Blätter mittlerweile verdorrt waren, und stand auf der Mitte der Terrasse. Eine Mauer umschloss die vier Seiten, hoch genug, um zu schützen, niedrig genug, damit man auch im Sitzen den Ausblick genießen konnte. Zwei ausrangierte Sessel waren hinaufgewuchtet worden, auf einer alten Weinkiste standen abgebrannte Windlichter und zwei leere, verstaubte Flaschen. Ich vermutete, dass Joel noch den einen oder anderen Abend hier oben verbrachte. Sonst wirkte das rooftop bis auf die Tage des Laubhüttenfestes verwaist.

Rachel lag auf einer Pritsche und schlief. In dieser Hitze. Durch die Ritzen der Bretter fielen Sonnenstreifen, in ihnen tanzte Staub. Sie bewegte sich, blinzelte, öffnete dann erstaunt die Augen.

»Joe?« Ihre Hand schoss blitzschnell in die Tasche.

»Lass das.«

Sie sah mich an und rührte sich nicht mehr. Es gab nichts, worauf ich mich setzen konnte, nur den blanken Boden. Aber so wie ich mittlerweile aussah, konnten mir Staub und Dreck auch egal sein.

»Ist alles in Ordnung?«

Als Antwort hob sie den Arm. Blaue Flecken, mehr nicht.

»Und bei dir? Bist du verrückt geworden?« Sie richtete sich etwas auf.

»Du warst anders nicht zu stoppen.«

»Wir hätten beide dabei draufgehen können.«

»Wir doch nicht. Wir sind aus Stahl, stimmt’s?«

Sie reichte mir ihr Kissen, das ich auf den Boden legen konnte. Ich fühlte mich alt. Jeder Knochen tat mir weh. Am meisten die verletzte Rippe. Ich wusste, wie gefährlich eine solche Verletzung sein konnte, aber ich blendete den Gedanken genauso aus wie den, wo das alles enden sollte. Zwei auf der Flucht. Zwei, die sich misstrauten. Zwei, die trotzdem nicht ohne den anderen weiterkamen. Ich hatte einer fremden jungen Frau einen Gefallen tun wollen und fand mich auf einem Dach in Jerusalem wieder. Es gab Menschen, die schlimme Dinge von mir dachten, und ich wollte das wieder in Ordnung bringen.

»Wie hast du mich gefunden?«

Ihre dunklen Augen blickten kühl. Sie hatte einen kleinen Zweig in den Haaren. Beinahe hätte ich ihn herausgepflückt.

»Das war leicht. Ich habe mit Uri gesprochen.«

»Oh, er redet mit dir«, sagte sie spöttisch. »Das sind ja ganz neue Entwicklungen. Kaum taucht Herr Vernau auf, reden die Stummen, und die Verschwundenen erscheinen. Wenn du jetzt noch Tote lebendig machen kannst …«

»Hör auf«, unterbrach ich ihre Ironie. »Ich bin nicht dein Feind.«

Um ihren Mund zuckte ein verächtliches Lächeln.

»Ich kann nichts wissen, denn ich war damals schon gar nicht mehr dabei, Ich habe den Kibbuz zwei Wochen vorher verlassen. Nur für den Fall, dass ich es dir bisher nicht klar genug gemacht habe, dann jetzt mit aller Härte: Rebecca wollte nichts von mir. Das gibt niemand gerne zu, schon gar nicht vor einer Fremden, die du warst. – Bist«, setzte ich hinzu. »Wir kennen uns ja kaum, und viel Zeit für vertrauensbildende Maßnahmen hatten wir bisher nicht. Rebecca war …«

Rachel sah mich aufmerksam an.

»Ich weiß nicht, ob du das kennst«, fuhr ich fort. »Diese Leichtigkeit, mit der Beziehungen beginnen, aber auch wieder beendet werden. Freundschaften, so tief wie eine Pfütze, und ewige Liebe, die noch nicht mal bis zum Morgengrauen dauert. Wir haben etwas verwechselt, damals in Jechida. Wir waren eine Gemeinschaft auf Zeit, aber wir glaubten, alles wäre für immer und ewig.«

Ihr Blick wurde dunkler, fast so, als ob sie diese Erfahrungen kannte und ihrer schon lange überdrüssig geworden war.

»In diesem ganzen Hier und Jetzt, dem Leben für den Augenblick, dem Nichts-verpassen-wollen, gab es etwas, vor dem wir Pfützenschwimmer einen heiligen Respekt hatten: dass uns etwas begegnet, das für immer wäre.«

»Für immer«, wiederholte sie leise. Sie wandte den Kopf ab, damit ich nicht in ihr Gesicht sehen konnte. »Man will es so sehr, nicht wahr?«

»Ja.«

Ich fragte mich, ob sie Goethes Faust gelesen hatte. All unsere großen Fragen, all unsere beschämend kleinen Lösungen waren schon so oft erzählt worden. Sie halfen nicht, es besser zu verstehen. Allenfalls dabei, sich mit der eigenen Ratlosigkeit nicht so allein zu fühlen.

»Rebecca war ein Mensch, bei dem man das Immer wollte. Sie war so etwas wie ein Versprechen, dafür dass es einen Grund gibt, gut zu sein. Dass es die Liebe gibt. Dass man den einen Menschen an der Seite hat, den man braucht, um alles zu überstehen. So war Rebecca. Das löste sie in den anderen aus, in den meisten wenigstens. Noch dazu sah sie aus wie ein Filmstar und konnte sogar Mähdrescher fahren. Wer auch immer dir erzählt hat, sie wäre leichtfertig gewesen, der hat keine Ahnung. Ich glaube, sie hat auf genau so einen Menschen gewartet und ihn gefunden.«

»Und dann …«

»Keiner weiß, was dann geschehen ist. Ich habe einmal versucht, bei ihr zu landen. Es war nicht gerade einer meiner glänzendsten Auftritte, deshalb gebe ich ihn auch nicht so oft zum Besten.«

»Ach ja?« Sie sah mich wieder an, und diesmal funkelte Belustigung in ihrem Blick.

»Rebecca war sehr nett, aber sie hat mich dankend abgelehnt. Es gebe da schon jemanden. Das war ein harter Schlag für mich, denn bis dato hatte ich mich für den größten Verführer seit Valentino gehalten. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre im Staub von Jechida vor ihr auf die Knie gesunken. Glücklicherweise hat sie das nicht zugelassen. Aber seitdem war mir klar, dass es jemanden in ihrem Leben gab. Einen Deutschen, einen von uns.«

»Wen?«

»Das weiß ich nicht. Sie hat es mir nicht gesagt. Wahrscheinlich hat sie geahnt, dass das nur böses Blut geben würde. Ein paar Tage und Nächte machte ich das, was man in solchen Situationen tut: trinken, spielen, einen Ersatz suchen und hoffen, dass man nachts nicht aus Versehen den falschen Namen stöhnt …«

»Echt? Du hast es einfach mit einer anderen getrieben? Du warst so ein fucking asshole

»Nicht nur mit einer, und ich bin nicht gerade stolz darauf. Ich denke, so wie ich mich damals benommen habe, wäre bei manchen durchaus auch heute noch eine Entschuldigung angebracht.« Ich suchte nach Namen, doch mir fiel auf Anhieb keiner ein. »Aber dazu ist es jetzt zu spät. Wir alle müssen lernen, dass unser Bild nicht bei jedem, dem wir im Laufe unseres Lebens begegnet sind, in Silber gerahmt auf dem Kamin steht.«

»Und Rebecca?«

»Ich ging ihr aus dem Weg, weil mir mein Auftritt peinlich war. In der Baracke suchte ich Streit, einmal habe ich grundlos eine Schlägerei angezettelt und bin als geprügelter Hund vom Schlachtfeld. Mike hat mich dermaßen beim Pokern abgezockt, dass ich meine Mutter um eine Blitzüberweisung bitten musste. Sie hatte hart dafür gearbeitet. Letzten Endes war das wohl auch der Grund, warum ich meine Zelte in Jechida früher abgebrochen habe. Sonst wäre ich vielleicht nie dort weggekommen …«

Ich versuchte, mit dem Fuß eine Falte in dem Flickenteppich zu glätten.

»Dann wärst du da gewesen«, hörte ich Rachels leise Stimme. »Denkst du manchmal an dieses Was-wäre-wenn?«

»Seit du aufgetaucht bist.«

Die Falte ließ sich nicht entfernen.

»Sie hätte dich nicht genommen«, fuhr Rachel fort. »Sie wollte, dass ich einen Platz in der Gemeinschaft bekomme.«

»Bei uns gibt es das auch.«

»Für die Tochter einer Jüdin und eines goj? Wie hättest du das denn meistern wollen?«

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben.«

»Hättest du nicht immer Daniel in mir gesehen? Und deine Frau, würde sie nicht immer Rebecca in mir erkennen?«

»Ich habe keine Frau.«

»Warum nicht? Du bist doch schon …« Sie brach gerade noch rechtzeitig ab.

»Alt? Uralt, in deinen Augen.«

»Wenn du damals gewusst hättest, dass Daniel es war, was hättest du getan?«

»Schwer zu sagen. Möglich, dass wir aneinandergeraten wären. Mehr nicht.«

Ihr schmaler Mund wurde zu einem Strich.

»Daniel war ein netter Kerl. Niemand hatte etwas gegen ihn.«

»Trotzdem ist er verschwunden. Spurlos. Ausgerechnet in der Nacht, in der er mit meiner Mutter abhauen wollte. Irgendjemand hat nicht nur sein, sondern auch ihr Leben zerstört.«

»Jedes Jahr verschwinden …«

»Nein! Hast du dich nie gefragt, warum? Wer hatte ein Motiv? Du und deine Freunde? Ihr wart eifersüchtig, okay. Reicht das für einen Mord?«

»Manchmal reicht schon ein Blick. Ein Wort. Ein Euro.«

»Gibt es vielleicht jemanden, für den Rebeccas Liaison ein Verrat an ganz anderen, viel wichtigeren Dingen war? An der Tradition. Der Ehre. Den Religionsgesetzen.«

»Rachel, ich glaube nicht, dass Uri ein Mörder ist.«

»Du glaubst, ja? Weißt du es?« Wieder geriet sie in diese unberechenbare Stimmung zwischen Aufbegehren und Verzweiflung. »Denkst du, mir macht es Spaß, darüber nachzudenken, ob der Mann, den ich all die Jahre für meinen Vater gehalten habe, ein Mörder ist?«

»Das ist doch Wahnsinn! Hör endlich auf damit!«

»Mit was?«

Wir fuhren herum. In dem niedrigen, schiefen Durchgang stand Uri. Kein Muskel in seinem Gesicht verriet, wie viel er mitbekommen hatte von unserem Gespräch. Er trat ein. Damit hatte die Hütte die Grenzen ihrer Kapazität erreicht.

»Was?«, wiederholte er.

Rachel zog die Beine an. Sie sah aus wie ein kleines Kind, das sich zu hoch hinauf an das Regal mit den verbotenen Kisten gewagt hatte.

»Frag!«

Sie sah mich an. Sag du was, flehte ihr Blick.

»Frag!«, schrie Uri.

Rachel zuckte zusammen.

»Sie will wissen …«, setzte ich an.

»Ob ich Daniel umgebracht habe?«

Bei dem Satz schlug Rachel die Augen nieder. Uri zog scharf die Luft ein.

»Hast du’s getan?«, fragte ich. »Oder weißt du irgendetwas aus dieser Zeit? Dann solltest du jetzt damit herausrücken.«

Uri, der Soldat, setzte sich müde auf die Pritsche wie nach einem verlorenen Krieg. Als ob er nicht wahrhaben wollte, dass er geschlagen war, und trotzdem den Nacken beugen musste. Kein Mann, der das Kind eines anderen wie sein eigenes großgezogen hat, will das gefragt werden.

Rachel zögerte, dann legte sie eine Hand auf seinen Unterarm. »’Aba?«

Die Möglichkeit von Schuld war so nah wie nie zuvor. Nur wir drei in dieser engen, heißen Hütte auf einem rooftop in Jerusalem.

»Es ist so lange her«, begann er mit leiser Stimme. So leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. »Fast dreißig Jahre. Man könnte meinen, dass die Dinge irgendwann einmal in Vergessenheit geraten. Aber so ist es nicht.«

Vorsichtig, als ob er sich einem scheuen Vogel nähern würde, legte er seine Hand auf Rachels. Sie ließ es geschehen.

»Jedes Jahr wurde ich daran erinnert. Und jedes Jahr wurde es schlimmer. Dein Geburtstag, Rachel. Jedes Jahr an deinem Geburtstag war es, als ob das alles erst gestern passiert wäre.«

»Was?«, flüsterte sie.