NEUNTES KAPITEL
Onni räuspert sich. Dann zieht er den Rucksack von seinem Rücken und hält ihn mit beiden Händen vor den Bauch.
Max Bengtsson blickt von dem Manuskript auf, das vor ihm auf dem Schreibtisch liegt und in dem er gerade etwas angestrichen hat. »Onni«, sagt er, legt den Kugelschreiber zur Seite und deutet auf den Besucherstuhl. »Komm herein. Setz dich.«
»Hallo, Max.« Onni löst sich vom Türrahmen und stolpert nach vorne. Mit einer zitternden Hand zieht er den Stuhl zu sich heran, während er mit der anderen den Rucksack fest vor seine Brust drückt. Schwer atmend nimmt er Platz. »Ich bin etwas zu früh«, entschuldigt er sich mit heiserer Stimme.
»Kein Problem.« Max mustert ihn für einen Moment. »Geht es dir gut, Onni? Du siehst mitgenommen aus.«
»Ich – es ist nichts, ich habe nur schlecht geschlafen.« Er hat letzte Nacht kein Auge zugetan, da er mit der Arbeit nicht weiterkommt, doch das muss er seinem Professor ja nicht sofort auf die Nase binden. Tausend Gedanken sind ihm durch den Kopf gegangen, während er im Bett lag. Er hat die dunklen Ringe unter seinen Augen vorhin im Spiegel gesehen, doch das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass sich eine unverhoffte Lösung aufgetan hat. Wichtig ist, dass er eine Entscheidung getroffen hat. Bevor er die Wohnung in Richtung Universität verließ, hat er bereits eine E-Mail an Frau Wirtanen geschickt und sich für den Rest der Woche krankgemeldet. Wahrscheinlich kehrt er gar nicht mehr ins Museum zurück, doch das will er dort jetzt noch nicht offenbaren.
»Wir können auch in den nächsten Tagen …«, setzt Max an und greift nach seinem Kalender.
Onni unterbricht ihn hastig. »Nein, nein! Es geht mir gut, wirklich! Wir müssen heute sprechen. Unbedingt.« Er betrachtet seine Schuhspitzen, um sich zu beruhigen. Wippt mit dem linken Fuß, dann mit dem rechten. Links. Rechts.
»Okay.« Ein leichtes Runzeln liegt auf der Stirn des Professors. Er schiebt das Manuskript vor ihm zusammen und befördert es auf einen Stapel, der aus losen Blättern, Heften und Büchern besteht. »Dann lass hören, wie du vorangekommen bist, Onni. Du müsstest dich auf der Zielgeraden befinden.«
Onni holt tief Luft, drückt den Rucksack noch fester gegen sich. »Ich …«, haucht er, bevor er den Mund wieder schließt und Max hilflos anblickt. Es ist ihm unmöglich, einen Ton herauszubringen.
Die erwartungsvolle Miene des Professors weicht einem Ausdruck der Besorgnis. »Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt, Onni. Wir unterhalten uns, wenn es dir besser geht. Vielleicht solltest du einen Arzt aufsuchen. Was meinst du? Du stehst völlig neben dir. Soll ich dir ein Taxi rufen?«
»Nein!« Er ist selbst erschrocken über die Schärfe in seiner Stimme. »Ich meine … nein, vielen Dank«, ergänzt er eilig. Er holt ein weiteres Mal tief Luft. »Ich schreibe die Arbeit nicht weiter.«
Verdutzt starrt Max ihn an. »Wie meinst du das?«
»Seit einiger Zeit schon stecke ich völlig fest«, erwidert Onni. Plötzlich sprudelt es aus ihm heraus. »Ich habe immer gehofft, wieder in das Thema zurückzufinden. Jeder hat mal eine Schreibblockade, oder? Irgendwann geht es weiter. Aber das wird nichts mehr. Wirklich nicht. Mir ist … mir ist klar geworden, dass das Projekt zu wenig Neues aufzeigt. Ich möchte nicht nur die Forschungsergebnisse anderer analysieren und neu bewerten, ich möchte mich mit etwas Bahnbrechendem befassen, zu dem noch niemand etwas veröffentlicht hat. Deshalb schreibe ich die Arbeit nicht weiter.«
»Onni«, sagt Max mit einer Spur Belustigung in der Stimme. »Wir forschen an diesem Institut zur finnischen Mythologie und Religionsgeschichte. Das ist ein überschaubares Feld mit überschaubaren Quellen. Für Bahnbrechendes hast du dir schlicht das falsche Themengebiet ausgewählt, befürchte ich.« Ernsthafter fährt er fort: »Vielleicht ist es doch eher so, wie du selbst gesagt hast: Jeder hat mal eine Schreibblockade. Das ist auch …«
»Ich möchte eine Arbeit zur Öberg-Theorie verfassen«, fällt Onni ihm ins Wort. Dann hält er atemlos inne. Nun ist es heraus.
Für einen Augenblick steht Max der Mund offen. Dann schüttelt er den Kopf, eine Mischung aus Unglauben und Ablehnung. »Das ist Humbug«, erklärt er.
»Ich weiß, dass die Thesen von Öberg …«
»… Schwachsinn sind!«, führt Max den Satz mit Nachdruck fort. »Es sind nicht einmal Thesen, sondern Hirngespinste. Wie kommst du darauf, aus dieser alten Räuberpistole eine wissenschaftliche Arbeit machen zu wollen? Nach nunmehr fünfzig Jahren sind Öbergs Märchen auch nicht wahrer geworden. Im Gegenteil. Es hat sich für seine Behauptungen nie ein belastbarer Beweis gefunden. Sich mit Öberg zu beschäftigen, ist absolute Zeitverschwendung, Onni.«
»Aber wenn ich …«
Max hört ihm gar nicht zu. »Behauptungen aufstellen kann jeder. Und Öberg war ein Meister darin. Ich meine, da muss man erst einmal drauf kommen, die gesamte finnische Mythologie infrage zu stellen!« Er lacht auf. »Fehlende Fantasie kann man Niklas Öberg jedenfalls nicht unterstellen. Er ruhe in Frieden. Aber im Kern zu behaupten, die Überlieferungen in dem Kalevala, unserem Nationalepos, seien falsch, ist schon eine Hausnummer. Seine Ideen sind so abstrus, dass ich sie ehrlich gesagt gar nicht wiederholen möchte.«
»Er hat eine gewagte, aber doch interessante These aufgestellt, finde ich.« Onni nickt eilig.
»Nun, den Beweis ist er wie gesagt schuldig geblieben. Also bleibt seine These ein Märchen.«
»Es gibt diese Zeichnung. Sie ist in einem seiner Bücher abgedruckt.«
»Und?« Max zuckt mit den Schultern. »Ich kann auch irgendetwas aufzeichnen und alles Mögliche behaupten. Das ist keine Wissenschaft, Onni. Und das weißt du auch. Deshalb bin ich – gelinde gesagt – ein wenig erstaunt, dass du mit so einem Vorschlag zu mir kommst. Zumal du doch bereits mit deiner Arbeit auf der Zielgeraden angekommen bist.«
»Aber wenn man es beweisen könnte, Max? Wenn man belegen könnte, dass die mündlichen Überlieferungen im Kalevala nicht stimmen. Was wäre, wenn sich herausstellt, dass wir alle die ganze Zeit falschgelegen haben?«
Max lacht auf. »Dann müssten wir die Geschichte unseres Landes umschreiben, Onni. Dann ergäben sich bahnbrechende Veränderungen in unserem Blick auf die Vergangenheit. Würdest du dies belegen, Onni – und darauf zielt dein Gedankenspiel anscheinend ab –, dann würde dieses Institut mit einem Schlag das gefragteste in ganz Nordeuropa werden. Wir bekämen Forschungsgelder noch und nöcher und du sicherlich eine Professur. Das wäre, wenn.« Abermals lacht er auf, ein spöttischer Laut. »Doch das sind alles Hirngespinste. Weil die Öberg-Theorie blanker Unsinn ist. Da braucht es schon mehr als eine krakelige Zeichnung, mein Lieber. Was soll sie überhaupt zeigen? Wir alle wissen, dass gegenständliche Artefakte aus der frühen Epoche kaum erhalten sind.«
»Das ist mir bewusst«, erklärt Onni leise.
Max hält inne und sieht seinen Studenten aus zusammengekniffenen Augen an. »Es ist dir wirklich ernst damit.« Er schüttelt den Kopf.
Onni nickt.
»Ich möchte dir einen Vorschlag machen«, sagt Max. Er wirkt plötzlich erschöpft. »Leg eine Pause ein, pack die Bücher weg. Und dann setz dich frisch an deine Arbeit. An deine jetzige Arbeit. Wir können uns in ein paar Wochen wieder treffen, um noch einmal zu sprechen. Nimm den Stress heraus, dann wird sich die Blockade auflösen. Glaube mir: Wir alle waren schon mal an diesem Punkt.«
»Ich werde die Arbeit nicht weiterschreiben.« Onni bemüht sich, Festigkeit in seine Stimme zu legen. »Bitte, Max, können wir uns beim nächsten Treffen noch einmal über meinen Vorschlag unterhalten? Bitte! Ich weiß, dass die Sache abenteuerlich klingt. Wirklich, das ist mir bewusst! Deshalb habe ich vor, etwas zu beschaffen, das die Grundlage für meine Arbeit sein wird. Einen Beweis. Gib mir ein paar Wochen, dann können wir wieder sprechen. Bitte!«
Er schüttelt den Kopf, doch dann seufzt Max leise. »Wir sehen uns in ein paar Wochen wieder, okay. Schreib mir eine E-Mail mit einem Terminvorschlag, wenn du so weit bist.« Seine Miene verrät, dass er alles andere als glücklich ist.
»Danke, Max! Vielen Dank! Ich melde mich bei dir.« Erleichtert steht Onni auf und wendet sich zum Gehen. Er hat das Gefühl, besser schnell von hier zu verschwinden. Bevor Max es sich noch anders überlegt.
»Und Onni«, sagt Max und steht hinter seinem Schreibtisch auf, »du siehst wirklich nicht gut aus. Geh bitte zu einem Arzt, wenn du dich unwohl fühlst.«
Onni nickt und verlässt Max Bengtssons Büro. Ihm ist bewusst, dass sein Professor ihm gerade durch die Blume gesagt hat, dass er eine Schraube locker hat. Doch das ist ihm egal, denn er wird ihm beweisen, dass er sich nichts zusammenspinnt. Er, Onni, wird für die Sensation sorgen, von der Max so ungläubig gesprochen hat. Und wer weiß, am Ende bietet man ihm wirklich eine Professur an. Ja, das wäre ganz nach seinem Geschmack.
Während er zurück zu seiner Wohnung geht, schwelgt Onni in dem Hochgefühl, das ihn gepackt hat. Bald wird er nicht länger der ungelenke Nerd sein, für den ihn alle halten. Bald werden die Leute seinen Namen kennen und wissen, dass er ein großartiger Wissenschaftler ist. Kein Nerd. Ein renommierter Wissenschaftler!
Er wird alles dafür tun, um dieses Ziel zu erreichen, schwört er sich.