Dreißigstes Kapitel

DREISSIGSTES KAPITEL

Er hält es kaum aus. Nach außen muss er so tun, als wäre alles wie immer. Leuten zunicken, hier ein paar Worte wechseln, dort jemandem auf die Schulter klopfen. Innerlich jedoch schreit er vor Wut dermaßen laut, dass er sich wundert, warum außer ihm niemand das Gebrüll hört.

Die Frau hat ihm aufgelauert. Letzte Nacht, als er unterwegs zu Mattis Haus war, um die Statue zu suchen. Plötzlich hat sie ihm von der Insel aus etwas zugerufen. Da wollte er gerade in die Bucht einlaufen. Wie ein Gespenst ist sie aufgetaucht. Für einen Moment hat er gedacht, sein Herz würde stehen bleiben, so überrascht war er von ihrem Erscheinen. Dann hat sie ihn beschimpft. Von dem Gezeter hat er zuerst kein Wort verstanden, doch ihrem Tonfall konnte er entnehmen, dass sie äußerst aufgebracht war. Schließlich hat sie ihm ein paar Brocken auf Finnisch zugeworfen.

Erst wollte sie ihn anscheinend mit Schnaps auf die Insel locken. Was sollte das? Eine alte KGB-Manier? Als das Manöver nicht fruchtete, schrie sie außer sich, er solle »aufhören«. Womit sollte er aufhören? Nach der Statue zu suchen? Ja, zweifellos.

Was für ein gewieftes Biest dieses Weibsstück ist! Das Haus von der Insel aus zu observieren, um ihn abzufangen! Diese Frau ist sogar noch um einiges gefährlicher, als er sie eingeschätzt hat. Sie ist auf eine professionelle Art irre. Unberechenbar. Gibt es etwas Beunruhigenderes?

Ob sie ihn in der Nacht erkannt, ob sie sein Gesicht gesehen hat? Eigentlich dürfte dafür der Abstand zu groß gewesen sein. Außerdem hatte er die Mütze ins Gesicht gezogen. Wäre sie sich darüber im Klaren, wer er ist, dann hätte sie ihm längst von hinterrücks einen Waffenlauf gegen die Schläfe gedrückt.

Wahrscheinlich hat sie sich gestern auf die Lauer gelegt, weil er das Handy unbrauchbar gemacht hat. Wer weiß, wie viele Male sie schon versucht hat, ihn anzurufen. Jetzt ist ihr natürlich klar, dass er nicht länger vorhat, mit ihr ins Geschäft zu kommen. Oh, sie wird geschäumt haben, als dieses Lämpchen in ihrem Hirn anging. Verdammt, wenn diese Frau ihn in die Finger bekommt, macht sie Hackfleisch aus ihm. Am sichersten wäre es wohl, ihr zuvorzukommen. Ein nasses Grab hat er schließlich bereits für sie gefunden. Das Problem ist jedoch ihr Auftraggeber. Mit dem möchte er es sich nicht verscherzen, solange das Geschäft nicht abgewickelt ist. Deshalb ist er gestern auch nicht zur Insel gerudert und hat sie nicht Bekanntschaft mit seinem Jagdmesser machen lassen. Obwohl es ihm in den Fingern gejuckt hat! Doch damit wartet er noch einen Tag oder zwei, bis er die Statue in den Händen hat. Dann ist diese Sarah für alle Beteiligten wertlos. Und er kann sich ihr widmen.

Die Statue. Ist sie noch in Mattis Haus? Er glaubt nicht, dass die Frau bereits in dem mökki war, um dort selbst nach dem Ding zu suchen. Besäße sie die Statue, hätte sie ihm nicht auflauern müssen. Sicherlich weiß sie noch nicht, dass die Bullen vom Tatort abgezogen sind. Daher traut sie sich nicht näher ans Gebäude ran. Schließlich haben die Bullen sie im Visier. Dafür hat er gesorgt. Das war ein gekonnter Schachzug.

Gleichzeitig versteht er diesen Punkt am wenigsten. Wie konnte die Frau auf der Insel hocken, anstatt eingebuchtet zu sein? Der Kommissar muss den Brief Stunden vorher erhalten haben. Er hat ihn dem Mann quasi auf den Schoß gelegt. Sein Schreck, als sie ihn in der Nacht plötzlich anschrie, rührte genau daher: Er hatte alles dafür getan, um sie aus dem Verkehr zu ziehen! Dennoch tauchte sie auf, gerade als er in das Haus wollte.

Sie ist unfassbar gut. Auch wenn er sie hasst – das muss er ihr lassen. Es ist ihm ein Rätsel, wie sie sich aus der Sache mit dem Brief hat herausmanövrieren können. Zumindest für ein paar Stunden festsetzen hätten die Bullen sie müssen. Ob sie über Kontakte bis in die Spitze der Polizei hinein verfügt? Er traut ihr alles zu.

So schnell wie möglich muss er in Mattis Haus gelangen. Auch deshalb schreit er innerlich so laut vor Wut. Ausgerechnet jetzt kommt er nämlich nicht hier weg, muss freundlich nicken und Hände schütteln. Dabei hat er Wichtigeres zu tun. Aber es würde sofort auffallen, wenn er jetzt verschwände. Er muss den richtigen Zeitpunkt abpassen, um zum mökki hinauszufahren. Es kann nur unter größter Vorsicht und während eines knapp bemessenen Zeitraums geschehen. Er betet, dass es bis dahin nicht bereits zu spät ist. Dass diese Sarah ihm nicht zuvorkommt. Dann wäre alles umsonst gewesen. Doch jetzt darf er sich nichts anmerken lassen. Er muss sich verhalten wie immer.

Er fährt herum, als jemand ihm von hinten auf die Schulter tippt. »Ach, du bist es«, knurrt er gereizt.

»So schreckhaft, das kennt man sonst gar nicht von dir.« Sie zwinkert ihm zu.

Er zwingt ein Lächeln auf seine Lippen. »Ich war gerade in Gedanken.«

»Du machst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Dabei ist doch jetzt gute Laune und Party angesagt.« Sie knufft ihm in die Seite. »Was geht dir denn durch den Kopf?«

»Die Sache mit Matti«, erwidert er betont wegwerfend. Gleichzeitig verflucht er sich dafür, dass er es wieder nicht geschafft hat, dem Drang zu widerstehen, über den Mord zu sprechen. »Ein Todesfall ist immer schlimm, egal, wie groß das Arschloch ist, das gestorben ist.«

Sie nickt, dann lässt sie wie beiläufig einen Finger über seinen Unterarm streichen. »Weißt du, was mir gestern passiert ist?«

»Hm?«

»Ich bin dieser ausländischen Freundin vom Matti begegnet. Dieser Sarah.«

Abrupt bleibt er stehen, zwingt sich aber sofort weiterzugehen, als wäre er nur gestolpert. Er räuspert sich. »Ach, was hat sie denn gesagt?«

»Hat Fragen nach Matti gestellt.«

»Was denn für Fragen?« Er spürt, wie sich Schweiß zwischen seinen Schulterblättern bildet. Ist sie ihm bereits auf der Spur?

»Halt so allgemeine Fragen.«

»Was heißt das?«, schnappt er. Sofort erkennt er in ihrer Miene, dass er zu harsch reagiert hat. Beschwichtigend fährt seine Hand über eine ihrer Pobacken. Sogleich hellt sich ihre Miene auf. Es funktioniert immer wieder, denkt er, nicht ohne eine Spur Verachtung. Doch er zwingt sich, Freundlichkeit in seine Stimme zu legen. »Sie muss doch etwas Bestimmtes gefragt haben.«

»Sie wollte einfach wissen, ob ich Matti gekannt habe. Da habe ich geschaltet und ihr an den Kopf geworfen, sie sei die Freundin von dem Ganoven. Hat sie vehement abgestritten. Dabei weiß ganz Sysmä, dass sie nackt durch Mattis Haus gelaufen ist. Welche Frau macht so etwas, es sei denn, sie hat etwas mit dem Bewohner des Hauses?« Sie wirft ihm einen Blick von der Seite zu. »Sie ist sehr attraktiv.«

Er zuckt mit den Schultern.

»Ich bin gespannt, ob sie auch kommt.«

Wieder hätte es ihn beinahe kalt erwischt. Er verbirgt seine Überraschung hinter einem Husten. »Wer? Wohin?«

»Na, ob diese Sarah auch kommt. Hierher. Könnte ich mir schon vorstellen. Ist schließlich ein nettes Fest. Der Beginn der Juhannus-Feierlichkeiten, wenn man so will.«

Der Schweißtropfen löst sich zwischen seinen Schulterblättern und läuft ihm die Wirbelsäule hinab. Er kann ein Schaudern nicht unterdrücken.

»Alles okay mit dir? Du wirkst irgendwie neben der Spur.« Sie beäugt ihn skeptisch.

»Alles gut. Bekomme eine Erkältung, vermute ich. Kopfschmerzen.«

»Du Armer!« Wieder streichelt sie seinen Unterarm. »Hast dich bestimmt zu sehr verausgabt.« Ihr Auflachen ist gackernd. »Doch Scherz beiseite. Soll ich dir etwas aus der Apotheke holen?«

»Nein, danke. Geht schon.«

»Dann bin ich beruhigt. Ich gehe mal zur alten Kauppinen rüber. Wir sehen uns später.«

»Okay, bis später. Ich gehe etwas trinken.« Er ist in Gedanken bereits woanders. Bei Sarah. Wird sie hier auftauchen? Falls sie es tut – wird sie ihm zu verstehen geben, dass sie weiß, wer er ist? Oder tappt sie weiterhin im Dunkeln, was seine Identität angeht? Vielleicht spielt sie aber auch ein perfides Spiel mit ihm. Wie die Katze mit einer Maus, deren Rückgrat bereits unter der Tatze klemmt. Zumindest würde Sarahs Erscheinen bedeuten, dass sie nicht in Mattis Haus herumkramt und dort nach der Statue sucht. Denn so gut sie fraglos ist – an zwei Orten gleichzeitig sein kann selbst sie nicht.

Er bemerkt, wie sie sich auf dem Weg zur alten Kauppinen noch einmal umdreht und ihm wie zufällig zuzwinkert. Halbherzig erwidert er die Geste. »Okay, bis später, Hilla«, flüstert er geistesabwesend.