Siebenundzwanzigstes Kapitel

SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Der Pfad hat sie zu einer kleinen Lichtung geführt, die genau in der Mitte der Insel liegt. Rings um einen etwa zwei Meter hohen Felsen herum sind die Birken an dieser Stelle für drei Schritte zurückgetreten. Im Stein formt eine breite Kerbe eine Art natürlichen Sitz, auf dem Sarah erschöpft kauert. Stöhnend verlagert sie ihr Gewicht, um eine andere Position zu finden. »Das Ding ist so bequem wie der Eiserne Thron in Game of Thrones«, beschwert sie sich. Ihr Hintern schmerzt mit dem verstauchten Knöchel um die Wette. Doch ihre High Heels trägt sie weiterhin. Bevor sie auf die verzichtet, muss schon Schlimmeres geschehen.

Niemand hat auf ihre Hilferufe reagiert. Selbst den Möwen war das Spektakel schnell langweilig – nach ein paar Beobachtungsrunden haben sie sich ans Ufer zurückgezogen. Seitdem herrscht Stille, nur von vereinzelten Tierlauten durchbrochen. Manchmal ruft ein Nachtvogel, einmal bellt ein Fuchs.

Die Sonne ist nicht mehr zu sehen, dennoch herrscht keine Dunkelheit. Der Himmel ist schwach erleuchtet, als kauere die Sonne gleich hinter dem Horizont, um sich bereitzuhalten, schon bald wieder emporzusteigen. Die Insel ist eingehüllt in ein mystisches Zwielicht, in dessen Schatten die Birken wie eine strammstehende Armee wirken.

Sarah reibt die klammen Hände aneinander. Es ist nicht so, dass sie vor Kälte zittern würde, doch die Temperatur liegt nicht weit von ihrer Schmerzgrenze entfernt. Zum fünften oder sechsten Mal verflucht sie sich dafür, keine Jacke mitgenommen zu haben. Wenigstens ist das Oberteil, das sie zu der engen Jeans trägt, langärmelig. Sie reibt noch fester. Der Stein ist nicht kalt. Im Gegenteil, der Felssitz fühlt sich an wie aufgewärmt von der Sonne des Tages. Die sich immer wieder vom Wasser her durch die Bäume drückenden Böen sind es, die Sarah frösteln lassen. Mit kühlen Fingern scheinen sie nach ihr zu greifen.

Sarah tastet in ihre Hosentasche, nur um sogleich kopfschüttelnd die Hand zurückzuziehen. »Blöde Kuh!«, schimpft sie mit sich selbst. Wie hat sie nur so dämlich sein können, ihr Handy in den See fallen zu lassen? Könnte sie die Zeit zurückspulen und die Situation noch mal erleben, würde sie das Telefon auf den Felsen fallen lassen und lieber selbst geradewegs ins Wasser stürzen. Dann hätte sie nämlich die Möglichkeit, jemanden anzurufen, um sich von der Insel abholen zu lassen. Auch wenn sie in diesem Szenario klatschnass geworden wäre, sie hätte es bevorzugt. Wohl oder übel hätte sie, nachdem sie sich einmal aus dem See gekämpft hätte, den Kommissar angerufen, da seine Nummer die einzige finnische Verbindung in ihrem Handy ist. Selbst das wäre erträglicher gewesen, als die Nacht auf diesem Steinthron verbringen zu müssen.

Verärgert beugt Sarah sich vor und schnappt sich eine der Flaschen. Es sind ihrer drei, sie lehnten gegen den Felsen, als sie den Pfad entlanggehumpelt kam. Mattis Selbstgebrannter, zweifellos. Es hat sie etwas Überwindung gekostet, den ersten Schluck zu nehmen, doch als sie an der Öffnung roch, war ihr klar, dass der Alkoholgehalt jegliche Bakterien oder Viren abtöten würde. Zu ihrem Erstaunen schmeckt der Schnaps ausgesprochen gut. Nach Beeren und sonnigen Sommertagen. Vor allem aber hilft er, den nun stärker pulsierenden Schmerz des umgeknickten Knöchels zu mildern.

Nachdenklich lässt Sarah den Schnaps in ihrem Mund kreisen, bevor sie ihn hinunterschluckt. Das feurige Brennen in ihrem Rachen ist trotz seiner Stärke angenehm. Sofort spürt sie, wie das Frösteln nachlässt. Also nimmt sie einen weiteren Schluck. Alkohol ist im Moment das Einzige, was ihr im Überfluss zur Verfügung steht.

Sie knüpft an ihren letzten Gedanken an, von wegen Zeit zurückspulen. Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, dann hätte sie selbstverständlich das Boot besser vertäut. So wäre das ganze Unglück erst gar nicht geschehen. Nicht einmal in ihrer Fantasie kommt sie ohne Umwege auf das Naheliegende!

Langsam stellt sie die Flasche ab, dann kämpft sie sich vom Felsen hoch, um angestrengt zu der Stelle zurückzuhumpeln, an der sie nunmehr vor Stunden angelegt hat. Sehnsuchtsvoll schaut sie über das dunkle Wasser hinweg zu ihrem mökki. Ob sie es wohl schaffen würde, zum Ufer hinüberzuschwimmen? Eigentlich sollten die etwa dreihundert Meter kein Problem darstellen, doch sie vertraut ihrem Knöchel nicht. Was, wenn der Schmerz unterwegs zu groß wird? Oder ein Bein verkrampft? Sie will auf keinen Fall wie dieser Matti enden und am Morgen in der Bucht herumdümpeln. Zur Freude des Haubentauchers.

Können Bären eigentlich schwimmen? Die Frage schießt ihr durch den Kopf, während ihr Blick das ferne Ufer abtastet. Würde ein Braunbär Interesse daran haben, vom Festland aus zu dieser kleinen Insel hinüberzuschwimmen? Sie kann es sich nicht vorstellen. Was sollte er hier wollen? Und falls er doch käme, beruhigt Sarah sich, hat sie immer noch das Reizgas zu ihrer Verteidigung dabei. Wenn sie im Moment auch außer Schnaps nicht viel Hilfreiches besitzt – wenigstens das Gas liegt sicher in ihrem Rucksack verstaut am Felsen.

Das Leben eines Robinson Crusoe hat Sarah sich anders vorgestellt. Niedergeschlagen trottet sie unter den Birken zu ihrem Felsenthron zurück. Doch anstatt sich zu setzen, öffnet sie eine der beiden anderen Schnapsflaschen und führt sie an die Lippen. Ein wohliger Geschmack breitet sich in ihrem Mund aus. Er hat etwas von moosigen Beeren, ist eher herb als süß. Lecker. Sie nimmt einen zweiten Schluck.

Was Matti wohl hier auf der Insel gemacht hat? Neben dem Saufen. Ob er auf dem Felsen saß und sich neue Gaunereien hat einfallen lassen? Oder hat er sich hier von seinen wie auch immer gearteten Verbrechen entspannt? Jedenfalls hat dieses Eiland etwas Meditatives, findet Sarah. Sicherlich kann man hier gut abschalten – wenn man nicht von der Sorge gequält wird, wie man zurück ans Ufer gelangen soll. Sie nimmt noch einen Schluck aus der Flasche.

Eine Windböe rauscht zwischen den Bäumen hindurch und lässt die Blätter rascheln. Außer der Kühle trägt der Wind noch etwas anderes auf seinen Schwingen. Etwas Feuchtes, Knisterndes.

Sarah überkommt ein Zittern, während sie in die Nacht lauscht. Es hört sich an, als unterhielten sich die Birken im Wind aufgeregt miteinander. Sie runzelt die Stirn. Ja, irgendetwas liegt in der Luft. Fast möchte sie denken, es sei etwas Bedrohliches. Doch das muss sie sich einbilden.

Plötzlich fällt ihr die Tarotkarte wieder ein. Der Reiter auf dem Rappen. Das Zittern verstärkt sich. Warum muss sie ausgerechnet jetzt an ihren bescheuerten Besuch bei Frau Moser denken? … Weil sie das Gefühl hat, dass damit das ganze Unglück anfing, beantwortet sie sich selbst ihre Frage. Abwehrend schüttelt sie den Kopf. Bestimmt setzen die Einsamkeit und der Alkohol ihr zu. Das mit den Karten war bloß Humbug. Sie verdreht die Augen. Dann spitzt sie überrascht die Ohren.

Ein leises Platschen mischt sich unter das Flüstern der Birken.

Aufgeregt richtet Sarah sich auf, nur um sich aufstöhnend mit ausgestrecktem Arm am Felsen abzustützen. Ihr ist schwindelig. Für einen Moment schließt sie die Augen, versucht mit einem kontrollierten Aus- und Einatmen das Karussell in ihrem Kopf zu verlangsamen. Es gelingt nicht gleich.

Blinzelnd öffnet sie die Augen. Das Drehen ist nicht verschwunden, doch es hat sich zumindest verlangsamt. Konzentriert lauscht sie in die Nacht. Eindeutig: Das platschende Geräusch ist lauter geworden. Sarah stößt sich vom Felsen ab und macht drei Schritte den Trampelpfad entlang. »O weh«, entfährt es ihr. Befindet sie sich auf einem schlingernden Schiff? Der Boden schwankt, die Birken um sie herum haben plötzlich zu tanzen begonnen. »Verdammter Schnaps!«, stößt sie hervor. Ganz eindeutig, sie hat zu tief in die Flasche geschaut. Wie viel Prozent so ein selbstgebranntes Schnäpschen wohl hat?

Sie kann nicht sagen, wie lange es dauert, bis sie am Ufer angekommen ist. Hier ist das Geräusch jedenfalls noch deutlicher zu hören. Doch Sarah kann nicht ausmachen, wo es herkommt. Kurz entschlossen hält sie sich mit einer Hand an der Felsformation, an der sie vorhin erfolglos das Ruderboot festband, fest. Dann beugt sie sich so weit wie irgend möglich seitlich über das Wasser. Nur nicht loslassen!, ermahnt sie sich in den stärker werdenden Schwindel hinein. Das Gefühl, auf einem Karussell zu sitzen, wird noch eindrücklicher. Unsicher wendet Sarah den Kopf. Aufgeregt zwinkert sie. Ist das …?

»Ein Boot«, flüstert sie. Mit sanften Ruderschlägen nähert sich ein Boot vom offenen Wasser her der Bucht. Und damit der Insel. Es ist noch etwa einhundert Meter entfernt, wobei Sarah kaum sagen kann, aus welcher Himmelsrichtung es kommt, da sie im kreisenden Schlingern ihres Kopfes kaum Orientierung findet. Blinzelnd strengt sie ihre Augen an, um auszumachen, wer in dem Kahn sitzt, doch ihre Pupillen wollen sich einfach nicht fokussieren. Für einen Moment meint sie, Jalo zu erkennen, doch sofort löst sich das Bild wieder auf. Sie streckt ihre freie Hand über die Wasseroberfläche, dem Ruderboot entgegen. »Hallo, hier bin ich!«, ruft sie über das Wasser, so laut es ihr möglich ist. »Auf der Insel! Ich … ich …« Sie winkt frenetisch.

Der Ruderer dreht sich zur Insel um. Das Platschen hört abrupt auf.

Sarah winkt, dann stockt sie. Hat sie gerade auf Deutsch gerufen? Wenn es nicht Jalo ist, der dort im Boot sitzt, versteht die Person sie vielleicht nicht. Wieder versucht sie zu erkennen, wer auf der Ruderbank hockt, doch je mehr sie sich auf einen Punkt konzentriert, umso verschwommener wird vor ihren Augen das Bild. Das geht so weit, dass sie schielend für eine Sekunde ein Gerippe auf einem Klepper zu erkennen meint. Sie schwört sich in diesem Moment, nie wieder in ihrem Leben Alkohol zu trinken.

Finnisch! Sie muss sich auf Finnisch verständlich machen! »Vene on poissa!«, ruft Sarah. Das Boot ist weg. Lallt sie? Tief holt sie Luft. »Äh … saari … paljon snapsia!« Insel … viel Schnaps.

Was redet sie da? Sarah zieht sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück an Land, denn lange kann sie nicht mehr über dem Wasser hängen. »Konzentrier dich«, ermahnt sie sich. »Ruf etwas Sinnvolles zu dem Boot hinüber!« Doch ihr fallen lediglich Torbens Katzensätze ein. Sie rauft sich die Haare. Dann wird sie eben einfach um Hilfe rufen! Das versteht jeder.

Schwer atmend hängt sie sich erneut über das Wasser. Und traut ihren Augen nicht. Das Boot ist kleiner geworden. »Was …?«, krächzt sie und blinzelt ungläubig. Das Platschen der Ruderblätter ist wieder zu hören, doch es wird leiser. Das verdammte Boot entfernt sich!

»He, warte!«, schreit Sarah, so laut es ihr irgend möglich ist, über den See. »Lopeta!« Aufhören! Doch wenn überhaupt, dann entfernt sich das Boot nur noch schneller. Nach einer Weile verschwindet es hinter einer Landzunge. Sekunden später sieht der See so glatt aus, als hätte es das Ruderboot überhaupt nicht gegeben.

Ihr Arm beginnt vor Anstrengung zu zittern. Schnaufend zieht Sarah sich auf den Felsen zurück. »So ein Mistkerl!«, stößt sie ungläubig aus. Wer, bitte schön, lässt in der Nacht eine um Hilfe rufende Frau allein auf einer Insel zurück? Es ist eindeutig, dass der Ruderer sie gehört haben muss. Doch er hat gewendet! Unterlassene Hilfeleistung! Minutenlang bedenkt Sarah den Bootsführer mit allen Verwünschungen, die ihr in den Sinn kommen. Als schließlich ihre Stimme versagt, schleppt sie sich zum Steinthron zurück.

In einem Zug leert sie die Flasche mit dem Sommerbeerenschnaps. Ihr ist zum Heulen zumute. Kraftlos lässt sie sich auf die steinerne Sitzfläche plumpsen. Beinahe apathisch starrt sie in den Birkenhain. Ist das Blätterrauschen lauter geworden? Nun beginnen die Bäume auch, sich zu wiegen. Und plötzlich wirkt alles dunkler – als hätte jemand das Licht gedämmt. Sarah reibt sich die Augen. Macht das der Alkohol? Findet die Bewegung, findet die aufziehende Dunkelheit lediglich in ihrem benebelten Kopf statt?

Ein Donnergrollen lässt sie zusammenzucken. Ihr Blick schnellt gen Himmel. Sie sieht Wolken, die sich eng aneinanderdrücken und rasch über sie hinwegziehen. Gleichzeitig frischt der Wind auf, peitscht jäh über die Insel und lässt Sarah vor Kälte zittern. Ein weiteres Grollen. Dann ein grelles Licht, das für den Bruchteil einer Sekunde die Birken erleuchtet.

»Oh, verdammt!«, flucht Sarah.

Der Regen prasselt hernieder, als hätte sich im Himmel eine Schleuse aufgetan.