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Alttay rief an. Der Gerichtsreporter der Berliner Tageszeitung wollte ein Interview. Ich lehnte ab und legte auf. Später ärgerte ich mich darüber. Er hatte Informationen, ich nicht. Alttay wusste immer mehr als das, was er schließlich veröffentlichte. Ich würde ihn zurückrufen, sobald ich wieder einigermaßen beisammen wäre, mich entschuldigen und versuchen, mehr in Erfahrung zu bringen, ohne mich dabei von ihm aufs Kreuz legen zu lassen. Aber dafür brauchte ich einen klaren Kopf.

Am Nachmittag stand Marie-Luise mit einer Tüte selbstgebackener Kekse vor der Tür, die wie Tierfutter rochen.

»Warum hast du mich nicht angerufen?«, waren ihre ersten Worte. »Ich komme ins Krankenhaus, und dein Bett ist leer. Hammer! Im ersten Moment denkt man ja an alles Mögliche.«

»Ich musste raus da.«

»Ich an deiner Stelle …« Sie musterte mich genauer. »Das sieht immer noch nicht gut aus in deinem Gesicht. Nicht dass es jemals wirklich gut ausgesehen hätte, du weißt schon, was ich meine. Wie hast du die beiden eigentlich in die Flucht geschlagen?«

»Mit meiner legendären Rechten.«

Sie grinste vielsagend, als ich die Tür hinter ihr schloss und sie vor mir ins Wohnzimmer ging.

»Du bist übrigens mit Lukas M. und Marvin P. aneinandergeraten. Einundzwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt. Zwei echte Schätzchen.«

Eine Weile hatten Marie-Luise und ich eine Bürogemeinschaft gehabt. Was davor zwischen uns gewesen war, war vermintes Gelände, das wir weiträumig mieden. Die Stadt war groß genug für uns beide. Während sie die Kekse in meine Bauhaus-Schale von Marianne Brandt schüttete, die bis dato noch nicht einmal ein Staubkorn hatte berühren dürfen, half sie mir auf der Suche nach den fehlenden Mosaiksteinen.

»Lukas ist seit Ende seiner Lehre als Fachkraft für Automatenservice arbeitslos.«

»Als was?«

»Automatenaufsteller. Ist wohl ein anerkannter Ausbildungsberuf. War mir auch neu. Marvin hat es gar nicht erst versucht. Mehrere Jugendstrafen, Einbrüche, Diebstähle. In den letzten Jahren haben sie sich aber gefangen, wenn man das so nennen kann. Sie wurden … Nun ja, im Jargon nennt man das Pitbulls.«

»Pitbulls.«

Ich setzte mich vorsichtig. Marie-Luise biss in einen Keks, der zu Staub zerfiel und sich in die Schlingen der Auslegware verkrümelte.

»Die beiden waren Ordner, so eine Art Saalsicherheit bei rechts-, sagen wir mal, rechtspopulistischen Versammlungen. Pegida-Demonstrationen, BfD-Parteitage et cetera. Bei ihnen zu Hause hat der Staatsschutz Schlagstöcke, Wurfsterne und Das-Boot-ist-voll-Aufkleber gefunden, das ganze Arsenal. Fehlt nur noch die abgesägte Schrotflinte. Ich habe mir erlaubt, bei Vaasenburg und dem Staatsanwalt als deine Anwältin vorstellig zu werden.«

Ich konnte mir denken, wie ihr Aufzug bei den zuständigen Stellen gewirkt haben musste. Sie sah immer noch aus wie eine Studentin, auch wenn sich langsam erste Fältchen um ihre Augen zeigten. Sie war meine älteste, beste, einzige Freundin. Ich war kein sehr sozialer Mensch. Einer ihrer lobenswerten Charakterzüge war, das völlig zu ignorieren.

»Lukas und Marvin behaupteten, rein zufällig vorbeigekommen zu sein, als du Scholl angegriffen hast.«

Im ersten Moment glaubte ich, sie hätte einen ihrer unverständlichen Witze gemacht. Dann merkte ich, dass sie es ernst meinte. »Als ich was?«

Sie bückte sich und versuchte, einige Krümel aus den Teppichschlingen zu entfernen. Ohne mich anzusehen, sprach sie weiter. »Ist natürlich bullshit. Aber das haben sie zu Protokoll gegeben. Wortwörtlich. Du hättest ihn beleidigt und angepöbelt.«

»Was? Was soll ich getan haben?«

Sie hob die Hand – lass mich doch erst mal ausreden, hieß das. »Ich habe Scholl noch auf dem Revier getroffen. Ich dachte, er freut sich, von dir zu hören. Schließlich wurde ihm kein Haar gekrümmt, während du diese Frettchen am Hals hattest. Du Held.« Sie kam wieder hoch und streute die wenigen Krümel auf die Tischplatte. »Aber er hat sich nicht gefreut. Im Gegenteil. Er wollte am liebsten noch nicht mal Anzeige erstatten.«

»Wie jetzt? Er muss doch wissen, was passiert ist. Er war dabei!«

»Ja. Er sagt, er steht noch unter Schock und will erst mal zur Ruhe kommen.«

»Sonst nichts?«

»Niente. Jetzt will Rütters natürlich wissen, was wirklich vorgefallen ist.«

Rütters, der Staatsanwalt. Ich nickte. Es reichte ihr nicht.

»Was du gesehen hast«, bohrte sie weiter. »Deine Zeugenaussage. Wer wen wann wo wie angegriffen hat. Also, was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie wartete.

»Ich weiß es wirklich nicht. Das Einzige, wofür ich die Hand ins Feuer lege – ich habe Scholl weder angegriffen noch beleidigt.«

»Und?«

Verstand sie denn nicht? Sie hätte mich auch fragen können, was ich an einem bestimmten Tag im vergangenen Jahr gegessen hatte. Ich war in dieser Straße gewesen, aber es fiel mir einfach nicht mehr ein, was sich dort abgespielt hatte.

»Vernau, verstehst du mich nicht? Soll ich es noch mal für dich zusammenfassen? Zwei Hooligans der übelsten Sorte wollen einen Juden vor dir beschützt haben. Vor dir!«

Ich schwieg.

»War es so?«

Ihr Tonfall verschärfte sich, aber dadurch half sie mir auch nicht auf die Sprünge. Sie machte mich nur noch wütender.

»Nein, natürlich nicht. Rachel und ich wollten mit Scholl reden. Nur reden. Ab da setzt es aus.«

»Rachel. Soso.« Sie wischte sich Flusen und Krümel von ihrem Pullover. »Gut. Wie weiter?«

Ich starrte sie an.

»Rachel wie? Hat die Frau auch einen Nachnamen? Eine Rechnungsadresse? Eine Telefonnummer? Irgendwas?«

»Keine Ahnung.«

»Wo finde ich sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Mach dich nicht lächerlich. Sie ist deine Zeugin, und keiner außer dir hat sie gesehen?«

»Sie ist eine Mandantin«, beharrte ich. War sie das? Warum meldete sie sich dann nicht?

Wieder das Bild vom Morgen, eine Momentaufnahme, schnell wie ein Fisch, der aus dem Wasser schnalzt: Ich am Boden, sie über mich gebeugt, Sorge und Angst im Blick, und dann …

Ich stand auf. Jetzt bloß nicht den Faden verlieren. Nur nicht ablenken lassen. Da ist es. Alles kommt wieder. Schneller als gedacht.

»Wir wollten zu Scholl, weil ich ihn kenne.« Ich stockte. Sollte ich ihr sagen, woher? Das würde bloß Fragen provozieren, die ich nicht beantworten wollte. »Jeder in Berlin kennt ihn. Nicht wegen der Bücher. Scholl ist im letzten Jahr als Vertreter des liberalen Flügels bei der Wahl der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde knapp gescheitert. Erinnerst du dich?«

Sie runzelte die Stirn. »Jetzt, wo du es sagst. Warum wollte deine Mandantin zu ihm?«

Ich begann auf und ab zu gehen, um das Schwungrad meiner Gedanken am Laufen halten. »Sie kommt aus Israel, glaube ich. Sie hat einen zweiten Pass und hat hier auch schon mal gelebt. Sie wollte …«

Der Faden war wieder weg. Seltsam. Rachels Mutter war mir sofort wieder eingefallen, auch wenn ich mir das blutjunge Mädchen von damals in dieser Rolle nicht vorstellen konnte. Dafür hatte ich jedes Detail ihres Gesichts vor mir. Die Sonne in ihren dunklen, langen Haaren, den heißen Wind, der ihr Hemd und die weite Arbeitshose flattern ließ. Die Anmut, mit der sie die Hand über die Augen legte, weil das Licht stark blendete, und ihr Lächeln, das sie so verschwenderisch verteilte. Ein Lächeln, das mir in die Seele schnitt, wenn ich nur daran dachte. Aber der Schnitt ging tiefer. Etwas war geschehen, das diesen Sommerbildern die Farbe aussaugte. Sie verblichen vor meinem inneren Auge.

»Was wollte sie?« Marie-Luise war meinem ziellosen Gang mit Blicken gefolgt.

Eine partielle Amnesie, gar nicht so selten. Alles, was mit dem Überfall zusammenhing, sogar der Grund von Rachels Besuch in meiner Kanzlei, war gelöscht.

Ich lief in mein Arbeitszimmer. Während der Computer hochfuhr, klaubte ich aus allen Ecken meines Gedächtnisses die wenigen Splitter zusammen, die mir geblieben waren: Rachel hatte ein hervorragendes Deutsch gesprochen. Als ich sie deshalb lobte, erklärte sie mir, dass sie nach dem Militärdienst einige Zeit in Berlin gelebt hatte. In Friedrichshain, dort also, wo es alle hinzog, die jung waren und noch etwas vom verblassenden Glanz der auferstandenen Hauptstadt erleben wollten. Small Talk, bevor wir auf den Grund ihres Besuches zu sprechen kamen. Ab da setzte es aus bei mir.

Marie-Luise folgte mir und blieb abwartend im Türrahmen stehen. Von dort scannte sie neugierig Zustand und Ausstattung des Raumes. Für dieses Rattenloch hast du mich also verlassen, stand auf ihrer Stirn. Dafür hast du mir und meiner Kanzlei den Rücken gekehrt, um nun auf sechs Quadratmetern mit Blick auf einen Hinterhof voller Müllcontainer dein eigenes Ding durchzuziehen.

»Rachel wollte mit Scholl sprechen. Aber aus irgendeinem Grund hat er das abgelehnt. Ich habe ihr angeboten, sie zu begleiten. Ich weiß ja, wo er seinen Laden hat. – Moment, er ist gleich so weit.«

Unter ihrem abschätzigen Blick dauerte es eine gefühlte halbe Ewigkeit, bis die alte Mühle endlich ihre Arbeit machte. Ich öffnete das Posteingangsfach, das via Cloud mit meinem Büro in Marquardts Kanzlei am Kurfürstendamm verbunden war. Ich scrollte die Seiten hinunter, tippte den Namen Rachel ins Suchfenster, starrte auf den Bildschirm, als ob ich ihn hypnotisieren könnte – nichts.

Marie-Luise kam zu mir. »Keine Rachel«, stellte sie fest.

»Das gibt’s doch nicht.« Ich ließ die gesamte Festplatte durchlaufen. »Vielleicht ist es im Büro.«

»Im Büro? Du hast noch eins?«

»Bei Marquardt.«

»Marquardt? Du bist immer noch bei ihm?«

Ich nickte. Gedankenverloren nahm Marie-Luise eine Haarsträhne in den Mund und schlenderte wieder hinüber ins Wohnzimmer. Ich unterdrückte einen Fluch und folgte ihr.

»Ich dachte, du wüsstest das.«

»Klar.« Sie sammelte ihren Parka und die leere Kekstüte ein.

»Ich kann nicht mehr zurück«, sagte ich. Es klang, als ob wir gerade unsere zerbrochene Ehe aufarbeiten würden. Dabei ging es nur um eine Bürogemeinschaft. Aber auch die hatte ihre Tücken.

Sebastian Marquardt, Chef einer gutgehenden Kanzlei am Kurfürstendamm, der seine einzige Tochter Mercedes Tiffany adelig und äußerst wohlhabend in die Levante verheiratet hatte, gab in Marie-Luises Augen ein ordentliches Feindbild ab. Allerdings war er der Einzige, der mir seine Räume zur Untermiete angeboten hatte und diese Miete nur dann einforderte, wenn ich sie auch aufbringen konnte. Wahrscheinlich war es das, was Marie-Luise so sehr beschäftigte. Dass die einen nicht mehr wussten, wohin mit ihrem Geld, während die anderen nie auf einen grünen Zweig kamen.

Sie drängte sich an mir vorbei. »Völlig egal, wo du deine Mails verschlampst. Es wäre nur gut, wenn diese Rachel irgendwann wieder auftauchen würde. Rütters ermittelt. Tut mir leid, ich hätte es dir gerne schonender beigebracht, und zwar auch gegen dich.«

»Was?«

Sie schlüpfte in den Parka und lehnte meine Hilfe mit einer unwilligen Handbewegung ab. »Du hast Lukas und Marvin eins auf die Mütze gegeben. Sie haben Anzeige erstattet.«

»Gegen wen?«

»Gegen dich, mein Lieber.« Sie schloss den Reißverschluss. »Körperverletzung. Finde diese Rachel und bringe sie dazu, eine Zeugenaussage für dich zu machen. Sofern es sie gibt.«

»Natürlich gibt es sie!«

Marie-Luise versuchte ein bedauerndes Schulterzucken und ging zur Tür. »Im Moment weißt du offenbar gar nichts. Informiere mich bitte, sobald sich etwas daran ändert. – Ach so, hätte ich fast vergessen.«

Sie förderte ein Klemmbrett aus ihrer Umhängetasche zutage und hielt es mir entgegen. Ich brauchte gar nicht auf das Papier zu sehen, das daran geheftet war.

»Unterschreib das, falls du glaubst, einen Anwalt zu brauchen.«

Das Papier war eine Mandantenvollmacht.

»Fahr mich zu Marquardt.«

»Bin ich ein Taxi?«, giftete sie mich an.