FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
In Sarahs Kopf überschlagen sich die Gedanken, während sie den Volvo durch den Wald steuert. Erst warnt diese Hilla sie, es sei keine gute Idee, sich nach Matti zu erkundigen, und nur Minuten später stürmt ein junger Mann, den sie beiläufig nach Saarinen fragt, davon, als hätte er den Leibhaftigen gesehen. Dass mit Matti Saarinen zu Lebzeiten etwas nicht stimmte, ist offensichtlich. Nicht umsonst hat Hilla ihn einen Ganoven genannt. Doch die ganze Sache wird immer merkwürdiger. Wenn Sarah herausfinden könnte, worin genau dieser Matti verwickelt war, dann fände sie vielleicht eine Spur zu seinem Mörder. In ihr verstärkt sich die Gewissheit, dass die Polizei sich nicht ernsthaft darum bemüht, den wahren Täter zu ermitteln.
Sie zuckt zusammen, dann bremst sie ab und bringt den Volvo zum Stehen. Auf dem schmalen Waldweg kommt ihr ein Fahrzeug entgegen. »Auch das noch!«, ruft sie. Bei dem überraschenden Gegenverkehr handelt es sich um einen Polizeiwagen. Damit nicht genug, folgen dem Wagen zwei weitere Fahrzeuge. Unbeirrt hält der Konvoi auf sie zu.
Mit einem Fluch auf den Lippen schaltet Sarah in den Rückwärtsgang und setzt langsam ein Stück zurück, bis sie ihren Wagen in eine schmale Ausbuchtung manövrieren kann. Das Knacken und Brechen von Holz signalisiert ihr, dass die Reifen Kontakt mit dem Waldboden abseits des befestigten Weges gewonnen haben. Als sie schließlich zum Halten kommt, senkt sich die Karosserie leicht nach rechts ab. »Herrgott!«, flucht Sarah. Das würde ihr gerade noch fehlen, hier stecken zu bleiben.
Dankend hebt der uniformierte Beamte im Polizeiwagen eine Hand, während er im Schritttempo an ihr vorbeifährt. Auch die Frau am Steuer des nachfolgenden Ford Kombi nickt Sarah zu, wohingegen ihr Beifahrer konzentriert auf einen Laptop, der auf seinem Schoß liegt, eintippt. Sarah erinnert sich, die beiden Polizisten in Zivil am Morgen bei den Ermittlungsarbeiten am Seeufer gesehen zu haben.
Aus dem dritten Wagen winkt ihr Kommissar Aalto entgegen.
»Ausgerechnet«, quetscht Sarah zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, hebt aber ebenfalls die Hand und erwidert halbherzig den Gruß. Doch zwei Sekunden später kann sie ein Aufstöhnen nicht unterdrücken. Der Toyota des Kommissars hält neben ihr, und das Seitenfenster senkt sich.
Erwartungsvoll sieht Aalto zu Sarah hinüber.
Widerwillig öffnet auch Sarah ihr Fenster. »Herr Kommissar«, sagt sie heiser und räuspert sich.
»Ach, da sehen wir uns schon so bald wieder, Frau Fuchs.« Aalto lehnt den linken Ellenbogen aus dem Fenster und nickt ihr zu. »Waren Sie im Ort?«
»Einkäufe«, erklärt Sarah knapp.
»Ich hoffe, Sie haben alles bekommen, was Sie benötigen.«
Auf Small Talk hat Sarah genauso wenig Lust wie auf ein weiteres Verhör, daher lächelt sie lediglich unverbindlich.
»Wir sind jetzt auf Saarinens Grundstück fertig«, erklärt der Kommissar und blickt seinen Mitarbeitern hinterher, deren Fahrzeuge gerade hinter einer Kurve zwischen den Bäumen verschwinden. »Natürlich sind die Ermittlungen noch lange nicht beendet, doch die weiteren Arbeiten werden hauptsächlich am Computer stattfinden.« Er lächelt. »Und in Gesprächen.«
In Gesprächen? In Verhören, will er wohl sagen! Sarah knirscht mit den Zähnen. Auf Aaltos Lächeln fällt sie nicht herein.
»Sie haben ja meine Telefonnummer, Frau Fuchs. Melden Sie sich jederzeit. Ansonsten können Sie mich auch in der Pension im Ort aufsuchen. Falls … Ihnen noch etwas einfällt. Wenn meine Kollegen morgen früh nach Helsinki zurückkehren, werde ich vorerst in Sysmä bleiben. Die ungeklärten Fragen, Sie verstehen.«
»Aha. Vielen Dank für diese Information.« Falls ihr noch etwas einfällt? Ungeklärte Fragen? Dies ist wohl die wenig subtile Ankündigung weiterer Ermittlungen gegen sie. Der Kommissar macht deutlich, dass er noch längst nicht fertig mit ihr ist. Andererseits bedeutet es aber auch, dass er nicht genügend in der Hand hat, um sie offiziell als Tatverdächtige einzustufen.
Um sich von der anschwellenden Wut, die sich in ihrem Magen aufbaut, abzulenken, richtet Sarah ihren Blick auf Aaltos Beifahrersitz. Auf einer abgewetzten Aktentasche liegt ein durchsichtiger Plastikbeutel, wie er zur Beweissicherung verwendet wird. Er enthält einen länglichen weißen Briefumschlag. Aus der Entfernung kann Sarah nicht erkennen, was darauf geschrieben steht. Ein Name? Jedenfalls jagt ihr der Umschlag aus irgendeinem Grund einen Schauer über den Rücken.
Der Kommissar zieht den Arm zurück und betätigt schon den Fensterheber, da stockt er und beugt sich noch einmal geschäftig zu Sarah hinüber. »Bei Ihren Waldspaziergängen sollten Sie ein Glöckchen tragen, Frau Fuchs. Oder mit einem Schlüsselbund klimpern. Wir haben Nachricht erhalten, dass in dieser Region ein Braunbär unterwegs ist. Nur wenige Kilometer von hier entfernt hat ein Förster Spuren des Tieres gefunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dem Bären begegnen, ist zwar sehr gering, doch man weiß nie. Sie haben in diesem Sommer bereits genug Aufregendes erlebt, nicht wahr? Sollten Sie dem Bären überraschend begegnen, dann machen Sie sich möglichst groß und schreien ihn an. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er sich dann von Ihnen abwenden.«
»Groß machen?«, wiederholt Sarah perplex. Tot stellen? Auf die Nase hauen? Was denn nun?
»Genau. Und klettern Sie auf keinen Fall auf einen Baum. Da holt der Bär Sie schneller herunter, als Sie gucken können.« Damit schließt der Kommissar das Fenster und gibt Gas. Langsam holpert der Toyota den Waldweg hinauf.
»Ja, ich habe in diesem Sommer mehr Aufregendes erlebt, als Sie sich vorstellen können, Herr Kommissar!«, schimpft Sarah hinter dem Wagen her, dann schließt sie ihr Fenster. Sie denkt an ihre Flucht aus München, an ihre Rache an Udo. Hoffentlich erfährt Aalto diese Details nicht, ansonsten wird er wohl nicht mehr lange zögern und ihr Handschellen anlegen.
Beherzt tritt Sarah auf das Gaspedal, und der Wagen schießt mit einem Knirschen nach vorn. Sarah hört, wie im Kofferraum die Einkaufstüten umkippen. Es ist ihr egal. Der Ärger über die Zwickmühle, in der sie sich befindet, erstickt alles andere. Ihre Reise nach Finnland, als gemütliches Untertauchen gedacht, hat sie vom Regen in die Traufe gebracht. Mordverdächtig zu sein, das ist schon eine Hausnummer! Doch sie kann nicht einfach von hier verschwinden und zurück nach München, das würde einen noch größeren Skandal provozieren. Wenn die Presse Wind von Sarahs finnischem Desaster bekäme, hätte sie für lange Zeit keine Ruhe mehr vor den Geiern. Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als diese unangenehme Sache durchzustehen, indem sie dem Kommissar klarmacht, dass sie mit Saarinens Tod nichts zu schaffen hat. Und am besten bewerkstelligt sie dies, indem sie ihm den Mörder auf einem Silbertablett präsentiert. Mit einer verdammten Schleife um den Hals.
Auf der Lichtung oberhalb von Saarinens Haus hält Sarah den Wagen an. Sie greift ihren Mantel vom Rücksitz und steigt aus. Die Polizei ist abgezogen, das ist ihre Gelegenheit. Langsam stakst sie den Hang hinunter. Dankenswerterweise verschonen die Bremsen sie heute.
Erneut ist sie vom Ausblick auf die Bucht fasziniert. Die kleine Insel im See hat nichts von ihrem malerischen Charme eingebüßt. Erstaunt realisiert Sarah, dass es noch keine vierundzwanzig Stunden zurückliegt, dass sie hier an der Bucht angekommen ist. Doch es fühlt sich an, als wäre die Übernachtung in Mattis Haus bereits mehrere Tage her. Kopfschüttelnd betritt Sarah die Veranda. Innerhalb dieser kurzen Zeit ist so viel geschehen, dass sie es selbst nicht glauben würde, wenn man es ihr erzählt hätte.
Auf der Eingangstür klebt ein Siegel, das wohl auf die polizeilichen Ermittlungen hinweist. Sarah geht an der Tür vorbei und mustert die verfallene Hollywoodschaukel. Auf der Veranda sieht alles so aus, wie sie es in Erinnerung hat. Zufrieden nickt sie. Dann beugt sie sich hinab, greift aus dem Krempel, der sich neben der Schaukel türmt, eine Sprühdose heraus und dreht sie in den Händen. Ja, sie hat sich nicht getäuscht. Es handelt sich um das gleiche Reizgas, wie sie es in der Vitrine des Supermarktes gesehen hat. Vorsichtig schüttelt sie den Behälter. Er ist noch etwa zur Hälfte gefüllt. Erleichtert seufzt Sarah auf. Wenn sie das nächste Mal durch den Wald spaziert, dann wird sie sich sicher fühlen. Von wegen groß machen!
Mit spitzen Fingern schiebt sie die Dose in ihre Hosentasche und ermahnt sich, sie ab sofort immer bei sich zu tragen. Auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen empfindet sie den Druck der Spraydose auf ihren Oberschenkel als beruhigend.
Während sie zu ihrem mökki weiterfährt, verscheucht Sarah die zweifelnde Frage, ob dieser Ganove Matti wohl eine Genehmigung für den Besitz des Reizgases besaß. Wenn nicht, wovon sie ausgeht, dürfte dies wohl eine der unbedeutenderen Verfehlungen des Mannes gewesen sein. Natürlich wird sie es für sich behalten, dass sie die Dose an sich genommen hat. Und natürlich ist sie auch nicht so dämlich, vor Aalto mit dem Fundstück herumzuhantieren.
Nachdem die Einkäufe in der Küche verstaut sind, tigert Sarah durch das Haus. Die für diese späte Stunde ungewohnte Helligkeit verursacht eine Unruhe in ihr. Sie schaltet den Fernseher ein, drückt aber bereits nach wenigen Minuten wieder auf den Aus-Knopf. Gedankenverloren schaut sie von der Sitzecke aus auf die Bäume und den dahinter glitzernden See. Auch das Eichhörnchen ist da und flitzt einen Baumstamm hinauf und wieder hinunter. »Ich muss raus«, sagt Sarah in die Stille des Hauses hinein. Sie verstaut das Handy, das Reizgas und den Hausschlüssel in ihrem kleinen Rucksack, dann macht sie sich auf zum Saunahäuschen.
Abermals flieht die Entenfamilie lautstark schimpfend unter dem Steg hervor, als Sarah ihn betritt. »Entschuldigung!«, ruft sie den aufgebrachten Vögeln hinterher und geht bis an das Ende des Stegs. Dort richtet sie ihren Blick auf die kleine mit Birken bewachsene Insel. »Sie ist wirklich nicht allzu weit entfernt«, sagt Sarah leise und wendet sich dem Ruderboot zu, das am Steg vertäut ist. Unbeholfen entfernt sie die Persenning. Das Boot sieht stabil aus, die Ruder liegen im Innenraum. Vorsichtig lässt Sarah sich vom Steg in den schwankenden Kahn hinab. Den Rucksack verstaut sie unter der Sitzbank, dann löst sie das Seil vom Steg und zieht es ins Boot. »Beim alten Jalo sah das schließlich sehr leicht aus«, sagt sie, während sie sich in Position bringt und die Rudergriffe befühlt. Langsam stößt sie sich vom Steg ab, dann senkt sie die Ruderblätter und zieht sie durchs Wasser. Das Boot setzt sich in Bewegung. »Geht doch«, frohlockt sie und dreht ihren Kopf prüfend über die Schulter zur Insel. Sie muss immer nur geradeaus rudern, alles kein Problem. Mit jedem Schlag entfernt sie sich ein Stück weiter vom Ufer. »Insel, ich komme!«
Ein Knall lässt sie zusammenzucken. Gleichzeitig stockt die Fahrt, und Sarah wird ordentlich durchgerüttelt. Ein schleifendes Geräusch, dann schwimmt das Boot weiter. »Herr im Himmel!« Erschrocken sieht sie sich um; in den klaren See hinab. Unter der Wasseroberfläche lauern Felsen, erkennt sie erschrocken. Sie muss über einen von ihnen hinweggeschrappt sein. Sicherheitshalber zieht sie die Ruder ein und lässt das Boot treiben. Doch als es zu keinem weiteren Zusammenstoß kommt, senkt sie die Ruderblätter wieder vorsichtig ins Wasser.
Nach ein paar Schlägen dreht Sarah ihren Kopf erneut, um sicherzugehen, dass sie auf die Insel zuhält. Die Richtung stimmt, doch das Eiland scheint ihr kaum näher als beim Ablegen. Sarah zieht kräftiger, um Fahrt zu machen. Nach ein paar Schlägen muss sie die Ruder einholen und eine Pause einlegen. Der Schweiß rinnt ihr von der Stirn. »Bei Jalo hat das so einfach ausgesehen.« Sie seufzt und lässt den Blick über das Wasser gleiten.
Ein Schwarm Möwen erhebt sich krächzend vom Ufer, schwingt sich gen Himmel und kreist zwischen der Bucht und der Insel. Sarah hat den Eindruck, dass die Vögel sie von dort oben beobachten. Diesmal ruft sie ihnen nichts zu. Ihr Atem ist kostbar.
Ein leichter Wind sorgt für willkommene Abkühlung. Sarah nimmt das Rudern wieder auf. Sie wirft einen schnellen Blick ins Wasser. Der Grund ist nicht mehr zu sehen. Sie spürt, dass sie sich jetzt wirklich auf dem See befindet. Es ist, als wäre der Päijänne ein eigenständiges Wesen, das sie wohlwollend aufgenommen hat. Ein Gefühl von Abenteuer und Freiheit packt sie. Sie legt sich noch ein wenig mehr ins Zeug, drückt mit jedem Ruderschlag ihre Absätze in das Holz des Bootsbodens.
Neugierig verfolgen die Möwen, wie sich das Ruderboot voranbewegt.
Das Ufer der Insel besteht aus Felsen, die zum Teil mannshoch aus dem Wasser ragen. Es dauert eine Weile, bis Sarah eine flache Stelle ausgemacht hat, an der sie so nah ans Ufer herankommt, dass sie auf die Steine klettern kann. Mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem Seil in einer Hand steigt sie aus dem Boot. Dann schlingt sie das Seil um einen schmalen Felsen, der wie dafür gemacht scheint, und klettert über einen anderen Stein an Land. Schnaufend und glücklich lässt sie sich auf die von Blaubeerbüschen bewachsene Erde nieder. Aufgeregt schaut sie sich um, spürt dem kribbelnden Robinson-Crusoe-Gefühl in ihrer Brust nach. Sie sitzt am Beginn eines schmalen Pfads, der zwischen die Birken führt. Anscheinend wird diese Stelle regelmäßig zum Anlegen verwendet, denn der Boden ist ausgetreten. Ihr fällt ein, dass Jalo gesagt hat, Matti Saarinen sei regelmäßig zur Insel gefahren, um sich zu besaufen. Dann hat wohl er hier seine Spuren hinterlassen.
Sarah zieht ihr Handy aus dem Rucksack und schießt ein Bild von den Birken, unter denen sich der Blaubeerbuschteppich ausbreitet. Dann macht sie aus einer anderen Perspektive ein weiteres Foto. Es ist so märchenhaft hier, dass sie es kaum fassen kann. Wenn sie gelegentlich davon träumt, in die Ruhe Skandinaviens zu ziehen, dann tauchen Bilder wie diese vor ihrem inneren Auge auf. Sie dreht sich zum Wasser und erfreut sich an dem Blick auf den See, auf das gegenüberliegende Ufer, an dem ihr mökki liegt. Sie meint, zwischen den Bäumen die große Fensterfront ihres Hauses aufblitzen zu sehen. Auch von diesem Motiv möchte sie ein Foto schießen. Allein schon, um es irgendwann Franzi zu zeigen. Beschwingt zückt sie ihr Handy.
Während sie den idealen Ausschnitt für ein traumhaftes Foto sucht, fällt ihr auf dem Display eine Bewegung auf. Ein Ruderboot treibt schwankend in die Aufnahme hinein. Im ersten Moment denkt Sarah aufgeregt, dass dies auf dem Bild ein wunderschönes Detail abgeben wird. Doch dann schreit sie auf und hechtet zu den Uferfelsen. Zu spät. Ihr Boot hat sich bereits gelöst und treibt fünf Meter von der Insel entfernt auf dem Päijänne.
»Oh, verdammt!«
Für einige Sekunden ist sie wie erstarrt. Dann jedoch klettert sie hastig auf den Felsen, in der Hoffnung, vielleicht noch das Seil des Bootes zu fassen zu bekommen.
In ihrer Eile achtet Sarah nicht darauf, wohin sie tritt. Als sich ein Absatz ihrer High Heels in einer Felsspalte verfängt, stürzt sie jäh nah vorne. Mit einem Aufschrei krallt sie sich an den schmalen Felsen, um den sie bei ihrer Ankunft das Seil legte. Um nicht ins Wasser zu stürzen, muss sie notgedrungen ihr Handy loslassen. Im hohen Bogen fliegt das Gerät ins Wasser und versinkt sogleich. Der ganze Vorgang hat keine drei Herzschläge gedauert. Und doch kommt es Sarah wie eine Ewigkeit vor, bis sie begreift, was da gerade geschehen ist. »Um Himmels willen«, flüstert sie. Sie ist Robinson Crusoe!
Mühsam rappelt sie sich auf, betastet ihren schmerzenden Knöchel. Ihr ungläubiger Blick schießt zwischen dem davontreibenden Ruderboot und der Stelle, an der ihr Telefon im See verschwunden ist, hin und her. Sie blinzelt, doch an dem Bild des sich immer weiter entfernenden Bootes ändert sich nichts.
Es vergehen lange Minuten der Schockstarre, bis Sarah beginnt, das gegenüberliegende Ufer nach irgendjemandem abzusuchen, der ihr helfen kann. Während sie angestrengt über das Wasser späht, weiß sie genau, dass sie niemanden ausfindig machen wird. Matti Saarinens mökki erscheint ihr jetzt wie ein rettender Anker. Wenn doch wenigstens Toivo Aalto noch dort drüben herumschnüffeln und ermitteln würde! Doch der Polizist und seine Kollegen haben just heute ihre Zelte abgebrochen.
Sarah starrt in die Bucht, in der sie heute Morgen die nackte Leiche gefunden hat. Nicht einmal der Haubentaucher ist zu sehen. Sie ist völlig allein.
»Hallo? Ist da jemand?«, ruft sie auf Deutsch über den See. Dann wird ihr der Fehler bewusst, und sie schiebt mit brüchiger Stimme hinterher: »Kuuletko minua?« Hören Sie mich?
Am Himmel schreien die Möwen auf. Es hört sich an, als würden sie lachen.