NEUNZEHNTES KAPITEL
Immer wieder wird die Tür aufgedrückt, und weitere Gäste pressen sich in den Black Swan hinein. In den vier Minuten, die Onni nun schon auf der anderen Straßenseite steht, sind genau sechzehn Leute in die Bar gegangen. Dreizehn Männer, drei Frauen. Sechs der Männer trugen einen Vollbart, vier einen anderen Bart, drei waren glatt rasiert. Solche Dinge fallen ihm auf, so etwas merkt er sich. Von den Frauen trug keine einen Bart. Er muss über seinen eigenen Scherz grinsen, verfällt dann aber schnell wieder in sein nervöses Wippen. »Fünfzehn Männer, drei Frauen«, zählt er, nachdem sich die Eingangstür abermals geöffnet hat.
Dieser Zeitpunkt ist genauso gut oder schlecht wie jeder andere, das weiß er. Und doch kostet es ihn immense Überwindung, den ersten Schritt zu tun. Er wartet, bis ein Auto an ihm vorbeigefahren ist, dann fasst er sich ein Herz, überquert die Straße und geht auf die Bar zu. Beinahe kehrt er vor der Eingangstür wieder um, doch hinter ihm stehen bereits zwei weitere Gäste, die nur darauf warten, dass er den Weg freigibt. Also betritt er das Lokal. Und taucht in eine andere Welt ein. »Achtzehn Männer, drei Frauen«, flüstert es in seinem Kopf.
Die Lebendigkeit im Black Swan erschlägt Onni beinahe. Der Raum ist so überfüllt, dass er ständig andere Menschen berührt, während er sich in Richtung Tresen schiebt. Jeden Kontakt registriert er als kleine schmerzhafte Explosion. Die lauten Gespräche und das Lachen werden von einem hämmernden Beat aus den Lautsprecherboxen untermalt. Am Tresen wartet eine kleine Traube von Gästen darauf, bedient zu werden. Trotz der Enge bewegen sich ein paar Leute rhythmisch zur Musik. Onni zuckt zusammen, als er eine Hand an seinem Gesäß spürt. Doch als er sich umdreht, kann er nicht sagen, zu wem die Hand gehörte.
Etwas in ihm möchte wegrennen. Etwas in ihm möchte bleiben. Wie in einer erdrückenden Wattewolke dreht Onni eine Runde durch den Raum und schaut sich suchend um. Doch er wird nicht fündig. Also nimmt er all seinen Mut zusammen und stellt sich in die Schlange am Tresen. Auf jener Seite, die von dem blonden, braun gebrannten Barkeeper bedient wird, der auch gestern hier gearbeitet hat. Onni wartet, bis er an der Reihe ist, dann schießt die Frage aus ihm heraus. »Weißt du, wo Swen ist?«
»Wer?«, fragt der Blonde zurück.
»Swen. Ich habe gestern mit ihm hier an der Bar gesprochen. Ich hatte ein Bier bestellt. Er auch.«
»Ich erinnere mich.« Der Barkeeper blickt ungeduldig zum nächsten wartenden Gast. »Keine Ahnung, wo der Typ sich aufhält. Solltest doch eigentlich du wissen.«
»Was – ich …?«
»Willst du was bestellen? Oder nur quatschen?« Er wendet sich bereits von Onni ab.
»Nein, ich will nur wissen …« Onnis Stimme geht im berstenden Lachen einer in der Nähe stehenden Gruppe Männer unter. »Ich …«, setzt er noch mal an, doch der Barkeeper hat sich bereits dem nächsten Kunden zugewandt und ignoriert ihn.
»Mist!« Onni zwängt sich aus der Menschentraube heraus. Er stellt sich an den Rand des Raums, dahin, wo es ein wenig ruhiger ist. Er versucht, sein pochendes Herz mit gleichmäßigem Atmen zu beruhigen. Verzweiflung macht sich in ihm breit. Er muss Swen aufspüren, dringend. Als letzte Möglichkeit fällt ihm nur noch ein, morgen zu Frau Wirtanen zu gehen. Doch ob es ihm gelingen würde, sie erfolgreich um Swens Anschrift oder Telefonnummer zu bitten? In den Personalakten müsste beides vermerkt sein, doch irgendetwas sagt Onni, dass Frau Wirtanen das scharfe Schwert des Datenschutzes schwingen würde. Und ohne ihr Einverständnis hat er keine Möglichkeit, Einblick in die elektronische Akte zu nehmen. Deshalb muss er Swen möglichst heute Abend in der Stadt aufspüren.
»Hey, wie geht’s?«
Der Mann ist ein paar Jahre älter als er selbst, schätzt Onni. Sein langer Vollbart geht in eine kreisrunde Halbglatze über, seine Unterarme zieren tätowierte Schriftzüge. Forever steht auf dem einen, I hate you auf dem anderen. Onni blinzelt. Ihn überkommt das Gefühl eines Déjà-vus, als hätte er diese Tattoos bereits zuvor gesehen. Was jedoch nicht sein kann. Wortlos nickt er dem Fremden zu.
»Kommst du gleich wieder mit runter?«
Wieder? Runter? Er blickt hinüber zum Treppenabgang, den jetzt noch ein Seil versperrt. Erschrocken zuckt er zusammen, als der Typ eine Hand auf seine Schulter legt.
»Wieder ein bisschen Spaß haben«, sagt er und zwinkert Onni verschwörerisch zu.
Onni schließt die Augen und schüttelt den Kopf. Es ist wie in einem schlechten Traum – er kann sich einfach nicht erinnern. Jeder kann alles behaupten, solange er sich nicht erinnert! Bis dahin ist nichts wahr. Er öffnet die Augen. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Du kleiner Heuchler!« Der Mann lacht auf und boxt Onni in die Seite. »Du brauchst wohl wieder deinen Freund dabei, oder?«
»Freund?« Der Schlag in die Seite brennt wie Feuer.
»Ach komm, verarsch mich nicht. Der Typ mit der weiten Baggy-Jeans und der Kappe. Der sonst immer im Engelshaar abhängt.«
»Swen? Du meinst Swen?« Aufgeregt tritt Onni einen Schritt auf den Mann zu.
»Keine Ahnung, wie der Typ heißt. Du warst jedenfalls die ganze Zeit mit ihm unten.«
Onni lässt den Mann einfach stehen und stürmt aus dem Black Swan, ohne nach links oder rechts zu schauen. Draußen auf der Straße zückt er das Handy, um sich zu orientieren. Er hat schon vom Engelshaar gehört, war aber noch nie dort. Die Bar liegt westlich von hier im Stadtteil Hietalahti, der bekannt ist für seine bunte Mischung aus Flohmärkten, Ashrams und Luxushotels. Die Karten-App gibt Onni die schnellste Route an. Sogleich macht er sich auf den Weg.
Die Bar hat keine Fenster. Eine schwarze Stahltür, mit dem Namen des Schuppens in verschwindend kleinen grauen Lettern darauf, ist der einzige Hinweis, dass Onni am Ziel angelangt ist. Diesmal zögert er nicht lange. Die Aussicht darauf, Swen gleich gegenüberzustehen, lässt ihn alle Bedenken, die er sonst so ausgiebig hegt, über Bord werfen. Mit der Faust klopft er dreimal gegen die dicke metallene Eingangstür.
Eine schmale Klappe öffnet sich auf Augenhöhe. »Ja?«, fragt eine männliche Stimme.
»Hey. Also … ich möchte … in die Bar …«, stottert Onni.
»Nur für Stammgäste. Tut mir leid.« Nichts in der Stimme verrät, dass ihr irgendetwas leidtut.
»Ich … ich bin mit Swen verabredet«, stößt Onni hastig aus. »Der mit der Kappe und den weiten Jeans. Swen wartet auf mich.«
Die Klappe schließt sich mit einem schleifenden Geräusch.
»Ach, verdammt!« Onni ist in sein nervöses Wippen zurückgefallen. Er knibbelt an einem Fingernagel, dreht sich bereits zur Seite, um den Rückweg anzutreten, da bewegt sich die Tür.
»Okay«, sagt die Stimme aus der Dunkelheit, die Onni aus der Türöffnung entgegenklafft.
Ungläubig tritt er ein. Wartete nach dem Eintritt in den Black Swan ein buntes und lautes Durcheinander auf ihn, betritt er nun eine völlig andere Welt. Seine Augen brauchen einige Sekunden, um sich an die Finsternis zu gewöhnen. Sie wird lediglich von ein paar schwachen, rot glühenden Lampen durchbrochen, was der Szenerie etwas Diabolisches verleiht. Mehr als monochrome Konturen und Umrisse sind nicht auszumachen.
»Komm mit«, sagt der Mann, der die Tür geöffnet hat und sie hinter Onni gleich wieder verschließt.
Der Typ sieht ganz anders aus, als Onni sich ihn anhand der Stimme vorgestellt hat. Er ist klein und untersetzt, auf seiner Nase sitzt eine halbrunde Brille. In seinem Hemd mit darüberliegender Weste wirkt er wie ein Buchhalter, nicht jedoch wie der Türsteher einer mysteriösen Bar.
»Hier lang.«
Wie in einem Traum folgt Onni dem Türsteher einen Gang entlang, bis sie einen großen Raum betreten. Im Schwarz-Rot der eingeschränkten Lichtverhältnisse macht er Tische aus, die in Separees entlang der Wand aufgereiht sind. Die meisten scheinen besetzt, nicht näher erkennbare Personen sitzen in den abgetrennten Bereichen. Onni kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Liegt dort jemand auf dem Tisch? Nur mit Mühe unterdrückt er ein Husten, während er seinen Schritt beschleunigt. In der Luft liegt der schwere, süßliche Geruch von Marihuana.
»Vorsicht«, warnt der Türsteher und deutet auf eine Stufe in dem Durchgang, den sie ansteuern. Dahinter wartet ein weiterer Gang, ähnlich dem ersten, nur dass diesmal mehrere Türen von ihm abgehen. Undefinierbare Geräusche dringen hinter einigen der Türen hervor, einmal meint Onni, schmerzvolles Stöhnen zu hören. Er wischt sich über die schweißnasse Stirn. Ein Schwindelgefühl ergreift Besitz von ihm. Er ist froh, als sie den nächsten Raum betreten und stehen bleiben.
»Dort«, sagt der Mann und deutet in eine Ecke.
Die Separees in diesem Raum sind größer, der Raum selbst jedoch kleiner als jener zuvor. Onni wankt auf den gewiesenen Tisch zu, an dem drei Personen sitzen. Er erkennt Swen anfangs nur an seiner Baseballkappe, denn auch hier besteht alles aus schwarz-roten Schatten. »Hey«, krächzt er. Sein Mund ist plötzlich staubtrocken.
»Onni, Alter!« Swen steht auf und winkt Onni heran. »Das ist ja eine Überraschung. Wie kommst du denn hierher? Setz dich zu uns. Was willst du trinken? Auch ein Bier, oder?« Er nickt zum Türsteher, der die Geste erwidert, sich umdreht und in der Dunkelheit verschwindet. »Das sind Malte und Aimo. Los, sagt Onni Hallo, Jungs.«
»Hey«, grüßen Malte und Aimo wie aus einem Mund und rutschen zur Seite, damit Onni sich zu ihnen auf die Bank setzen kann.
Aimo wendet sich an Swen. »Ist das der Onni?«, will er wissen. »Der Typ, mit dem du …« Er macht eine anzügliche Geste.
Heiß schießt Onni das Blut in den Kopf. Erstmals ist er froh über das dunkle Ambiente. Er spürt die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit der drei Männer wie Dolchstiche. Nichts ist wahr, solange er sich nicht erinnert, ruft er sich selbst zu. Seine Forschungsarbeit ist wichtig, sonst nichts.
Der Türsteher erscheint aus der Dunkelheit wie ein Dämon und stellt eine Flasche Bier vor Onni ab. Ohne ein weiteres Wort verschwindet er genauso plötzlich wieder, wie er gekommen ist.
»Na dann, Prost!«, sagt Swen und hebt Onni seine eigene Bierflasche entgegen. Nachdem die vier Männer angestoßen haben, beugt er sich zu Onni vor. »Was führt dich hierher?«
»Ich möchte etwas wissen.«
Malte prustet los. »Das glaube ich, Mann. Hast keine Erinnerung, oder?« Er lacht noch einmal auf, dann schlägt er Swen auf die Schulter. »Alter, du hast es echt drauf!« Kichernd lehnt er sich zurück.
Swen schüttelt den Kopf, und Malte verstummt. »Onni, was möchtest du wissen?«
»Wo hast du die Statue hingebracht?«
Einen Moment lang herrscht Stille. »Wirklich, das möchtest du wissen?« Swen schüttelt den Kopf. »Du bist wirklich ein Nerd.«
»Du hast ein Bild der Statue auf den Bierdeckel gemalt. Gestern, im Black Swan. Als du mir erzähltest, dass du sie irgendjemandem gebracht hast.«
»Ich habe nur so vor mich hin geredet.« Swen winkt ab. Sein Blick streift Aimo und Malte, die gespannt zuhören. »War nur ein unbedeutender Job von vielen.«
»Diese Statue ist etwas Besonderes. Deine Zeichnung habe ich mit einem Eintrag in einem Buch abgeglichen – es ist die gleiche Symbolik.« Onni ist sich bewusst, dass Swen in etwas Illegales verwickelt ist. Doch das ist ihm egal. Er muss diese Statue finden, nur das zählt. Es kommt ihm vor, als hänge sein Leben davon ab.
Swen rutscht ein Stück näher an Onni heran. »Du hast ein Buch, in dem das alte Ding abgebildet ist?«
Onni schüttelt den Kopf. »Nein, aber ich habe ein Foto von der Zeichnung gemacht, mit meinem Handy. Du brauchst mir also nichts vorzumachen. Ich weiß, was du da transportiert hast.«
»Okay«, sagt Swen langsam und kneift die Augen zusammen. »Okay.«
»Wo hast du sie hingebracht?«, stößt Onni hervor. »Bitte sag es mir!«
»Bitte sag es mir«, äfft Malte ihn nach, verstummt jedoch sofort unter Swens scharfem Blick.
»Du möchtest also wissen, wohin ich das dämliche Ding gebracht habe?« Swen reibt sich die Stirn, augenscheinlich unschlüssig, was er tun soll.
»Bitte, ich muss es wissen!«
»Okay, okay«, sagt Swen abermals, dann klatscht er einmal in die Hände. »Ich sag dir, was wir machen.« Er wirft Malte und Aimo grinsend einen schnellen Seitenblick zu.
»Was machen wir?«, fragt Onni aufgeregt.
»Also, wir ziehen jetzt alle Mann weiter zu dir, in deine Wohnung. Da machen wir es uns gemütlich, entspannen ein bisschen, und dann verrate ich dir, wo ich den Steinbrocken, auf den du so scharf bist, hingebracht habe.«
Malte stößt einen Pfiff aus und hebt einen Daumen.
Aimo schnalzt mit der Zunge und nickt.
»Du versprichst, mir zu sagen, wo die Statue jetzt ist?« Onnis Hände umklammern die Tischplatte so fest, dass seine Finger schmerzen.
»Ich verspreche es nicht nur, ich schwöre es«, erwidert Swen mit einem theatralischen Unterton.
Von Aimo kommt ein unterdrücktes Lachen.
»Okay«, krächzt Onni. »Dann machen wir das so.«
Schwungvoll steht Swen auf und zieht seine Jeans hoch. »Lasst uns losgehen. Du bist selbstverständlich eingeladen, Onni.« Er deutet auf das Bier. »Bist ja so etwas wie der Ehrengast.« Im rötlich grundierten Dunkel hat sein Grinsen etwas Teuflisches.