SECHZEHNTES KAPITEL
Das mökki ist ein Traum! Ein ganzes Stück vom Ufer zurückgesetzt liegt es erhöht auf einer Lichtung zwischen hohen Kiefern. So erhält es viel Licht, ist aber gleichzeitig auf allen Seiten schützend vom Wald umgeben. Eine behagliche Insel im Grünen.
Das Ferienhaus ist ebenerdig und ganz aus Holz, in einem hellen Rotton gestrichen. Auch auf den zweiten Blick wirkt das Gebäude sehr gepflegt – nirgendwo blättert Farbe ab, nirgendwo platzt das Holz auf. Neben der Eingangstür blühen duftende Sträucher, eine Handvoll bepflanzter Blumentöpfe runden das heimelige Bild ab. Sarahs Herz schlägt schneller, als sie sich bückt, um nach dem Schlüssel zu suchen. Sie spricht ein Stoßgebet, sie möge diesmal doch bitte, bitte am richtigen Haus stehen. Bereits beim ersten Versuch wird sie unter einem Primeltopf fündig. Sie umklammert den glänzenden Schlüssel wie einen Schatz und stößt erleichtert den Atem aus. Der Schlüssel lässt sich im Schloss drehen, als ginge er durch Butter. Mit einem leisen Klicken schwingt die Tür auf.
Beinahe andächtig betritt Sarah einen großen, strahlend hellen Raum. Vor ihr befindet sich eine große Glasfront. Sarah blickt auf Kiefern. Zwischen den hohen Stämmen schimmert Wasser hindurch. Sie hat den Eindruck, als schaue sie auf ein bewegtes Naturgemälde. Ein Eichhörnchen huscht einen Stamm hinauf. Die Sitzecke vor dem breiten Fenster wird ihr Lieblingsplatz, weiß Sarah schon jetzt.
Im Zeitlupentempo dreht sie sich einmal um ihre eigene Achse, nimmt den hohen Raum in sich auf. Bewundert den riesigen Keramikofen, der sich an die Sitzecke anschließt, betrachtet die offene Küche, die vom Wohnbereich durch einen Tresen mit vier Hockern davor abgetrennt ist. Anders als es von draußen erschien, gibt es eine Art obere Etage, denn eine Holztreppe führt zu einer offenen Galerie hinauf.
Auf dem Küchentisch erregt ein Präsentkorb ihre Aufmerksamkeit. Er enthält eine bunte Mischung finnischer Spezialitäten. Knäckebrot, Kaffee, Schnaps. Als sie auch eine Tüte Lakritz entdeckt, verdreht sie die Augen und widmet sich schnell der handschriftlichen Nachricht, die an dem Korb lehnt. Herzlich willkommen, Frau Fuchs!, steht dort. Natürlich nicht auf Finnisch, sondern auf Deutsch. Sarah hat mittlerweile nichts anderes erwartet. Doch das ist ihr jetzt egal – schwerer wiegt sowieso, dass diese Nachricht zweifelsfrei bestätigt, dass Sarah in ihrem Ferienhaus gelandet ist. Endlich!
Nach einem Rundgang durch die übrigen Räume schiebt sie ihre Koffer in das größte der drei Schlafzimmer. Es geht direkt vom großen Wohnraum ab und verfügt über ein eigenes Badezimmer. Glücklich räumt sie die Koffer aus, verstaut ihre Kleidung im Einbauschrank, drapiert ihre Kosmetika im Bad. Dann geht sie in den Küchenbereich zurück und setzt einen Kaffee auf. Als der Duft von gerösteten Bohnen durch den Raum zieht, überwältigt sie das wohlige Gefühl, angekommen zu sein. Dies ist ihr Zufluchtsort, ihr sicherer Hafen. München ist weit weg und wird sie hier nicht einholen.
Mit dem Kaffeebecher in der Hand tritt Sarah auf die Veranda. Mit der Schiebetür hat sie zu kämpfen, schafft es nach einigen Versuchen aber irgendwie, den Mechanismus in Gang zu setzen. Eine Liege und eine Sitzgruppe laden auf der Holzveranda zum Verweilen ein, doch neugierig setzt Sarah die Erkundungstour fort. Das zwischen den Bäumen hervorglitzernde Wasser zieht sie magisch an.
Holzplanken gehen von beiden Seiten der Veranda ab. Sarah folgt dem rechten Weg, der sie über einige Stufen zwischen den Bäumen hindurch auf einen Steg, der weit in den See hinausragt, führt. Ihre Absätze hallen dumpf auf dem Holz. Überwältigt tritt sie an das Ende des Stegs, den warmen Kaffeebecher mit beiden Händen haltend. Von hier hat sie einen unbeschreiblichen Blick über den See, dessen Weite sie schier sprachlos macht. Nach rechts reicht das Wasser bis zum Horizont, auf der anderen Seite erkennt sie jene kleine Insel, die sie gestern Nacht bei ihrer Ankunft erstmals sah. Dahinter setzt sich die gekräuselte Wasseroberfläche scheinbar ins Unendliche fort.
Ihr mökki liegt genau am Eingang der Bucht, in der sie gestern angekommen ist. Erstmals schaut sie daher direkt auf das offene Wasser. Sie nimmt einen Schluck Kaffee, atmet tief ein. Hier ist die Luft kühler, das Wasser tiefer. Der Päijänne wirkt wilder und ungezähmter, aber immer noch wie ein wohlwollender Freund. Sie blinzelt in den strahlend blauen Himmel, aus dem ein Kreischen herabtönt. Einige Möwen kreisen in der Luft und scheinen Sarah zu beobachten. Sie ertappt sich dabei, wie sie den Vögeln zuwinken will, was natürlich albern ist. Nach einem kurzen Moment des Zögerns hebt sie jedoch eine Hand und winkt heftig. Dabei entschlüpft ihrer Brust ein befreiendes Lachen.
Die Möwen antworten ihr im kreischenden Chor.
Zurück auf der Veranda stellt Sarah ihre leere Kaffeetasse ab und folgt beschwingt dem anderen Weg. Hier sind die Bäume zurückgetreten und geben den Ausblick auf eine satte Wiese, die die Planken umgibt, frei. Der Weg ist auf dieser Seite des Hauses flacher und leitet Sarah in gerader Linie direkt bis an eine Hütte, die wie eine Miniaturversion ihres mökki aussieht. Die Sauna. Ausgestattet mit einer modernen Außendusche. Das Gebäude steht direkt am Ufer der Bucht und ist kein Vergleich zu der muffigen Hütte, in die der Kommissar Sarah vorhin geschleppt hat. Vielmehr wirkt sie wie ein eigenes Ferienhäuschen, in dem man einen Gast unterbringen könnte. Franzi zum Beispiel.
Ein Stich in ihrer Brust lässt Sarah schlucken. Seitdem ihre Tochter vor einem Jahr nach London gezogen ist, hat sie kaum noch Kontakt zu ihr. Von der einen oder anderen sporadischen Textnachricht abgesehen, meldet Franzi sich nur, wenn sie mal wieder Geld braucht. Und selbst diese Anfragen sind seltener geworden, seit sie wieder mehr Kontakt zu ihrem Vater hat. Rüdiger wird selbstredend keine Gelegenheit auslassen, gegen Sarah zu stänkern, das ist sicher. Manchmal meint Sarah, auch nach zwanzig Jahren komme er immer noch nicht mit der Scheidung klar. Mit dem Geld, das ihr das Gericht zusprach, besser gesagt. Wahrscheinlich sitzt er zurzeit geifernd vor den Klatschblättern und bekommt einen Orgasmus, wenn er vom katastrophalen Ende ihrer zweiten Ehe liest. Sarah verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und dreht sich zum Wasser. Sie ist hierhin gekommen, um sich nicht mehr mit solchen Gedanken zu beschäftigen.
Das Wasser ist flacher und der Steg kürzer als an jener Stelle, die sie eben besichtigt hat. Eine Entenfamilie flieht schimpfend unter dem Holz hervor, als Sarah den Steg betritt. Die Vögel schwimmen gehetzt am Ufer entlang in die Bucht hinein und verschwinden im hohen Schilf, das hier beginnt und sich – wie Sarah weiß – bis zu Matti Saarinens Haus hinunterzieht. Wenn sie sich am Ende des Stegs, auf dessen rechter Seite ein Ruderboot vertäut ist, vorbeugt, kann sie das Gebäude sogar erkennen. Ob Toivo Aalto weiterhin dort drüben herumstreift und seine Lakritze kaut?
Um sich von dem Kommissar und vom Tod ihres Nachbarn abzulenken, konzentriert Sarah sich auf die kleine Insel. Sie liegt genau mittig vor der Bucht, vielleicht dreihundert Meter von Sarahs Standpunkt entfernt, und ist dicht mit Birken bewachsen. »Ein Traum«, flüstert Sarah. Sinnbildlich steht das Eiland für alles, was sie in Finnland sucht: Natur, Ruhe, einen Hauch Magie.
Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen kehrt sie der Bucht den Rücken und geht zum Haus zurück. Abermals kämpft sie mit der Verandatür. Die Kombination aus richtiger Hebelstellung und gleichzeitigem Schieben treibt ihr Schweißperlen auf die Stirn, doch schließlich gelingt es ihr, die Tür wieder hinter sich zu schließen. Sie gießt sich einen weiteren Kaffee ein und setzt sich auf das Sofa, das vor der breiten Glasfront in die Natur hinausblickt. Wieder entdeckt sie das Eichhörnchen. Diesmal hängt es regungslos an einem Stamm und scheint Sarah verwundert zu beobachten, bevor es losflitzt und im Baumwipfel verschwindet. Amüsiert nimmt Sarah einen Schluck Kaffee.
Mika Häkkinen. Sie verschluckt sich und kämpft mit einem Hustenanfall. Ihr ist eingefallen, an wen der Kommissar sie erinnert. Toivo Aalto sieht dem berühmten Rennfahrer zum Verwechseln ähnlich. Dass ihr das nicht schon früher in den Sinn gekommen ist! Fast muss Sarah auflachen. Zu Beginn der Zweitausenderjahre hat sie den Sportler schließlich in München kennengelernt. Ja, Aalto könnte sein Zwillingsbruder sein. Unfassbar!
Ein komischer Vogel, dieser Kommissar. Sarah stellt den Becher auf die Tischplatte, streift die Schuhe ab und zieht die Beine auf das Polster. Was sollte die Sache mit der Sauna?, fragt sie sich. Warum hat Aalto sie dorthin geführt? Und warum hat er immer wieder nachgehakt, ob sie Saarinen schon einmal begegnet sei? Sarahs Augen sind auf das Glitzern zwischen den Baumstämmen gerichtet, doch in Gedanken steht sie wieder vor Saarinens heruntergekommener Sauna. Als sie Aalto von ihrer Erinnerung an die Geräusche in der Nacht berichtete, hat er merkwürdig reagiert, erinnert sie sich. Denn eigentlich hat er gar nicht reagiert. Obwohl er doch mehr als angedeutet hat, es könnte Mord gewesen sein.
Mord. Sarah kneift die Augen zusammen. Ein Gedanke kreist in ihrem Kopf herum, doch sie bekommt ihn nicht zu fassen.
Die Möglichkeit eines Verbrechens.
Die Obduktion.
Jalos aberwitziger Gedanke, sie sei Mattis Geliebte.
Das skurrile Verhör in der Küche.
Sarah stockt. »Nein«, sagt sie langsam und schüttelt den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Das …« Ihr versagt die Stimme.
Nimmt der Kommissar an, sie, Sarah, habe etwas mit dem Tod des dickleibigen Finnen zu tun? Hat er die ganze Zeit den Verdacht gehegt, sie könne Saarinens Mörderin sein? Glaubt Aalto etwa, sie habe sich nicht zufällig in das Haus des Toten verirrt? Plötzlich ist Sarah speiübel. Dieser übellaunige Bulle muss doch sehen, dass das alles nur ein großes Missverständnis ist! Eine Verkettung unglücklicher Umstände. Was, zum Teufel, hat der alte Fischer ihm nur berichtet? Aalto kann doch nicht ernsthaft …
Wie von der Tarantel gestochen springt Sarah auf. Vor dem großen Keramikofen dreht sie eine Runde nach der anderen über den Schieferboden. Ihr Kopf raucht. Es ergibt leider alles einen Sinn. Die sonderbaren Fragen. Das linkische Verhalten. Selbst dass er ihr Lakritz angeboten hat, um sie in Sicherheit zu wiegen. »Der Kerl glaubt, ich hätte etwas mit Saarinens Tod zu tun«, murmelt Sarah entgeistert. Er hat sie zu der Sauna geführt, um sie mit dem Tatort zu konfrontieren. Er hat sich für ihre finanziellen Verhältnisse interessiert, da es bei Tötungsdelikten doch immer entweder um Rache oder um Geld geht. Er wusste, wo sich ihr mökki befindet, wie es aussieht, weil er sie bereits durchleuchtet hatte, bevor er zu ihr in die Küche kam. Und bestimmt hat er Sarahs Erinnerung an die Geräusche als Ausflucht verbucht. Als Ablenkungsmanöver. Warum ist ihr das mit den nächtlichen Geräuschen auch erst am Ende des Gesprächs eingefallen?
»Verdammt!«, stößt Sarah aus und unterbricht abrupt ihren Rundenlauf. »Der Kommissar verdächtigt mich, Saarinen umgebracht zu haben!«
Sie versucht, sich zu beruhigen. Sicherlich wird es Spuren geben, die sie entlasten. Sie kennt den Toten nicht, da kann Aalto hundertmal nachhaken. Der Kommissar scheint der Vermutung nachzugehen, sie habe eine heimliche Beziehung mit Matti Saarinen geführt. Sarah stößt ein gequältes Lachen aus. Alles wird sich aufklären, sagt sie sich. Nur eines darf nicht passieren: Die Klatschpresse in Deutschland darf keinen Wind von den Ermittlungen bekommen. Das wäre in der derzeitigen Situation das gefundene Fressen für diese Schmierfinken. Und für Udos Anwälte, die sicherlich alles daransetzen werden, Sarah zu diskreditieren. Ob sie schon von der Sache mit dem Messer wissen? Der Mord an diesem Matti ist einfach zu viel des Guten. Wenn solche Geschichten, so abstrus sie auch immer sind, erst einmal da draußen zirkulieren, bleibt immer etwas hängen. Sarah nickt heftig. Das unglückliche Missverständnis, sie habe etwas mit dem Ableben von Matti Saarinen zu tun, muss so schnell wie möglich aufgeklärt werden. Hätte sie doch nicht die Ferienhäuser verwechselt! So was konnte auch nur ihr passieren.
Etwas erregt aus dem Augenwinkel ihre Aufmerksamkeit. Eine Bewegung. Sarah wendet sich zur Fensterfront. Ist das Eichhörnchen zurückgekehrt? Sie lässt ihren Blick über die Bäume gleiten. Überrascht zuckt sie zusammen. Eine Gestalt hastet zwischen den Stämmen davon. Ein Mann, so viel kann sie erkennen, doch sie vermag nicht viel mehr als seine Silhouette auszumachen. Da verschwindet die Gestalt auch schon nach rechts um die Hausecke. »Das kann doch jetzt nicht wahr sein!«, ruft Sarah perplex aus. Hat die Presse sie etwa bereits aufgespürt? Sie ist sich sicher, ihren Weg nach Sysmä gut verschleiert zu haben. Nein, nach Presse sah das nicht aus. Sie hat auch keine Kamera an dem Mann bemerkt.
Hastig rennt Sarah ins Badezimmer. Vom dortigen Fenster aus sollte sie den Kerl sehen können. Doch als sie ihre Nase an die Scheibe drückt, kann sie zwischen den Bäumen niemanden ausmachen. Gleichzeitig keimt ein beunruhigender Verdacht in ihr auf. Der Kommissar. Er lässt sie beobachten. Oder war er das gerade sogar höchstpersönlich? Er observiert sie, um sie als Mörderin zu überführen!
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und starrt ins Nichts. Anscheinend glaubt Toivo Aalto wirklich, Sarah habe ihm nicht die Wahrheit gesagt. Sie merkt, wie heiße Wut in ihr aufsteigt. Wieder so ein Kerl, der glaubt, alles besser zu wissen, schießt es ihr durch den Kopf. Wieder ein Mann, der wirklich meint, es sich auf Sarahs Kosten leicht machen zu können!
Langsam dreht sie sich um und tritt an den Badezimmerspiegel. Sie schürzt die Lippen, während sie ihr Spiegelbild betrachtet, dreht an den Ohrringen, richtet ihre Frisur. Was glaubt dieser Aalto eigentlich, wer er ist? Er versucht, sie billig hinters Licht zu führen, um bequem mit der erstbesten Verdächtigen seinen Fall abschließen zu können. Damit er schnell auf sein Junggesellensofa zurückkann, um an seinem freien Tag Kartoffelchips zu knabbern. So nicht, Herr Kommissar!
Sarah besieht nachdenklich die vor ihr aufgereihten Tiegel und Tuben, dann greift sie nach ihrem Lippenstift. Entschlossenheit glimmt in ihren Augen auf, während sie den Stift aufdreht und die Lippen akkurat mit Cherry Topaz nachzieht. So nicht, Herr Kommissar!, wiederholt sie in Gedanken. Sie weiß, was zu tun ist.
Sie wird herausfinden, wer Matti Saarinen getötet hat.
»Mikä riittää, se riittää!«, flüstert Sarah und dreht den Lippenstift zu. Genug ist genug!