Achtundzwanzigstes Kapitel

ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Auffordernd streckt Tante Anneli ihm die Hand entgegen.

Onni schüttelt den Kopf. Er möchte nicht zu den Kindern hinübergezogen werden. Sie beobachten ihn schon die ganze Zeit über, blicken immer wieder von ihren Sandspielzeugen und Rennautos auf, um zu sehen, was er tut. Er mag das nicht.

»Komm, Onni. Wir gehen nur mal rüber. Das dort ist Oliver, der Sohn einer Freundin von mir. Er freut sich darauf, mit dir zu spielen.« Tante Anneli umfasst Onnis Handgelenk.

Er stemmt sich mit seinem Körpergewicht gegen Anneli. »Nein, ich will nicht!«, presst er hervor. Er will hier auf der Bank sitzen bleiben. Die Kinder versteht er nicht richtig, wenn sie mit ihm spielen wollen. Es ist manchmal so, als sprächen sie eine andere Sprache. Mit ihren Körpern, ihren Bewegungen. Und er weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. Also konzentriert er sich sicherheitshalber auf etwas anderes. Auf ein Auto. Einen Bagger. Und damit spielt er dann. Allein. Doch die Kinder sagen später, er sei nicht nett. Und die Eltern sagen, er sei speziell. Und Tante Anneli sagt zu ihm, er solle sich nicht so anstellen.

»Komm jetzt mit! Stell dich nicht so an, Onni.«

Er wird nach vorne gerissen. Seine Schulter schmerzt, doch er presst die Zähne zusammen. Alle gucken ihn an. Ihm ist heiß, er möchte weinen. Doch er gibt keinen Laut von sich, um nicht noch mehr aufzufallen. Stattdessen stellt er sich vor, dass er allein ist. Ganz allein auf dem großen Spielplatz. Kein anderes Kind ist da, kein Erwachsener. Niemand kann ihn sehen. Er ist allein, so wie er es ersehnt und wie er es fürchtet.

Manchmal, wenn Mama und Papa beide arbeiten und keine Zeit für ihn haben, muss er für ein paar Tage nach Yläne zu Tante Anneli. Er hat nichts gegen Tante Anneli, auch wenn sie ungeduldig mit ihm ist. Aber Yläne mag er nicht. Wegen des Gefühls, das der Ort in ihm auslöst, immer wenn er dort ist. Denn dieser Oliver starrt ihn immer an. Natürlich möchte Onni mit ihm spielen, doch er weiß nicht, wie. Reglos sitzt Oliver – manchmal heißt er auch Tapio oder Finja – im Sandkasten, die Augen weit aufgerissen, Onni im Blick. Also schiebt Onni eine Hand in den Sand und hebt sie hoch in die Luft. Er möchte, dass Oliver, Tapio und Finja mit dem Starren aufhören. Doch gleichzeitig möchte er sie umarmen. Aber nie scheint es zu passen. Das Geschrei der Erwachsenen gellt in seinen Ohren, während der Sand ihm am Handgelenk hinunterrieselt. Er holt Schwung …

Mit einem Japsen schlägt Onni die Augen auf. »Was …?« Für einen Moment glaubt er sich in seinem Apartment in Helsinki. Stöhnend richtet er sich auf. Er liegt auf einem Bett, vollständig bekleidet. Sogar die Schuhe hat er noch an. Verwirrt schaut er sich in dem kleinen Zimmer um. Hat Swen etwa …? Doch da fällt ihm ein, wo er ist. In einer Pension in Sysmä. Er ist auf der Suche nach diesem Matti Saarinen, bei dem sich die Statue befindet. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass der nächste Morgen bereits angebrochen ist. Als er gestern das Zimmer bezog, wollte er sich nur kurz ausruhen, muss aber sogleich eingenickt sein – und die ganze Nacht durchgeschlafen haben.

Gerade will er sich vom Bett aufrappeln, da stockt Onni. Er spitzt die Ohren. Ein Lied, ziemlich schief gesungen. Er dreht sich zur Wand neben sich. Der Gesang kommt von nebenan. Eine Männerstimme singt, mehr schlecht als recht, irgendeinen Schlager. Onni lässt sich zurück auf die Matratze sinken. Offensichtlich sind die Wände in der Pension äußerst dünn. Onni hat das Gefühl, sein Zimmernachbar stehe direkt neben ihm. Doch er kann ihn nicht sehen, wie auch der Zimmernachbar Onni nicht sehen kann. Ein gutes Gefühl. Onni verschränkt die Hände hinter dem Kopf und lauscht.

Ein Klopfgeräusch lässt das Lied jäh verstummen.

»Ja?«, fragt eine Männerstimme.

»Ich bin es, Marjatta«, antwortet eine Frauenstimme. »Guten Morgen, Toivo.«

Onni hat den Eindruck, die Stimme von Marjatta im Stereo zu hören. Zum einen schallt sie durch die Wand zu ihm herüber, zum anderen dringt sie durch die verschlossene Zimmertür, da die Frau draußen auf dem Flur steht.

Schritte, dann wird eine Tür geöffnet. »Guten Morgen, Marjatta«, sagt Toivo. »Komm herein.«

Das Geräusch eines Stuhls, der über den Boden geschoben wird. »Hast du heute Morgen schon etwas aus Helsinki gehört?«, fragt Marjatta.

»Nein, die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen. Ich rechne ehrlich gesagt nicht vor morgen mit einer ersten belastbaren Rückmeldung. Die haben in der Forensik momentan viel zu tun. Wir sind keine Priorität, befürchte ich.«

»Okay, verstehe. Aber du meinst trotzdem, Elias und ich können schon heute zurückfahren?«

»Auf jeden Fall. Es macht keinen Sinn, dass wir zu dritt hier hocken. Ich habe dir erzählt, in welche Richtung mein Verdacht bei dieser Sache geht. Die Ermittlung schaffe ich gut allein. Du weißt ja, wie der Chef rumjammert, wenn wir zu viele Personalstunden auf einen Fall verbuchen. Und ich bin ziemlich stolz darauf, dass unser Team als eines der effektivsten gilt. Ich vermute, das war auch der Grund, warum der Alte mich an meinem freien Tag angerufen und hierhergeschickt hat. Jetzt habe ich nichts dagegen, wenn wir unsere Ressourcen gewohnt sparsam einsetzen, damit es beim Wohlwollen des Chefs bleibt. Ich möchte unbedingt, dass wir von den anstehenden Personalkürzungen nicht betroffen sind. Gerüchten zufolge werden es die Teams mit den meisten Personalstunden sein, die bluten müssen.«

Für einen langen Moment herrscht jenseits der Zimmerwand Stille.

»Es ist nicht so, als wäre ich erpicht darauf, länger als nötig in diesem Loch zu bleiben, doch was ist, falls sich die Lage noch mal zuspitzt?« Aus Marjattas Stimme ist echte Sorge herauszuhören.

»Die Kollegen aus Heinola sind schnell zur Stelle, falls ich sie brauche«, antwortet Toivo ruhig. »Das ist eine fähige Mannschaft.«

Marjattas Seufzen klingt resigniert. »Der Saarinen war kein unbeschriebenes Blatt. Noch können wir nicht sicher sein, dass da nichts Größeres dahintersteckt. Du weißt ja, in welche Richtung seine Kontakte gingen.«

Onni reißt die Augen auf. Saarinen? Er rutscht noch einen Zentimeter näher an die Wand heran.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Antwort hier in Sysmä liegt«, sagt Toivo. »Ich werde heute mit ein paar Leuten sprechen. Lass uns die Sache daher erst einmal klein halten.«

»Diese Deutsche …« Marjatta lässt ihren Gedanken unausgesprochen.

Ein Rascheln ertönt. »Du auch eins?«, fragt Toivo.

»Nein, danke.«

»Ich werde mit einigen Leuten sprechen, wie gesagt.« Es klingt nun, als hätte Toivo etwas im Mund, auf dem er herumkaut. Einen Kaugummi, ein Bonbon? »Es fehlen uns nur noch ein paar Informationen, da bin ich mir sicher. Wir gehen dem Ganzen bald auf den Grund. Ich glaube nicht, dass meine Nase mich in diesem Fall täuscht.«

»Du bist der Boss, Toivo. Ich äußere lediglich einen Einwand, da ich nicht möchte, dass die Sache aus dem Ruder läuft. Wenn du mit deiner Theorie recht hast, dann war das schon ein ziemlich heimtückischer Mord. Der vielleicht die Handschrift eines Profis trägt. Aber wenn du meinst, wir sollten den Fall erst mal nicht an die große Glocke …«

Mord? Onni blinzelt.

Toivo gibt ein Brummen von sich.

»Dieser Saarinen hat es sicher einigen Leuten leicht gemacht, Mordgedanken gegen ihn zu hegen.« Marjatta hustet. »Ich bin jedenfalls äußerst gespannt, was die Obduktion zur Frage der Todesursache ergibt. Meist liegst du mit deinen Vorhersagen richtig.«

Entsetzt presst Onni eine Hand auf seinen Mund. Matti Saarinen ist tot?

»Auf jeden Fall war sein Tod gewaltsam, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Doch beim Motiv werden wir eine Überraschung erleben, glaube ich. Deshalb möchte ich den Alten auch noch nicht informieren.« Toivos Stimme ist leiser geworden, als hätte er sich von der Wand wegbewegt. »Ich hoffe nur … Sarah Fuchs, die Deutsche … dieser Brief …«

Obwohl Onni nun ein Ohr fast schon auf die Wand presst, kann er nicht weiter verstehen, was dieser Toivo sagt.

»Ja, du hast recht«, ist Marjatta jetzt wieder zu hören. »Da heißt es, vorsichtig sein. Du musst die Frau im Auge behalten.«

Unverständliches Gemurmel.

»Das hört sich nach einem guten Plan an, Toivo.«

Für einen Moment herrscht Stille, dann ertönt Wasserrauschen.

»Ich habe nichts dagegen, noch ein paar Tage hierzubleiben«, ist Toivo wieder zu vernehmen. Er scheint an seine alte Position im Nebenraum zurückgekehrt zu sein. »Es ist ja auch nicht so, als würde ich in Helsinki von jemandem vermisst.« Er lacht auf.

»Ach, armer Toivo. Du weißt, dass Elias und ich dich in unserem muffigen Kommissariat vermissen werden.« Marjatta lacht ebenfalls. »Denk an uns, wenn du dich hier in Sysmä vergnügst.« Sie betont das letzte Wort.

»Es gibt sicherlich schlimmere Orte, an denen man Juhannus verbringen kann.«

»Ach, findest du?« Erneut lacht Marjatta auf. »Sicherlich wird dieser Heimo auf dem Parkplatz vor der Gaststätte ein schönes Feuer entzünden. Und danach gibt es ein schales Bier im Schankraum. Oder hast du etwa schon andere Pläne für das Mittsommerfest am Samstag?«

»Wir werden sehen, wir werden sehen«, sagt Toivo. Er wirkt ausweichend.

»Ich gehe dann mal packen und gebe Elias Bescheid.« Ein Stuhl rückt über den Boden. »Wir hören uns, Toivo.«

»Wir hören uns, ja.«

Eine Tür öffnet sich, fällt kurz darauf ins Schloss. Fast augenblicklich nimmt Toivo das Singen wieder auf. Er stimmt in einen schnulzigen Schlager ein.

Onni ist starr vor Schreck. Saarinen ist tot, ermordet! Und ausgerechnet in Onnis Nebenzimmer ist der ermittelnde Kommissar untergebracht! Der anscheinend eine Deutsche für die Täterin hält. Warum sonst hätten die Polizisten über die Frau, eine gewisse Sarah Fuchs, gesprochen?

Mit rauchendem Kopf dreht Onni sich auf den Bauch. Von nebenan ist immer noch der schräge Gesang des Kommissars zu vernehmen. Onni kann nicht sagen, ob seine plötzlichen Kopfschmerzen von dem Gejaule oder von der niederschmetternden Information, die er soeben erhalten hat, herrühren. Wahrscheinlich von beidem.

Was bedeutet das alles für seine Suche nach der Statue? Swen hat ihm gesagt, er habe das wertvolle Stück bei diesem Saarinen abgegeben. Befindet es sich noch dort? Vor drei Tagen hat Saarinen es von Swen erhalten, in Toilettenpapier eingewickelt. Seitdem kann viel geschehen sein. Seitdem ist anscheinend viel geschehen!

Heiß krampft sich Onnis Magen zusammen. Hat die Polizei die Statue etwa konfisziert? Dann wäre sie für ihn unerreichbar. Und seine wissenschaftliche Furore könnte er sich irgendwohin schmieren. Doch sicherlich wäre die Statue in dem Gespräch eben zur Sprache gekommen, wenn die Polizei von ihr wüsste. Onni stößt den Atem aus. »Sie haben sie nicht«, flüstert er. Ob sie also irgendwo bei diesem Matti rumliegt? Wenn niemand weiß, was für eine Kostbarkeit sie darstellt, dann könnte sie, völlig übersehen, vor sich hin stauben.

Ein neuer Gedanke schießt Onni in den Kopf, und er schnappt nach Luft. Wenn er die Statue nun in die Hände bekommt, muss er nicht mehr mit Saarinen verhandeln. Der Mann ist tot! Onnis Puls nimmt an Fahrt auf. Er könnte sich die Statue theoretisch einfach schnappen und damit verschwinden. Dann würde er sich eine harmlose Geschichte für die Fachwelt einfallen lassen, den Leuten eine plausible Geschichte auftischen, wie er ganz zufällig über das Kunstwerk gestolpert sei. So wäre die wissenschaftliche Sensation, die Onni der Welt bescheren will, perfekt und nicht von irgendwelchen kriminellen Umständen beschmutzt. Plötzlich erscheint Onni der Tod Saarinens nicht mehr ganz so schrecklich und unpassend.

Was aber, wenn diese Deutsche, von der die Polizisten sprachen, die Antiquität an sich genommen hat? Hat sie Matti Saarinen getötet, um selbst die Statue zu besitzen? Herr im Himmel, wie würde er, Onni, dann an die Statue kommen? Wie sollte er es bewerkstelligen, mit dieser Frau, einer Mörderin, über das Kunstwerk zu verhandeln? Das bisschen Geld, das er ihr anbieten könnte, wäre ein Witz für jemanden, der nicht einmal davor zurückschreckt, für den Besitz dieses Kleinods zu töten.

Der Kopfschmerz ist so ohrenbetäubend geworden, dass Onni nicht einmal mehr den Gesang von nebenan hört. Er ermahnt sich, Ruhe zu bewahren. Um Ordnung in das Chaos zu bringen, das über ihn hereinzubrechen droht. Dabei, so weiß er, hilft nur eines: Er zieht seinen Rucksack zu sich heran und fischt das Tagebuch und einen Stift heraus.

Zuerst trägt er auf der ersten freien Doppelseite das aktuelle Datum ein, dann bringt er in seiner engen Schrift alles zu Papier, was bisher in Sysmä geschehen ist. Von seiner Ankunft samt der verstörenden Begegnung auf dem Supermarktparkplatz über die Unterhaltung im Schankraum bis zu dem aufschlussreichen Gespräch der beiden Polizisten im Nebenzimmer. So detailliert wie möglich hält er alles fest und schließt ganz unten auf der Seite mit dem noch unlösbar erscheinenden Problem, wie er wohl der Mörderin die Statue abluchsen könne, sollte sie das wertvolle Stück an sich genommen haben.

Nachdenklich lutscht Onni am Kugelschreiber. Zunehmend wird ihm klarer, dass er keine Zeit zu verlieren hat. Je länger er wartet, umso geringer wird die Wahrscheinlichkeit, die Statue zu finden. Für einen Moment kommt ihm der Gedanke, Swen zu kontaktieren, um zu hören, ob der etwas über diese Deutsche weiß. Hat Matti Saarinen vielleicht etwas von ihr erzählt? Onni verwirft die Idee, Swen anzurufen, genauso schnell wieder, wie sie ihm gekommen ist. Swen ist ein Thema für sich.

Nach einigen Minuten lassen die Kopfschmerzen wieder nach. Nebenan ist Stille eingekehrt, bemerkt Onni. Prüfend lauscht er hinüber, doch er hört keinen Laut. Der Kommissar wird sein Zimmer verlassen haben, nimmt er an. Zweifellos, um sich dieser kriminellen Deutschen zu widmen. »Hoffentlich stößt er dabei nicht auf die Statue«, raunt Onni.

Nachdem er seine Aufzeichnung noch einmal durchgelesen hat, fällt Onni einen Entschluss. Er wird sich nicht von seinem Weg abbringen lassen, koste es, was es wolle. Angst darf er keine haben. Dafür ist er bereits zu weit gekommen. Er hat die einzigartige Chance erhalten, sich vor der Welt zu beweisen. Fett kreist er auf der Tagebuchseite den Namen der Deutschen ein. Sarah Fuchs. Nach Matti Saarinens Tod ist sie eine vielversprechende Spur, um die Statue zu finden.

Gedankenverloren kritzelt Onni neben dem markierten Namen der Frau auf dem Papier herum. Er fragt sich, wie er am besten weiter vorgeht. Einerseits muss er natürlich nachsehen, ob sich die Statue noch im Besitz von Saarinen befindet. Falls er sie dort nicht findet, gilt es herauszubekommen, ob diese Deutsche das Relikt an sich genommen hat. Doch erst einmal will er unter die Dusche springen, frische Kleidung anziehen und sich irgendwo einen Kaffee besorgen. Dann kann er sich im Ort nach Saarinen und dieser Sarah umhören. Und sobald er weiß, wo Saarinen gelebt hat, wird er dort nach der Statue suchen. Ein einfacher und somit ein guter Plan.

Plötzlich sind Onnis Handflächen feucht, und er wischt sie grinsend an der Bettdecke ab. Mit ein wenig Glück nennt er die Statue bereits in wenigen Stunden sein Eigen! Dann ändert sich sein Leben, dann ändert sich alles!

Gerade will er das Notizbuch zuklappen, da bleibt sein Blick an dem hängen, was er soeben gedankenverloren in das Tagebuch gezeichnet hat, direkt neben den umkreisten Namen der Deutschen. Er runzelt die Stirn. Die kleine Zeichnung sieht aus wie ein dürres Skelett auf einem Pferd.

»Wie albern.« Er schnauft und schlägt das Tagebuch mit Schwung zu. Der schwarze Schwan ist ihm deutlich besser gelungen.